VwGH Ra 2022/19/0046

VwGHRa 2022/19/004625.5.2022

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie den Hofrat Dr. Faber und die Hofrätin Dr. Funk‑Leisch als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, in der Revisionssache der T M, vertreten durch Mag.a Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das am 21. Juli 2021 mündlich verkündete und mit 3. September 2021 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, L518 2215765‑1/14E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Normen

BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
BFA-VG 2014 §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
MRK Art8
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022190046.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Die Revisionswerberin, eine georgische Staatsangehörige, stellte am 27. Dezember 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Mit Bescheid vom 22. Februar 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag ab, gewährte der Revisionswerberin keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Georgien zulässig sei, sprach aus, dass eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht bestehe, und schloss die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gegen die Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz aus.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde der Revisionswerberin nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

4 Das BVwG führte zur Rückkehrentscheidung begründend aus, die strafgerichtlich unbescholtene Revisionswerberin halte sich seit etwa fünfeinhalb Jahren in Österreich auf. Sie sei rechtswidrig in Umgehungsabsicht von fremden- und niederlassungsrechtlichen Vorschriften zur Stellung eines unbegründeten Antrages auf internationalen Schutz eingereist und habe die Behörden „wiederholt getäuscht“. Sie verfüge über private, jedoch keine familiären Anknüpfungspunkte. Sie habe einen Deutschkurs besucht, die B1‑Prüfung absolviert und könne sich in einem guten Deutsch unterhalten. Bestimmte Arbeitsplätze seien der Revisionswerberin auch mit den vorgelegten Einstellungszusagen nicht zugesichert worden. Die vorgelegten Empfehlungsschreiben würden eine gewisse soziale Vernetzung im Bundesgebiet dokumentieren, eine außergewöhnliche Integration sei hieraus jedoch nicht zu entnehmen. Darüber hinaus habe die Revisionswerberin den überwiegenden Teil ihres Lebens in Georgien verbracht, wo noch Verwandte leben würden und sie sozialisiert worden sei. Der Revisionswerberin habe bei Antragstellung klar sein müssen, dass der Aufenthalt in Österreich im Fall der Abweisung ihres Antrages auf internationalen Schutz lediglich ein vorübergehender sei. Insgesamt überwiege daher das öffentliche Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthalts der Revisionswerberin im Bundesgebiet das persönliche Interesse der Revisionswerberin am Verbleib im Bundesgebiet deutlich.

5 Mit Beschluss vom 29. November 2021, E 3847/2021‑5, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der dagegen gerichteten Beschwerde der Revisionswerberin ab und trat die Beschwerde mit Beschluss vom 10. Jänner 2022, E 3847/2021‑7, dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

6 In der Folge brachte die Revisionswerberin die vorliegende Revision ein, welche sich gegen die mit dem angefochtenen Erkenntnis bestätigte Erlassung der Rückkehrentscheidung, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung nach Georgien und den Ausspruch, dass eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht besteht, richtet.

7 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

8 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

9 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

10 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG stütze sich bezüglich der Aufenthaltsdauer der Revisionswerberin auf Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, welche zu einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren ergangen sei, obwohl sich die Revisionswerberin zum Zeitpunkt der mündlichen Verkündung des Erkenntnisses bereits seit mehr als fünf Jahren im Bundesgebiet aufgehalten habe. Zudem werde der Revisionswerberin ohne weitere Begründung vorgeworfen, die österreichischen Behörden wiederholt getäuscht zu haben. Das BVwG hätte die vorgelegte Einstellungszusage bzw. den Arbeitsvorvertrag in seiner Interessensabwägung zugunsten der Revisionswerberin zu gewichten und die künftige Selbsterhaltungsfähigkeit zu berücksichtigen gehabt. Darüber hinaus gehe aus den vorgelegten Empfehlungsschreiben hervor, dass die Revisionswerberin tiefgehende Beziehungen zu Österreicherinnen unterhalte und zudem einen hohen Grad an sozialer Kompetenz bewiesen habe. Auch habe das BVwG die strafrechtliche Unbescholtenheit der Revisionswerberin nicht rechtskonform gewichtet.

11 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 6.10.2020, Ra 2019/19/0332, mwN).

12 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK im Allgemeinen ‑ wenn kein revisibler Verfahrensmangel aufgezeigt wird und sie in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel (vgl. etwa VwGH 21.4.2022, Ra 2022/19/0004, mwN).

13 Der Revision ist zwar darin zuzustimmen, dass angesichts der (knapp) über fünfjährigen Aufenthaltsdauer der Revisionswerberin in Österreich jene Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, nach welcher einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt (vgl. etwa VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0289; 10.4.2020, Ra 2019/19/0108; jeweils mwN), im Revisionsfall nicht maßgeblich ist.

14 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nimmt das persönliche Interesse zwar grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthalts des Fremden zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist freilich nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles vor allem zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren (vgl. VwGH 3.3.2021, Ra 2021/19/0023; 1.9.2021, Ra 2021/19/0247; 30.12.2021, Ra 2021/19/0446).

15 Wenn die Revision in diesem Zusammenhang ausführt, das BVwG hätte die Einstellungszusage und den Arbeitsvorvertrag bei der Interessenabwägung unberücksichtigt gelassen, zeigt sie damit nicht auf, dass das BVwG, welches sich mit diesem Aspekt auseinandersetzte, von näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entscheidungsrelevant abgewichen wäre. Aus den genannten Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes ergibt sich zwar, dass eine Einstellungszusage bzw. ein Arbeitsvorvertrag bei der Beurteilung des Grades der Integration zu berücksichtigen ist bzw. diesen bei der Interessenabwägung „Bedeutung“ zukommt, doch betraf dies Fälle, in welchen sich die Betroffenen ‑ anders als die nur etwa fünfeinhalb Jahre in Österreich aufhältige Revisionswerberin ‑ jeweils länger als zehn Jahre im Inland aufgehalten hatten (vgl. VwGH 30.6.2016, Ra 2016/21/0165; 26.1.2017, Ra 2016/21/0168; 7.3.2019, Ra 2018/21/0253; 30.4.2020, Ra 2019/21/0134; 23.7.2021, Ra 2018/22/0282; 15.9.2021, Ra 2021/17/0059). Erst bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. grundlegend VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005).

16 Das BVwG durfte aber im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG als maßgeblich relativierend bewerten, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitraum gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003)

17 Vor diesem Hintergrund zeigt die Revision insgesamt betrachtet nicht auf, dass die Interessenabwägung des BVwG fallbezogen unvertretbar wäre oder an einem revisiblen Verfahrensmangel leiden würde.

18 Auch einer überlangen Verfahrensdauer käme lediglich dann Relevanz für den Verfahrensausgang zu, wenn sich während der Verfahrensdauer schützenswerte familiäre oder private Interessen herausgebildet hätten (vgl. VwGH 30.12.2021, Ra 2021/19/0446, mwN). Dass dies hier der Fall wäre, legt die Revision, wie ausgeführt, fallbezogen nicht dar.

19 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzlich Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen. Von einer mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 1 VwGG abgesehen werden.

Wien, am 25. Mai 2022

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