OGH 10ObS22/95

OGH10ObS22/9514.2.1995

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dr.Josef Fellner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Helmut Stöcklmayer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Josef S*****, Rentner, ***** vertreten durch Dr.Martin Morscher, Rechtsanwalt in Vöcklabruck, wider die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert Stifter-Straße 65, vertreten durch Dr.Vera Kremslehner, Dr.Josef Milchram und Dr.Anton Ehm, Rechtsanwälte in Wien, wegen Integritätsabgeltung, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 3.November 1994, GZ 13 Rs 60/94-11, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Wels als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 18.Jänner 1994, GZ 24 Cgs 186/93-5, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Der Kläger hat die Kosten seines Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger fuhr am 6.9.1991 auf dem Sägewerksgelände seines damaligen Arbeitgebers auf dem Trittbrett eines 20 t-Kalmar-Gabelstaplers mit. An den Seiten dieses Staplers waren Türgriffe und Griffe zum Aufklappen der gesamten Fahrerkabine bzw Motorhaube, nicht aber eigene, für die Mitfahrt gedachte Haltegriffe angebracht. Auch die Trittbretter an beiden Seiten des Staplers sind ihrer Zweckwidmung nach nicht zum Mitführen von Personen, sondern zum Aufstieg zur Fahrerkabine und zur Durchführung von Wartungsarbeiten gedacht. Nach den Sicherheitsbestimmungen der Liefer- und Servicefirma des Gabelstaplers ist das Mitfahren von Personen nicht zulässig. Die Griffe und die auf beiden Seiten befindlichen Standflächen reichen aber aus sicherheitstechnischer Sicht für die ungefährdete Mitführung von Personen aus. Der am Unfallstag befahrene Fahrweg wies Bodenunebenheiten auf, so daß der Stapler holperte. Es regnete; das Trittbrett und die Haltemöglichkeiten waren feucht. Wegen der Bodenunebenheiten konnte sich der Kläger am Stapler nur mit Mühe halten. Schließlich stürzte er in einer mit einer Geschwindigkeit von etwa 8 bis 10 km/h befahrenen engen Linkskurve ab und wurde vom rechten Hinterrad überrollt. Der Kläger war schon früher gelegentlich auf dem Stapler mitgefahren; dies war dem Betriebsleiter und dem Staplerfahrer bekannt. Durch den Arbeitsunfall erlitt der Kläger schwere Dauerfolgen. Mit Bescheid und Erklärung vom 11.8.1993 gewährte ihm die Beklagte ab 1.9.1993 eine Dauerrente von 100 vH der Vollrente samt Zusatzrente und Pflegegeld der Stufe 4.

Mit einem weiteren Bescheid vom 11.8.1993 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Integritätsabgeltung für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 6.9.1991 ab; dieser sei nicht durch die grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht worden.

Das auf die abgelehnte Leistung in der Höhe des Doppelten des zum 6.9.1991 nach § 178 Abs 2 ASVG geltenden Betrages gerichtete Klagebegehren stützt sich im wesentlichen darauf, daß die Mitbeförderung des Klägers auf dem Stapler nicht zulässig gewesen sei; dieser habe über keine gesicherten Einrichtungen zur Personenbeförderung verfügt. Das betriebsübliche Mitfahren sei von den Firmenverantwortlichen und vom Staplerfahrer unbeanstandet geduldet worden. Es liege daher eine grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften vor.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Sie bestritt die Rechtsansicht des Klägers. Selbst wenn diese richtig wäre, bestünde nach § 1 Abs 2 der Richtlinien über die Leistung einer Integritätsabgeltung gemäß § 213a ASVG kein Anspruch auf die begehrte Leistung.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der Arbeitsunfall sei nicht durch die grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften durch den Betriebsleiter oder den Staplerfahrer verursacht worden.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge.

