OGH 10ObS76/94

OGH10ObS76/9419.7.1994

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Elmar A.Peterlunger und Wilhelm Hackl in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Alfred P*****, Pensionist, ***** vertreten durch Rudolf Kaltenbäck ua, Referenten der Arbeiterkammer für Steiermark, Ausseer Straße 42, 8940 Liezen, diese vertreten durch Dr.Gerhard Hiebler, Rechtsanwalt in Leoben, wider die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Adalbert-Stifter-Straße 65, 1200 Wien, vertreten durch Dr.Vera Kremslehner ua, Rechtsanwälte in Wien, wegen Integritätsabgeltung, infolge Rekurses der beklagten Partei gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 8.Juli 1993, GZ 8 Rs 2/93-18, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Kreis(Landes)gerichtes Leoben als Arbeits- und Sozialgericht vom 13.10.1992, GZ 22 Cgs 96/92-14, aufgehoben wurde, den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Rekurskosten bilden weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der am 18.10.1952 geborene Kläger erlernte den Beruf des Spenglers und war in der Folge als Spengler und Dachdecker tätig. Seit September 1986 arbeitete er bei der Fa.W*****, Dachdeckerei, Fassadenverkleidungen, Spenglerei und Flachdachsanierungen in S*****. Dieses Unternehmen ist schon seit Jahrzehnten für die ***** Genossenschaft E***** tätig. Im Herbst 1986 erhielt die Fa.W***** von dieser Genossenschaft den Auftrag zur Durchführung verschiedener Arbeiten. An einem Betriebsgebäude war eine Feuermauer zu verkleiden, die Buchstaben einer am Dachfirst angebrachten Werbeschrift waren zu entfernen und die in der Dachhaut dadurch entstandenen Öffnungen zu verkleiden. Zu einer Dachgaube des Betriebsgebäudes führt eine 30 kV Freileitung. Diese Freileitung endet an der Stirnseite der Gaube, wo 35 cm lange und 12 bis 14 cm dicke Isolatoren angebracht sind. Von dort führt die Leitung in das Gebäudeinnere. Die zu verkleidende Fassade befand sich ca 15 m von der Starkstromleitung entfernt; der erste Buchstabe der Reklameschrift war ca 1 m vom Firstende entfernt. Der Geschäftsführer der Fa.W***** befand sich vor Beginn der Arbeiten auf der Baustelle, auf der in der Folge 7 bis 8 Arbeitnehmer abwechselnd tätig waren, stieg jedoch nicht auf das Dach, sondern sah sich die Situation nur von innen an. Er erteilte dem Kläger den Auftrag, die Feuermauer zu verkleiden und das ganze Dach durchzusehen und allfällig notwendige Ausbesserungsarbeiten vorzunehmen. Erst zu einem späteren Zeitpunkt wurde der Kläger aufgefordert, auch die Reklameschrift zu entfernen. Weder von Seiten des Geschäftsführers des Dienstgeberunternehmens noch von Seiten des Bauherrn wurde der Kläger auf die Gefährlichkeit der Starkstromleitung hingewiesen. Dem Geschäftsführer der Fa.W***** fiel diese Leitung nicht auf. Die Arbeiten zur Entfernung der Reklameschrift begannen am Firstende, wobei die dabei benützte ausfahrbare, in diesem Zustand 7,5 m lange Aluminiumleiter im Zug der Arbeiten sukzessive in Richtung zur Starkstromleitung verlagert wurde. Die Buchstaben wurden entfernt und die schadhaften Stellen am Dach ausgebessert.

