Normen
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
BFA-VG 2014 §9
FrPolG 2005 §52 Abs2 Z2
FrPolG 2005 §52 Abs9
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z1
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018210253.L00
Spruch:
1. den Beschluss gefasst:
Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 richtet, zurückgewiesen.
2. zu Recht erkannt:
Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein nigerianischer Staatsangehöriger, stellte nach seiner illegalen Einreise in Österreich am 19. Oktober 2004 einen Asylantrag, der vom Bundesasylamt letztlich (im zweiten Rechtsgang) mit Bescheid vom 18. Juli 2012 - in Verbindung mit einer Ausweisung des Revisionswerbers nach Nigeria und mit der Feststellung der Zulässigkeit seiner Abschiebung dorthin - abgewiesen wurde.
2 Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde, die mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes (BVwG) vom 19. November 2015, Asyl und subsidiären Schutz betreffend, als unbegründet abgewiesen wurde. Gemäß § 75 Abs. 20 AsylG 2005 wurde allerdings die Angelegenheit zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zurückverwiesen.
3 Das BFA sprach sodann mit Bescheid vom 2. Februar 2018 aus, dass dem Revisionswerber ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt werde. Unter einem erließ es gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 2 Z 2 FPG, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Nigeria zulässig sei, und setzte gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für seine freiwillige Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.
4 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das BVwG nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 31. Oktober 2018 als unbegründet ab. Es sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
5 Begründend legte das BVwG (auf das im vorliegenden Zusammenhang Wesentliche zusammengefasst) in seiner Interessenabwägung dar, der Revisionswerber, der unbescholten, unverheiratet und kinderlos sei, habe sich seit Oktober 2004 durchgehend im Bundesgebiet aufgehalten. Er habe einen Freundeskreis erworben, sei Mitglied einer christlichen Kirchengemeinde, habe eine Deutschprüfung auf dem (bloß elementaren) Niveau A2 abgelegt und verfüge über zwei Einstellungszusagen. Daneben sei er als Zeitungsverkäufer tätig. Seit dem 2. August 2018 sei er bei der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft pflichtversichert, davor habe er zwischen 23. Juni 2017 und 26. Mai 2018 Versicherungszeiten bei der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse erworben.
Allerdings fehlten dem Revisionswerber in Österreich familiäre Anknüpfungspunkte oder weitere "maßgebliche private Beziehungen". Er sei weder in den Arbeitsmarkt integriert noch selbsterhaltungsfähig, habe bis zum 30. April 2018 Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung bezogen und werde von Freunden unterstützt. Die Rückkehr nach Nigeria sei ihm, zumal seine Eltern und Geschwister, zu denen er Kontakt habe, dort lebten, er die Landessprache beherrsche, über eine in diesem Staat absolvierte Schulausbildung (sechs Jahre Grundschule und fünf Jahre Mittelschule) verfüge und im Herkunftsstaat als Verkäufer seinen Lebensunterhalt verdient habe, zumutbar. Insgesamt sei nach Abwägung der (schwach ausgeprägten) betroffenen Rechtsgüter des Revisionswerbers und der öffentlichen Interessen der Eingriff in das Privat- und Familienleben des Revisionswerbers iSd Art. 8 EMRK als verhältnismäßig anzusehen. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung erweise sich iSd § 9 Abs. 2 BFA-VG als zulässig, sodass die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 nicht in Betracht komme. Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 lägen nicht vor.
6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
7 Hat das Verwaltungsgericht - so wie hier das BVwG - in seinem Erkenntnis ausgesprochen, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig ist, hat die Revision zufolge § 28 Abs. 3 VwGG auch gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird (außerordentliche Revision). Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof dann im Rahmen dieser vorgebrachten Gründe zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).
8 In Bezug auf die Entscheidung nach § 57 AsylG 2005 fehlt es gänzlich an einem entsprechenden Vorbringen in der vorliegenden Revision. Insoweit war sie daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG als unzulässig zurückzuweisen.
9 Im Übrigen, die Rückkehrentscheidung und die damit im Zusammenhang stehenden Aussprüche betreffend, erweist sich die Revision aber als zulässig und berechtigt, weil das BVwG - wie die Revision zutreffend geltend macht - von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG abgewichen ist.