Es erachtete die Mängel- und Beweisrüge als nicht berechtigt und teilte auch die rechtliche Beurteilung des ausreichend festgestellten Sachverhaltes durch das Erstgericht. Dieses sei der Rsp des OGH SSV-NF 6/61 und 89 gefolgt. Ob die am Gabelstapler vorhandenen Griffe und Trittbretter in der gegebenen Ausgestaltung iS der im einzelnen genannten Arbeitnehmerschutzvorschriften (völlig) ausreichend sicher und damit geeignet waren, könne dahingestellt bleiben. Angesichts der am Stapler vorhandenen Einrichtungen sei nämlich eine grob fahrlässige Außerachtlassung dieser Schutzvorschriften jedenfalls zu verneinen. Da diese Einrichtungen (Standflächen und Griffe) nach der fachkundigen Meinung des Arbeitsinspektorates als geeignet angesehen worden seien, könne der entsprechende Standpunkt des Dienstgebers und des Staplerfahrers, die vom gelegentlichen Mitfahren Kenntnis gehabt hätten, nicht als auffallende Sorglosigkeit gewertet werden. Zum Unfall sei es nur wegen einer Verkettung von Gefahrenmomenten (Nässe, holpriger Boden, schnell gefahrene enge Linkskurve) gekommen, aber nicht wesentlich durch grob fahrlässige Verletzung von Arbeitnehmerschutzvorschriften. Deshalb erübrige sich auch eine Stellungnahme zu § 1 Abs 2 der Richtlinien des beklagten Unfallversicherungsträgers.

Ein Bewertungsausspruch iS des § 45 Abs 1 Z 1 (aF) ASGG erübrige sich, weil der Wert des Entscheidungsgegenstandes ungeachtet der unzulänglichen Formulierung des Klagebegehrens 50.000 S weit übersteige.

In der Revision macht der Kläger Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtige rechtliche Beurteilung (der Sache) geltend; er beantragt, das angefochtene Urteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern oder es, allenfalls auch das der ersten Instanz aufzuheben. Weiters regt er an, beim Verfassungsgerichtshof die Aufhebung des angeblich gesetzwidrigen § 1 Abs 2 Z 1 der Richtlinien der Beklagen über die Leistung einer Integritätsabgeltung gemäß § 213a ASVG zu beantragen.

Die Beklagte beantragt in der Revisionsbeantwortung, der Revision und der Anregung hinsichtlich der Richtlinien nicht Folge zu geben.

Die Revision ist nach § 46 Abs 1 Z 2 ASGG in der hier noch anzuwendenden Fassung vor der ASGGNov 1994 BGBl 624 (Art X § 2 Z 7) zulässig. Das berufungsgericht hat zwar nicht im Spruch seines Urteils, wohl aber in den Entscheidungsgründen eindeutig zum Ausdruck gebracht, daß der Wert des Entscheidungsgegenstandes 50.000 S übersteigt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Die geltend gemachte Mangelhaftigkeit (§ 503 Z 2 ZPO) liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 leg cit).

Die rechtliche Beurteilung des festgestellten Sachverhaltes durch das Berufungsgericht, daß der Arbeitsunfall des Klägers nicht durch die grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht wurde, ist richtig (§ 48 ASGG). Sie entspricht der Rsp des erkennenden Senates. Dazu wird insbesondere auf die Grundsatzentscheidung SSV-NF 6/61 verwiesen, in der diesbezüglich ausgeführt wurde: "Grobe Fahrlässigkeit iS des § 334 Abs 1 ASVG ist dem Begriff der auffallenden Sorglosigkeit iS des § 1324 ABGB gleichzusetzen und nur dann anzunehmen, wenn eine ungewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht vorliegt, die den Eintritt eines Schadens nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich erscheinen läßt. Sie erfordert, daß ein objektiv besonders schwerer Sorgfaltsverstoß auch subjektiv schwerstens vorzuwerfen ist. Eine strafgerichtliche Verurteilung reicht für sich allein für die Annahme grober Fahrlässigkeit nicht aus. Es sind jeweils die Umstände des Einzelfalles zu prüfen (SZ 51/128 mwN)." Der Senat wiederholte diese Grundsätze in den noch nicht veröffentlichten

