VwGH Ra 2019/19/0108

VwGHRa 2019/19/010810.4.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Februar 2019, W159 2198704-1/17E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: M H in G), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs3
FrPolG 2005 §52
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019190108.L00

 

Spruch:

Das Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang, sohin hinsichtlich seiner Spruchpunkte A.II. und A.III., wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 3. Februar 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Mit Bescheid vom 9. Mai 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Mitbeteiligten sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.) und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Das BFA sprach weiter aus, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkt VI.) und erkannte einer Beschwerde gegen die Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkt VII.).

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Mitbeteiligten hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides als unbegründet ab (Spruchpunkt A.I.), gab der Beschwerde hingegen hinsichtlich der Spruchpunkte III. - VI. des angefochtenen Bescheides statt und behob diese "ersatzlos" (Spruchpunkt A.II.). Das BVwG stellte fest, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei und erteilte dem Mitbeteiligten einen Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" (Spruchpunkt A.III.). Schließlich sprach das BVwG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B.).

4 Das BVwG stellte - soweit hier maßgeblich - zur Person des Mitbeteiligten fest, er sei im Iran geboren und aufgewachsen und habe sich noch nie in Afghanistan aufgehalten. Er habe Verwandte in Afghanistan, zu diesen aber keinen Kontakt. Mit seinen Familienangehörigen, welche als Flüchtlinge im Iran lebten, stehe er in ständigem Kontakt. Der Mitbeteiligte habe im Iran vier bis fünf Jahre eine afghanische Schule besucht. Die Zeit in Österreich habe er außerordentlich gut genutzt, um sich zu integrieren. Er habe den Pflichtschulabschluss absolviert, besuche einen Deutschkurs auf dem Niveau B1 und ein Gymnasium für Berufstätige. Zudem leiste er Freiwilligenarbeit und spreche schon sehr gut Deutsch. Zwar führe er in Österreich kein Familienleben, habe jedoch viele österreichische Freunde. Der Mitbeteiligte sei unbescholten.

5 In Bezug auf die Rückkehrentscheidung berücksichtigte das BVwG im Rahmen der Interessenabwägung, dass sich der Mitbeteiligte zwar erst drei Jahre in Österreich aufhalte, aber schon nach weniger als einem Jahr Aufenthalt ein Deutschzertifikat des Niveaus A2 erworben und zahlreiche weitere Kurse, Seminare und Bildungsangebote genutzt habe. Damit habe er gezeigt, dass er äußerst bildungswillig und -fähig sei. Er habe bereits nach etwas mehr als zweieinhalb Jahren die Pflichtschulabschlussprüfung abgelegt. Zudem habe er in verschiedenen Bereichen Basiskurse besucht und dadurch seine vielfältigen Interessen und Fähigkeiten gezeigt. Er besuche ein Gymnasium und befinde sich "auf dem Weg zur Matura". Es sei somit zu erwarten, dass der Mitbeteiligte in Zukunft einen gehobenen Beruf ausüben könne und einen wichtigen Beitrag für die österreichische Gesellschaft leisten werde. Zwar sei der Mitbeteiligte angesichts seines jungen Alters und seines Schulbesuchs noch nicht selbsterhaltungsfähig, er sei aber ehrenamtlich engagiert und habe konkrete Vorstellungen von seiner beruflichen Zukunft. Trotz seiner kurzen Aufenthaltsdauer in Österreich wiege die Bindung zum Herkunftsstaat nicht derart schwer, dass aus diesem Grund ein überwiegendes Interesse des Mitbeteiligten am Verbleib in Österreich zu verneinen wäre. 6 Das BVwG gelangte zum Ergebnis, dass bei einer Gesamtbetrachtung die privaten Interessen des Mitbeteiligten am Verbleib im österreichischen Bundesgebiet die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung überwiegen würden, sodass eine Rückkehrentscheidung gegen den Mitbeteiligten unverhältnismäßig und auf Dauer unzulässig wäre. Dem Mitbeteiligten sei gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen.

7 Gegen die Spruchpunkte A.II. und A.III. des angefochtenen Erkenntnisses (Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und Erteilung eines Aufenthaltstitels) richtet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision. Der Mitbeteiligte erstattete keine Revisionsbeantwortung.

 

8 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

9 Die Revision begründet ihre Zulässigkeit unter Verweis auf näher bezeichnete Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs damit, dass das BVwG dem öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen nicht die nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zukommende Bedeutung beigemessen habe, indem es die Integration des Mitbeteiligten in unverhältnismäßiger Weise in den Vordergrund gestellt habe. Es bestehe ein großes öffentliches Interesse an einem geordneten Fremdenwesen. Dieses werde nur in Ausnahmefällen vom Interesse des Fremden an seinem Privatleben in Österreich überwogen. Eine derart außergewöhnliche Konstellation liege im Revisionsfall jedoch nicht vor. Sämtliche vom BVwG herangezogenen Aspekte seien dadurch gemindert, dass sie während eines unsicheren Aufenthaltsstatus entstanden seien.

10 Die Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet.

11 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (vgl. etwa VwGH 12.12.2018, Ra 2018/19/0521, mwN).

12 Die durch das BVwG durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist nur dann vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifen, wenn das BVwG die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003).

13 Dies ist aus folgenden Erwägungen vorliegend der Fall:

14 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0289, mwN).

15 Der Verwaltungsgerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt (vgl. VwGH 5.6.2019, Ra 2019/18/0078, mwN).

16 Liegt - wie im vorliegenden Fall - eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vor, so wird nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes regelmäßig erwartet, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären und einen entsprechenden Aufenthaltstitel zu rechtfertigen (vgl. VwGH 17.12.2019, Ro 2019/18/0006, mwN). 17 Die vorliegende Revision zeigt jedoch zutreffend auf, dass im gegenständlichen Fall eine derart "außergewöhnliche Konstellation" - entgegen der Ansicht des BVwG - nicht vorliegt. Der Mitbeteiligte hat sich im Entscheidungszeitpunkt seit etwa drei Jahren im Bundesgebiet aufgehalten. Selbst unter Berücksichtigung der umfassenden - der Art. 8 EMRK-Abwägung zugrunde gelegten - Integrationsbemühungen des Mitbeteiligten besteht allein dadurch noch keine derartige Verdichtung seiner persönlichen Interessen, dass bereits von "außergewöhnlichen Umständen" gesprochen werden kann und ihm schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Verbleib in Österreich ermöglicht werden müsste.

18 Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003, mwN). Diesen Umstand hat das BVwG zu wenig beachtet.

19 Den festgestellten privaten Interessen des Mitbeteiligten steht das öffentliche Interesse an einem geordneten Fremdenwesen gegenüber. Dieses öffentliche Interesse wurde vom BVwG vor dem Hintergrund der geschilderten Leitlinien der Rechtsprechung fallbezogen nicht ausreichend gewichtet.

20 Insgesamt erweist sich die Interessenabwägung des BVwG somit als unvertretbar.

21 Das angefochtene Erkenntnis war daher im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 10. April 2020

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