Am 10.1.1989 verrichtete der Kläger unter Zuhilfenahme der Aluminiumleiter Ausbesserungsarbeiten im Bereich der Dachdurchführung eines Entlüftungsrohres, das 2 m von der Gaube entfernt ist, sowie zwischen dem Entlüftungsrohr und der Gaube. Nach deren Abschluß ließ er die Leiter innerhalb des Zweimeterbereiches zwischen Entlüftungsrohr und Gaube zu Boden. Die Leiter stand dann ca 70 cm von der spannungsführenden Leitung entfernt. Über eine andere Leiter an der Feuermauer stieg er ab und versuchte die senkrecht stehende, an der Dachrinne angelegte Leiter mit einem Seilzug einzufahren, was nicht gelang. Er wollte daher die Leiter in voll ausgefahrener Länge umlegen, setzte sie gegen einen Mauersockel, verdrehte sie um 45 Grad und wollte sie mit dem Rücken zur Leitung stehend von der Mauer weglegen. Dabei gelangte er mit der Leiter näher als 325 mm an die Leitung heran, wodurch es, begünstigt auch durch die herrschende Luftfeuchtigkeit, ohne Berührung zwischen Leiter und Leitung zu einem Stromüberschlag kam, wodurch der Kläger schwer verletzt wurde. Er erlitt Starkstromverbrennungen an beiden Beinen, sowie an beiden Unterarmen. Der linke Unterschenkel und der rechte Vorfuß mußten amputiert werden, an beiden Unterarmen kam es zu Sehnen-, Muskel- und Nervenschädigungen. Seit 1.4.1990 bezieht der Kläger die Invaliditätspension. Die beklagte Partei erkannte dem Kläger mit Bescheid vom 11.9.1990 für die Folge dieses Unfalles eine Versehrtenrente im Ausmaß der Vollrente samt Zusatzrente zu.

Ein mit Starkstromarbeiten vertrauter Fachmann muß zu stromführenden 30 kV-Leitungen einen Abstand von mindestens 325 mm einhalten, weil innerhalb dieser Distanz die Gefahr von Stromüberschlägen besteht. Laien müssen zu solchen Leitungen einen Abstand von mindestens 1,5 m einhalten; dieser Abstand wäre auch mit der Leiter einzuhalten gewesen. Befindet sich eine Person außerhalb eines Bereiches von 1,5 m von spannungsführenden Teilen, besteht keine Gefahr. Bei Arbeiten im gefährdeten Bereich ist das Stromversorgungsunternehmen zu verständigen, das entweder die Stromzufuhr abschaltet oder ein Schutzgerüst errichtet. Vor Durchführung der gegenständlichen Arbeiten wurde das Stromversorgungsunternehmen nicht verständigt.

Mit Bescheid vom 17.4.1992 lehnte die beklagte Partei die Gewährung einer Integritätsabgeltung für die Folgen dieses Unfalles ab.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Klage mit dem Begehren, die beklagte Partei zur Gewährung einer Integritätsabgeltung in gesetzlicher Höhe zu verpflichten. Die Verwendung einer so langen Metalleiter im Bereich der Freileitung habe gegen § 38 der Allgemeinen Arbeitnehmerschutzvorschriften verstoßen. Die Gefährlichkeit von Arbeiten in der Nähe von Starkstromleitungen sei für jedermann einsichtig; erschwerend sei, daß der Kläger auf die Gefahr nicht hingewiesen worden sei.

Die beklagte Partei beantragt die Abweisung des Klagebegehrens. Der Kläger habe den Verstoß gegen die nötigen Sicherheitsmaßnahmen selbst zu verantworten. Er habe unbedacht mit der Leiter in der Nähe der Freileitung hantiert. Dieser Vorgang sei für den Dienstgeber nicht vorhersehbar gewesen, zumal sich die Baustelle 15 m von der Freileitung entfernt befunden habe. Für Schutzmaßnahmen habe daher kein Anlaß bestanden. Ein Verstoß gegen die Arbeitnehmerschutzvorschrift liege daher nicht vor.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Dem Arbeitgeber des Klägers sei keine grobe Fahrlässigkeit unterlaufen. Er sei über die Starkstromleitung nicht informiert gewesen und habe die Annäherung an die Gefahrenquelle nicht voraussehen können, insbesondere nicht im Hinblick auf den großen Abstand zwischen der Feuermauer bzw der Reklameschrift und der Starkstromleitung. Nicht voraussehbar seien auch die weiteren zum Unfall führenden Umstände, insbesondere die Ausbesserungsarbeiten im Bereich zwischen Luftauslaß und Gaube sowie das Hinunterlassen der Leiter in diesem Bereich gewesen. Da kein grobfahrlässiger Verstoß gegen Arbeitnehmerschutzvorschriften vorliege, bestehe kein Anspruch auf die begehrte Leistung.