10 Das BVwG erließ gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung. Wird durch eine Rückkehrentscheidung in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung dieser Maßnahme gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG (nur) zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei Beurteilung dieser Frage ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. etwa VwGH 14.4.2016, Ra 2016/21/0029 bis 0034, Rn. 11, mwN).
11 Bei dieser Interessenabwägung hat das BVwG - neben der der Behörde zurechenbaren, dem Revisionswerber hingegen nicht vorwerfbaren außergewöhnlichen Dauer der Erledigung des Asylverfahrens (iSd § 9 Abs. 2 Z 9 BFA-VG) - vor allem dem besonders langen Aufenthalt des Revisionswerbers in Österreich, der bis zur Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses bereits mehr als 14 Jahre betragen hatte, nicht die diesen Umständen nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zukommende Bedeutung beigemessen.
Nach dieser ständigen Judikatur ist bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005, Rn. 11 bis 13; VwGH 23.2.2017, Ra 2016/21/0325, Rn. 9 und 10, sowie VwGH 8.11.2018, Ra 2016/22/0120, Punkte 6.2. und 7.2., jeweils mwN).
12 Fallbezogen kann keine Rede davon sein, dass der unbescholtene Revisionswerber die Zeit seines Aufenthalts überhaupt nicht genützt hätte, um sich in Österreich zu integrieren. Selbst das BVwG geht nämlich davon aus, dass er Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2 aufweist, jahrelang als Zeitungsverkäufer tätig gewesen war, darüber hinaus noch weitere Versicherungszeiten erworben hat und zudem über zwei Einstellungszusagen verfügt. Dass insbesondere Einstellungszusagen keine maßgebliche Bedeutung zukomme, wie das BVwG meint, trifft im Zusammenhang mit einem langjährigen Aufenthalt nicht zu (vgl. insoweit etwa VwGH 26.1.2017, Ra 2016/21/0168, Rn. 33, mwN). Darüber hinaus hat der Revisionswerber - durch zahlreiche Empfehlungsschreiben dokumentiert - einen umfangreichen Freundes- und Bekanntenkreis aufgebaut.
Ein darüber hinausgehendes "besonders zu berücksichtigendes Integrationsverhalten" wird - entgegen der vom BVwG vertretenen Ansicht - von der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes bei einem so langen Aufenthalt nicht gefordert (vgl. VwGH 23.2.2017, Ra 2016/21/0325, Rn. 12).
13 Soweit das BVwG mit der Angabe unrichtiger Identitäten durch den Revisionswerber argumentiert, hat das auf das Ergebnis keinen Einfluss. Nach dem Inhalt des in Rn. 2 erwähnten Erkenntnisses des BVwG vom 19. November 2015, wurde dies nämlich schon im November 2006 - im Verlauf des Verfahrens über den Asylantrag - offengelegt. Dieser Umstand war nach der Aktenlage weder für die Dauer des Asylverfahrens noch des anschließenden Verfahrens vor dem BFA in nennenswertem Ausmaß ursächlich geworden (vgl. in diesem Sinn etwa VwGH 4.8.2016, Ra 2015/21/0249 bis 0253, Rn. 13).
14 Zwar ist auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte nicht zwingend vom Überwiegen des persönlichen Interesses auszugehen, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren (vgl. dazu neuerlich etwa VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005, Rn. 16 iVm Rn. 13 bis 15, und VwGH 23.2.2017, Ra 2016/21/0325, Rn. 13, mwN).
Derartige dafür inhaltlich in Betracht kommende Gegebenheiten hat das BVwG aber weder festgestellt noch sonst in seiner Entscheidungsbegründung ins Treffen geführt.
15 Nach dem Gesagten ist das angefochtene Erkenntnis, soweit es die vom BFA erlassene Rückkehrentscheidung bestätigt mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet. Es war daher im genannten Umfang (samt den auf die Erlassung der Rückkehrentscheidung aufbauenden Absprüchen nach § 52 Abs. 9 und § 55 FPG) gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
16 Von der in der Revision beantragten Durchführung einer Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 1 und 4 VwGG abgesehen werden.
17 Der Zuspruch von Kostenersatz gründet sich auf die §§ 47 ff, insbesondere § 50 VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 7. März 2019
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