OGH 10ObS228/94

OGH10ObS228/9414.2.1995

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dr.Josef Fellner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Helmut Stöcklmayer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Franz W*****, Pensionist, ***** wider die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert Stifter-Straße 65, vertreten durch Dr.Vera Kremslehner, Dr.Josef Milchram und Dr.Anton Ehm, Rechtsanwälte in Wien, wegen Integritätsabgeltung infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 1.Juli 1994, GZ 34 Rs 66/94-52, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Krems an der Donau als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 3.Dezember 1993, GZ 8 Cgs 14/93m-49, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Der Beklagten wird aufgetragen, dem Kläger binnen vierzehn Tagen eine vorläufige Zahlung von 500.000 S zu erbringen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger, ein gelernter Maurer, war als solcher bei einer Baufirma beschäftigt, die Kaminsanierungsarbeiten an Wiener Gemeindebauten durchführte; dabei wurden schadhafte Rauchfänge abgetragen und neue errichtet. Im September 1986 wurde mit solchen Arbeiten an einem Gemeindebau im 19. Bezirk begonnen. Da die Polierstelle nicht besetzt war, hatte ein Vorarbeiter, der ebenfalls gelernter Maurer war, die Bauaufsicht. Auf dem First des Satteldaches (Dachneigung je 45 Grad) befanden sich drei große Kamingruppen, um die für die Maurerarbeiten Konsolengerüste mit einer Brust-, Mittel- und Fußwehr errichtet waren. Diese Gerüstaufbauten waren auf der Straßenseite durch einen nicht besonders gesicherten Laufsteg verbunden. Zur Unfallszeit (11.9.1986, etwa 7.15 Uhr) waren diese Gerüste an den beiden südlichen Kamingruppen weitestgehend abgebaut, so daß in diesem Bereich "de facto" nur mehr der erwähnte Laufsteg vorhanden war; nur an der nördlichsten Kamingruppe, an der noch die Bekrönung fehlte, war der Gerüstabbau noch nicht vollzogen. Es war nämlich noch fraglich, ob dort noch eine Ziegelschar aufgemauert werden sollte. Zur Klärung dieser Frage war der die Bauaufsicht führende Vorarbeiter zu einer nahegelegenen Telephonzelle gegangen, um eine Weisung des Arbeitgebers einzuholen. Der Kläger arbeitete mit einem Baupraktikanten an der südlichsten Kamingruppe. Als er auf der Hofseite einen an der inneren Dachkonstruktion befestigten Pfosten entfernen wollte, der der Sicherung des abgebauten Konsolengerüstes gedient hatte, rutsche er auf dem nach einem Regen nassen Dach aus, glitt über das nur mit einer Planke abgesicherte Schneegitter und stürzte etwa 15 m tief in den Hof. Dadurch erlitt er schwere Verletzungen. Alle auf dem Dach befindlichen Arbeiter hatten bezüglich der von ihnen zu verrichtenden Arbeiten keine besonderen Anweisungen erhalten und arbeiteten im wesentlichen selbständig. Besondere Weisungen waren nicht notwendig, weil die Aufmauerungs- und Sanierungsarbeiten im wesentlichen abgeschlossen waren. Es waren nur mehr Finalisierungsarbeiten, etwa das Entfernen der Styroporstreifen von den Kaminaufsätzen und der endgültige Abbau der noch bestehenden Gerüstaufbauten erforderlich. Diesbezüglich wurde den Arbeitern lediglich gesagt, sie sollten "anzahn", damit die Arbeiten rasch fertiggstellt und eine andere Baustelle in Angriff genommen werden könne. Nur hinsichtlich der Bekrönungsarbeiten an der nördlichsten Kamingruppe war die Weisung ergangen, die Arbeiten bis zu der vom Vorarbeiter eingeholten Weisung des Arbeitgebers zu unterbrechen. An der genannten Baustelle wurden vor dem Unfall des Klägers vom Arbeitgeber keine Sicherheitsgurte bereitgestellt, obwohl der Kläger und der Baupraktikant wiederholt solche verlangt hatten. Deshalb setzten sie die Arbeiten ohne diese Sicherheitsvorkehrungen fort.