Das Berufungsgericht hob dieses Urteil über Berufung des Klägers auf und verwies die Sache an das Erstgericht zurück, wobei es aussprach, daß der Rekurs gegen seine Entscheidung zulässig sei. Es verneinte das Vorliegen von Verfahrensmängeln, billigte die Beweiswürdigung des Erstgerichtes, erachtete jedoch die Feststellungsgrundlage ergänzungsbedürftig. Dadurch, daß der Geschäftsführer der Fa.W***** Arbeiten angeordnet habe, die auch in unmittelbarer Nähe der Starkstromleitung zu verrichten gewesen seien, ohne entsprechende Sicherheitsmaßnahmen vorzukehren, habe er gegen § 38 Abs 3 der Allgemeinen Arbeitnehmerschutzvorschrift BGBl 1983/218 verstoßen. Es sei unschwer zu erkennen gewesen, daß die Verwendung der 7,5 m langen Aluminiumleiter in der Nähe der Freileitung eine Gefahr bedeuten mußte. Im Hinblick auf die Gefahr eines Stromüberschlages sei das Hantieren mit der Leiter in geringerer Entfernung als 8 m von der Leitung gefährlich gewesen. Da der Kläger den Auftrag erhalten habe, das ganze Dach durchzusehen, sei voraussehbar gewesen, daß er auch in den gefährlichen Bereich gelangen werde. Die Verständigung des Stromversorgungsunternehmens wäre eine einfache Maßnahme gewesen, wobei unter Umständen die bloße Überwachung der Arbeiten und der Leiterbewegungen durch einen Fachmann dieses Unternehmens zur Beseitigung der Gefahr ausgereicht hätte; auch eine Weisung an den Kläger, die Leiter nicht gerade an dieser Stelle zu Boden zu lassen, hätte die Stiuation entscheidend entschärft. Es seien jedoch ergänzende Feststellungen darüber erforderlich, ob es sich dabei um einfache, praktische Maßnahmen gehandelt hätte. Zu klären sei auch, wie wahrscheinlich ein Schadenseintritt dem Dienstgeber bei Anwendung gehöriger Sorgfalt erscheinen mußte, insbesondere, ob der Dienstgeber des Klägers voraussehen konnte, daß der Kläger die Leiter gerade an dieser Stelle zu Boden lassen werde. Wäre dies der Fall gewesen, so habe der Dienstgeber grobe Fahrlässigkeit zu verantworten. Weiters sei der Abstand der Freileitung vom Boden festzustellen und zur Leiterlänge in Beziehung zu setzen sowie, ob der Kläger die Leiter, als er sie auf den Sockel setzte angehoben habe und ob es beim Zusammenschieben derartiger Leitern öfters Schwierigkeiten gebe. Sollte sich danach eine grobe Fahrlässigkeit des Dienstgebers des Klägers ergeben, so wäre dem Kläger die Integritätsabgeltung zuzusprechen. Im weiteren legte das Berufungsgericht die Kriterien dar, die bei Bemessung der Integritätsabgeltung zu beachten seien.

Gegen diesen Beschluß richtet sich der Rekurs der beklagten Partei, mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Urteil des Erstgerichtes wieder herzustellen.

Der Kläger beantragt, dem Rekurs nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist nicht berechtigt.