E 19.7.1994, 10 Ob S 76/94, 23.11.1994, 10 Ob S 156/93 und 31.1.1995, 10 Ob S 51, 97 und 217/94, auf deren Begründung im Hinblick auf § 15a OGHG verwiesen wird; dabei bezog er sich auch noch auf SZ 56/166 und Arb 10.087. Er hält daran und auch an der weiteren herrschenden Rsp fest, daß das Zuwiderhandeln gegen Unfallverhütungsvorschriften für sich allein zur Annahme grober Fahrlässigkeit nicht ausreicht. Entscheidende Kriterien für die Beurteilung des Fahrlässigkeitsgrades sind auch nicht die Zahl der übertretenen Vorschriften, sondern die Schwere der Sorgfaltsverstöße und die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintrittes. Dabei ist im wesentlichen zu prüfen, ob der Betreffende ganz einfache und naheliegende Überlegungen nicht angestellt hat (24.2.1993, 9 Ob A 315/92 mwN). In den E vom 23.11.1994 und 31.1.1995 nahm der erkennende Senat auch zu den teilweise abweichenden Meinungen von Meisel/Widlar, Die Integritätsabgeltung - eine neue Leistung der Unfallversicherung SozSi 1991, 362f (367) und von Dörner, Die Integritätsabgeltung nach dem ASVG (1994) 75f FN 310f sowie zur Auffassung Tomandls, SV-System

7. ErgLfg 345 Stellung, wonach eine Differenzierung nach dem Grad des Verschuldens des Schädigers mit der Zielsetzung der Integritätsabgeltung in keinem rationalen Zusammenhang stünde und daher wegen Unsachlichkeit verfassungsrechtlich bedenklich wäre. Auf die diesbezüglichen Erwägungen in den angeführten beiden Entscheidungen wird verwiesen.

Prüft man den vorliegenden Fall unter Bedachtnahme auf die somit schon mehrfach dargelegten Rechtsausführungen, dann erweist sich die rechtliche Beurteilung des festgestellten Sachverhaltes durch das Berufungsgericht, daß der Arbeitsunfall des Klägers nicht durch die grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht wurde, als zutreffend.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß der am Arbeitsunfall des Klägers beteiligte Frontgabelstapler nach der vom zuständigen Arbeitsinspektorat durchgeführten Unfallerhebung mit einer beidseitigen, innerhalb der Radbasis befindlichen Standfläche mit Haltegriff ausgestattet war, so daß die Personenmitnahme vom genannten Arbeitsinspektorat in einer im Strafverfahren gegen den Staplerfahrer erstatteten Stellungnahme als iS des § 105 Abs 2 Allgemeine Dienstnehmerschutzverordnung BGBl 1951/265 gerechtfertigt bezeichnet wurde. Selbst wenn man diese rechtlichen Schlußfolgerungen des Arbeitsinspektorates - wie der Revisionswerber - nicht teilt, ändert das nichts daran, daß dem Arbeitgber und dem Staplerfahrer hinsichtlich der Nichtunterbindung der Mitbeförderung von Personen auf dem Stapler keine ungewöhnliche und auffallende Sorgfaltspflichtvernachlässigung vorgeworfen werden kann, wenn die Mitbeförderung vom Arbeitsinspektorat sogar als rechtmäßig beurteilt wurde. In diesem Zusammenhang ist auch noch zu berücksichtigen, daß eine derartige Mitbeförderung auf dem Stapler im Werksgelände - wie der Kläger schon in der Klage behauptete - betriebsüblich war; daß es schon früher zu Arbeitsunfällen gekommen wäre, wurde nicht behauptet. Auch deshalb kann dem Arbeitgeber und dem Staplerfahrer nicht schwerstens vorgeworfen werden, die Mitbeförderung des Klägers nicht unterbunden zu haben.

Von einer Verletzung von Beweislastregeln kann keine Rede sein. Ob der Arbeitsunfall durch die grob oder leicht fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht wurde, ist keine Beweis-, sondern eine Rechtsfrage.

Das Klagebegehren ist daher schon mangels der nach § 213a Abs 1 ASVG erforderlichen Voraussetzung abzuweisen, daß der Arbeitsunfall durch die grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht wurde.

Aus diesem Grund ist nicht mehr zu prüfen, ob der Kläger den Versicherungsfall selbst grob fahrlässig durch Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften herbeigeführt hat, in welchem Fall nach § 1 Abs 2 Z 1 der Richtlinien der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt über die Leistung einer Integritätsabgeltung gemäß § 213a ASVG ein Anspruch auf Integritätsabgeltung nicht besteht. Allfällige Bedenken des Obersten Gerichtshofes gegen diese Stelle der als Verordnung zu qualifizierenden Richtlinien aus dem Grund der Gesetzwidrigkeit ermöglichen ihm es daher mangels Präjudizialität nicht, nach Art 89 Abs 2 B-VG beim Verfassungsgerichtshof einen Antrag auf Aufhebung zu stellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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