Der Kläger erlitt einen Integritätsschaden von 75 vH. Mit rk erstgerichtlichem Urteil vom 3.12.1990, 16 Cgs 162/88-35 wurde dem Kläger für die Folgen des Arbeitsunfalles vom 11.9.1986 eine Dauerversehrtenrente im Ausmaß von 75 vH der Vollrente zuerkannt. Weiters bezieht er von der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter seit 1.4.1987 eine Invaliditätspension.

Mit Bescheid vom 18.4.1991 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 19.11.1990 auf Integritätsabgeltung ab; der Arbeitsunfall sei nicht durch die grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht worden.

Das Klagebegehren richtete sich auf die abgelehnte Leistung im Ausmaß von 100 vH der im Zeitpunkt des Eintrittes des Versicherungsfalles geltenden doppelten Höchstbemessungsgrundlage gemäß § 178 Abs 2 ASVG unter Berücksichtigung der Anpassung gemäß § 213a ASVG. Es stützt sich hinsichtlich des Grundes des Anspruches auf eine grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Sie wendete zum Grund des Anspruches ein, an den Rauchfängen seien gut gesicherte Gerüste aufgebaut gewesen. Deshalb stelle das Nichtbereitstellen von Sicherheitsgurten keinen schweren Verstoß gegen Arbeitnehmerschutzvorschriften dar. Die Beklagte erklärte ausdrücklich, nicht zu behaupten, daß der Kläger den Arbeitsunfall durch grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht habe.

Das Erstgericht sprach dem Kläger eine Integritätsabgeltung im Ausmaß von 60 vH der im Zeitpunkt des Eintrittes des Versicherungsfalles geltenden doppelten Höchstbemessungsgrundlage gemäß § 178 Abs 2 ASVG unter Berücksichtigung der Anpassung gemäß § 213a ASVG zu; das Mehrbegehren wurde rechtskräftig abgewiesen.

Nach der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes sei der Arbeitsunfall des Klägers durch die grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht worden. Ob Arbeitnehmern bei der Errichtung von Gerüstaufbauten eine weitere Schutzausrüstung zur Sicherung gegen Absturz zur Verfügung gestellt werden müsse, könne dahingestellt bleiben. Solche Schutzausrüstungen seien gem § 72 Abs 1 Allgemeine Arbeitnehmerschutzverordnung BGBl 1983/218 dann zur Verfügung zu stellen, wenn Gerüste nach § 46 dieser V infolge weitgehenden Beseitigung durch Abbau - wie im vorliegenden Fall - nicht mehr vorhanden seien. Werden Schutzausrüstungen unter diesen Umständen trotz Aufforderung durch die Arbeitnehmer nicht zur Verfügung gestellt, liege grobe Fahrlässigkeit vor.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge.

Es verneinte die geltend gemachte Mangelhaftigkeit und Aktenwidrigkeit, hatte keine Zweifel gegen die Richtigkeit der Beweiswürdigung und der wesentlichen Feststellungen und führte zur Rechtsrüge im wesentlichen aus:

Nach § 7 Abs 1 Bauarbeiterschutzverordnung BGBl 1954/267 seien an allen Arbeitsstellen, an denen Absturzgefahr bestehe, Einrichtungen anzubringen, die geeignet seien, ein Abstürzen der Dienstnehmer zu verhindern oder ein Weiterfallen hintanzuhalten, wie Arbeitgerüste, Brustwehren, Schutzgerüste oder Fangnetze. Bei Arbeiten an besonders gefährlichen Stellen müßten die Dienstnehmer überdies angeseilt sein. Das gleiche gelte für das Anbringen oder Entfernen von Schutzeinrichtungen an besonders gefährlichen Stellen. Daraus ergebe sich, daß die Dienstnehmer beim Entfernen von Schutzeinrichtungen angeseilt sein müßten. Ergänzend dazu lege § 72 Abs 1 der Allgemeinen Arbeitnehmerschutzverordnung BGBl 1983/218 fest, daß Sicherungsseile nur in Verbindung mit Sicherheitsgürteln oder Sicherheitsgeschirren verwendet werden dürften. Dem Kläger hätten daher für die Tätigkeit des Abbaues des Gerüstes Sicherheitsgürtel (oder Sicherheitsgeschirr) und Sicherheitsseil zur Verfügung gestellt werden müssen. Dadurch wäre der Unfall leicht zu verhindern gewesen. Daß der (ungesicherte) Kläger auf dem regennassen Dach ausrutschen könne, war für jeden durchschnittlich sorgfältigen Menschen voraussehbar. Deshalb seien Arbeitnehmerschutzvorschriften grob fahrlässig außer acht gelassen worden.

In der Revision macht die Beklagte unrichtige rechtliche Beurteilung der Sache geltend; sie beantragt, das angefochtene Urteil durch (gänzliche) Abweisung des Klagebegehrens abzuändern oder es allenfalls aufzuheben.

Der Kläger erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nach § 46 Abs 1 Z 2 ASGG in der hier noch anzuwendenden Fassung vor der ASGGNov 1994 BGBl 624 (Art X § 2 Z 7) zulässig; sie ist aber nicht berechtigt.

Daß der Arbeitsunfall des Klägers durch die fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht wurde, steht auch nach der Meinung der Revisionswerberin "außer Zweifel". Sie bekämpft nur mehr die Rechtsansicht des Berufungsgerichtes, daß eine grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften vorliege.

Diese rechtliche Beurteilung des festgestellten Sachverhaltes durch das Berufungsgericht ist richtig (§ 48 ASGG). Sie entspricht der Rsp des erkennenden Senates. Dazu wird insbesondere auf die Grundsatzentscheidung SSV-NF 6/61 verwiesen, in der diesbezüglich ausgeführt wurde: "Grobe Fahrlässigkeit ... ist dem Begriff der auffallenden Sorglosigkeit iS des § 1324 ABGB gleichzusetzen und nur dann anzunehmen, wenn eine ungewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht vorliegt, die den Eintritt eines Schadens nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich erscheinen läßt. Sie erfordert, daß ein objektiv besonders schwerer Sorgfaltsverstoß auch subjektiv schwerstens vorzuwerfen ist. Eine strafgerichtliche Verurteilung reicht für sich allein für die Annahme grober Fahrlässigkeit nicht aus. Es sind jeweils die Umstände des Einzelfalles zu prüfen (SZ 51/128 mwN)." Der Senat wiederholte diese Grundsätze in den noch nicht veröffentlichten E 19.7.1994, 10 Ob S 76/94, 23.11.1994, 10 Ob S 156/93 und 31.1.1995, 10 Ob S 51, 97 und 217/94, auf deren Begründung im Hinblick auf § 15a OGHG verwiesen wird; dabei bezog er sich auch noch auf SZ 56/166 und Arb 10.087. Er hält daran und auch an der weiteren herrschenden Rsp fest, daß das Zuwiderhandeln gegen Unfallverhütungsvorschriften für sich allein zur Annahme grober Fahrlässigkeit nicht ausreicht. Entscheidende Kriterien für die Beurteilung des Fahrlässigkeitsgrades sind auch nicht die Zahl der übertretenen Vorschriften, sondern die Schwere der Sorgfaltsverstöße und die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintrittes. Dabei ist im wesentlichen zu prüfen, ob der Betreffende ganz einfache und naheliegende Überlegungen nicht angestellt hat (24.2.1993, 9 Ob A 315/92 mwN). In den E vom 23.11.1994 und 31.1.1995 nahm der erkennende Senat auch zu den teilweise abweichenden Meinungen von Meisel/Widlar, Die Integritätsabgeltung - eine neue Leistung der Unfallversicherung, SozSi 1991, 362f (367) und von Dörner, Die Integritätsabgeltung nach dem ASVG (1994) 75f FN 310f sowie zur Auffassung Tomandls, SV-System 7. ErgLfg 345 Stellung, wonach eine Differenzierung nach dem Grad des Verschuldens des Schädigers mit der Zielsetzung der Integritätsabgeltung in keinem rationalen Zusammenhang stünde und daher wegen Unsachlichkeit verfassungsrechtlich bedenklich wäre. Auf die diebezüglichen Erwägungen in den angeführten beiden Entscheidungen wird verwiesen.