Gemäß § 38 Abs 2 Allgemeine Arbeitnehmerschutzvorschrift dürfen im Bereich von nicht für Zwecke des Betriebes errichteten, nicht isolierten Freileitungen nur Betriebseinrichtungen und Betriebsmittel verwendet werden, durch deren Höhe und Reichweite ein gefahrbringendes Annähern an diese Leitungen nicht möglich ist, soweit ein solches Annähern nicht durch andere Maßnahmen verhindert wird. Bei der von der STEWEAG zur Stromversorgung des Betriebes der ***** Genossenschaft eingerichteten Leitung handelt es sich um eine Freileitung in diesem Sinne. Die Verwendung einer Aluminiumleiter, die zufolge ihrer Länge in den Gefahrenbereich ragen konnte, im unmittelbaren Bereich dieser Freileitung verstieß daher gegen die genannte Bestimmung. Bei dieser handelt es sich um eine positivrechtliche Arbeitnehmerschutzvorschrift im Sinne des § 213 a

ASVG.

Nach der ständigen Rechtsprechung zu § 1324 ABGB liegt grobe Fahrlässigkeit im Sinne des § 334 ASVG, die der auffallenden Sorglosigkeit des § 1324 ABGB gleichzusetzen ist, dann vor, wenn eine ungewöhnliche und auffallende Sorgfaltsvernachlässigung gegeben ist, die den Eintritt eines Schadens nicht mehr als möglich, sondern geradezu als wahrscheinlich voraussehen läßt. Der Begriff der groben Fahrlässigkeit erfordert, daß ein objektiv besonders schwerwiegender Sorgfaltsverstoß bei Würdigung aller Umstände des konkreten Falles auch subjektiv schwerstens vorzuwerfen ist (SZ 56/166, Arb 10.087). Diese Grundsätze sind auch für die Beurteilung des Grades des Verschuldens im Sinne des § 213 a ASVG heranzuziehen (SSV-NF 6/61). Geht man davon aus, so erweist sich die vom Berufungsgericht aufgetragene Verfahrensergänzung als erforderlich.

Im Mittelpunkt des Auftrages stand die Verkleidung einer Feuermauer, die von der Freileitung 15 m entfernt war und sich damit weit außerhalb des Gefahrenbereiches befand. Im weiteren war ein wesentlicher Teil des Auftrages die Entfernung der Reklameschrift am Dachfirst; auch die dabei anfallenden Arbeiten waren außerhalb des Gefahrenbereiches zu verrichten. Neben der Feuermauer waren ein Materialaufzug errichtet und eine Leiter aufgestellt, über die die Arbeiter auf das Dach gelangten. Die Aluminiumleiter wurde nur bei den Arbeiten am Dach benützt und im Zug der Arbeiten immer näher an die Freileitung herangebracht. Zum Besteigen und Verlassen des Daches benützten die Arbeiter die im Bereich der Feuermauer aufgestellte Leiter; auch der Kläger stieg über die letztgenannte Leiter ab, um in der Folge die im Bereich der Gaube befindliche Aluminiumleiter, die er zuvor vom Dach herabgelassen hatte, vom Boden aus wegzubringen. Der Kläger hatte aber neben den Aufgaben, die den Schwerpunkt der Arbeiten bildeten, den Auftrag, das Dach als gesamtes durchzusehen, was auch mit sich brachte, daß er sich in die Nähe der Freileitung begeben mußte. Mag auch die Frage, ob es sich bei den vom Berufungsgericht dargestellten Vorsorgemaßnahmen um einfache, praktische Maßnahmen gehandelt hätte, dem Bereich der rechtlichen Beurteilung zuzuzählen sein, kommt doch dem Umstand, ob voraussehbar war, daß der Kläger die Leiter gerade an dieser Stelle vom Dach herunterlassen und vom Gebäude wegbringen werde und ob im Hinblick auf die Länge der Leiter damit gerechnet werden konnte, daß sie dabei in den Gefahrenbereich ragen würde, wesentliche Bedeutung zu. Da das Berufungsgericht die Sache in diesem Punkt für weiter aufklärungsbedürftig erachtete, kann der Oberste Gerichtshof dem nicht entgegentreten.

Zu den Ausführungen des Berufungsgerichtes bezüglich der Bemessung der Integritätsabgeltung enthält der Rekurs keine Ausführungen, so daß keine Veranlassung besteht, hiezu Stellung zu nehmen.

Der Kostenvorbehalt stützt sich auf § 52 Abs 2 ZPO.

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