Prüft man den vorliegenden Fall unter Bedachtnahme auf die somit schon mehrfach dargelegten Rechtsausführungen, dann erweist sich die rechtliche Beurteilung des festgestellten Sachverhaltes durch das Berufungsgericht als zutreffend:

Gerade deshalb, weil die Aufmauerungs- und Sanierungsarbeiten im Bereich der südlichen Kamingruppen abgeschlossen und die dort angebrachten Schutzvorrichtungen (Gerüste) bereits abgebaut waren, konnten diese ein Abstürzen der in diesen Bereichen mit Finalisierungsarbeiten beschäftigten Dienstnehmer, darunter des Klägers, nicht mehr verhindern. Da das Dach zur Unfallszeit nach einem Regen naß war und die Arbeiter überdies noch zu besonders rascher Arbeit aufgefordert worden waren, hätte ua der Vorarbeiter die drohende Absturzgefahr leicht erkennen können. Daß unter diesen Umständen ua dem Kläger keine gegen Abstürzen sichernde Einrichtung (zB Sicherungsseil in Verbindung mit Sicherheitsgürtel oder Sicherheitsgeschirr) zur Verfügung gestellt wurde, obwohl er und der Baupraktikant dies schon wiederholt verlangt hatten, ist als objektiv, aber auch subjektiv besonders schwerer Sorgfaltsverstoß zu werten, weil ganz einfache und naheliegende Überlegungen nicht angestellt wurden.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen entsprechen jedoch nicht ganz dem Gesetz. Das Erstgericht hat das auf Gewährung einer Integritätsabgeltung gerichtete Klagebegehren erledigt, ohne der Beklagten nach § 89 Abs 2 ASGG eine vorläufige Zahlung aufzutragen. Das Berufungsgericht hat dieses Urteil bestätigt. Das Klagebegehren betrifft eine Geldleistung und ist dem Grunde und der Höhe nach bestritten, so daß die Rechtsstreitigkeit dadurch erledigt werden kann, daß das Klagebegehren als dem Grunde nach zu Recht bestehend erkannt und dem Versicherungsträger die Erbringung einer vorläufigen Zahlung aufgetragen wird, deren Ausmaß unter sinngemäßer Anwendung des § 273 Abs 1 ZPO festzusetzen ist (§ 89 Abs 2 ASGG). Bei Fehlen eines solchen Auftrages ist das Urteil jederzeit auf Antrag oder von Amts wegen zu ergänzen (§ 89 Abs 2 Satz 1, 3. HS idF der ASGG-Novelle 1994 BGBl 624; gemäß Art X § 1 Abs 1, § 2 Z 14 auch anzuwenden, wenn das Datum des zu ergänzenden Urteils vor dem 1.1.1995 liegt). Nach § 90 Z 3 ASGG idF der ASGG-Nov 1994 ist der Auftrag nach § 89 Abs 2 in das Urteil des Rechtsmittelgerichts von Amts wegen aufzunehmen, auch wenn dieser Auftrag im angefochtenen Urteil fehlt und der Versicherte gar kein Rechtsmittel erhoben hat (Fink, ASGG 216). Unter Berücksichtigung dieser Rechtslage und in sinngemäßer Anwendung des § 273 Abs 1 ZPO war die vorläufige Zahlung mit 500.000 S festzusetzen.

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