Normen
RAO 1868 §16 Abs4
StPO 1975 §1 Abs2
StPO 1975 §293
StPO 1975 §61 Abs4
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022030098.L00
Spruch:
Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.
Die Revisionswerberin hat der Steiermärkischen Rechtsanwaltskammer Aufwendungen in der Höhe von € 553,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Revisionswerberin wurde mit Bescheid der Abteilung 2 des Ausschusses der Steiermärkischen Rechtsanwaltskammer vom 4. Oktober 2018 gemäß § 45 Abs. 1 RAO zur Verteidigerin einer Angeklagten in einem näher bezeichneten gerichtlichen Strafverfahren bestellt.
2 Die Revisionswerberin beantragte für ihre erbrachten Leistungen in diesem Strafverfahren bereits für die Jahre 2018 und 2019 eine Vergütung gemäß § 16 Abs. 4 RAO. Diese Verfahren sind rechtskräftig abgeschlossen (vgl. hinsichtlich der Vergütung für das Jahr 2019 bereits VwGH 1.9.2021, Ra 2021/03/0140).
3 Mit ihrem dem gegenständlichen Revisionsverfahren zugrundeliegenden Antrag vom 22. März 2021 (bei der belangten Behörde eingelangt am 23. März 2021) begehrte die Revisionswerberin unter Bezugnahme auf das genannte Strafverfahren, das sich bereits im zweiten Rechtsgang befand, eine Vergütung gemäß § 16 Abs. 4 RAO für die von ihr erbrachten (über 50 Verhandlungsstunden hinausgehenden) Leistungen im Zeitraum vom 24. September 2020 bis 18. Dezember 2020 von ‑ näher aufgeschlüsselten ‑ € 177.171,69.
4 Mit Bescheid vom 19. Oktober 2021 sprach die Abteilung 2 des Ausschusses der Steiermärkischen Rechtsanwaltskammer der Revisionswerberin eine Vergütung in Höhe von € 41.069,59 zu und wies das Mehrbegehren ab.
5 Der gegen diesen Bescheid erhobenen Vorstellung, mit der die Revisionswerberin eine eingeschränkte Vergütung von € 102.165,84 anstrebte, gab das Plenum des Ausschusses mit Bescheid vom 17. November 2021 keine Folge und bestätigte den Bescheid seiner Abteilung 2.
6 Dagegen erhob die Revisionswerberin Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht Steiermark, die mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet abgewiesen wurde. Die Revision an den Verwaltungsgerichtshof erklärte das Verwaltungsgericht für nicht zulässig.
7 Begründend hielt das Verwaltungsgericht fest, die erste Hauptverhandlung des Strafverfahrens, für welches die Revisionswerberin als Verfahrenshelferin bestellt worden sei, habe am 15. Oktober 2018 begonnen. Das den ersten Rechtsgang beendende Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 25. Jänner 2019 sei jedoch mit Urteil des Obersten Gerichtshofes vom 14. Jänner 2020 – auch betreffend den Strafausspruch der Verfahrensbeholfenen ‑ aufgehoben und die Sache in diesem Umfang zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht für Strafsachen Graz zurückverwiesen worden. Da die erste Hauptverhandlung (im ersten Rechtsgang) am 15. Oktober 2018 begonnen habe, sei das zweite ‑ nunmehr gegenständliche ‑ Verhandlungsjahr von 15. Oktober 2019 bis 14. Oktober 2020 anzusetzen. Es sei nämlich auch im Falle eines zweiten Rechtsganges weiterhin vom selben Verfahren im Sinne des § 16 Abs. 4 RAO auszugehen. In diesem Verhandlungsjahr stehe der Revisionswerberin nach Erreichen der Schwelle von 50 Verhandlungsstunden gemäß § 16 Abs. 4 RAO eine Vergütung für ihre laut Kostenverzeichnis geltend gemachten Leistungen vom 24. September 2020 bis einschließlich 9. Oktober 2020 zu. Die im Kostenverzeichnis angeführten Leistungen von 19. Oktober 2020 bis 18. Dezember 2020 beträfen hingegen das darauffolgende (und somit dritte) Verhandlungsjahr und seien mangels Erreichen der gesetzlich festgelegten Erheblichkeitsschwelle (von mehr als zehn Verhandlungstagen bzw. 50 Verhandlungsstunden) nicht zuzusprechen gewesen.
8 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Zulässigkeit und in der Sache geltend macht, es fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, ob für den Beginn des Verhandlungsjahres im Sinne des § 16 Abs. 4 RAO nach einer Urteilsaufhebung durch ein Rechtsmittelgericht von der ersten Hauptverhandlung im ersten Rechtsgang oder von der ersten Verhandlung im zweiten Rechtsgang auszugehen sei. Nach Rechtsauffassung der Revisionswerberin beginne das Jahr, in welchem die maßgebliche Grenze des § 16 Abs. 4 RAO überschritten werden müsse, mit dem ersten Verhandlungstag des zweiten Rechtsgangs neu zu laufen.
9 Die belangte Behörde erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der sie die kostenpflichtige Zurückweisung, in eventu die Abweisung der Revision begehrte.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
10 Die Revision ist zur Klärung der Rechtslage in Bezug auf die in der Revision aufgeworfene Rechtsfrage, zu der noch keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vorliegt, zulässig.
11 Sie ist aber nicht begründet.
12 Die Revision vertritt die rechtliche Auffassung, dass in einem Strafverfahren, in dem das erstinstanzliche Urteil vom Rechtsmittelgericht aufgehoben wird und eine weitere Hauptverhandlung stattfinden muss, ein neues Verfahren gemäß § 16 Abs. 4 RAO vorliege. Sie bringt in diesem Zusammenhang vor, die vom Verwaltungsgericht vertretene Rechtsansicht, wonach auch im Falle eines zweiten Rechtsganges ein einheitliches Verfahren vorliege, führe in gewissen Konstellationen (in denen der zweite Rechtsgang wie im Revisionsfall gegen Ende des Verhandlungsjahres beginne und folglich die Verfahrenshelferin im betreffenden Verhandlungsjahr Verfahrenshilfeleistungen im Ausmaß knapp unter dem „Schwellenwert“ erbringe) zu dem vom Gesetzgeber nicht intendierten Ergebnis, dass in diesen Fällen kein Anspruch auf Sondervergütung bestehe.
13 Dem ist Folgendes zu erwidern:
14 Gemäß § 16 Abs. 4 RAO in der im vorliegenden Fall bereits maßgeblichen Fassung BGBl. I Nr. 19/2020 (vgl. zum Inkrafttreten § 60 Abs. 13 RAO) hat der nach den §§ 45 oder 45a RAO bestellte Rechtsanwalt in Verfahren, in denen er innerhalb eines Jahres ab dem ersten von ihm geleisteten Verhandlungstag mehr als zehn Verhandlungstage oder insgesamt mehr als 50 Verhandlungsstunden tätig wird, unter den Voraussetzungen des Abs. 3 (wenn er also zufolge verfahrensrechtlicher Vorschriften sonst keinen Entlohnungsanspruch hätte) für alle jährlich darüberhinausgehenden Leistungen einen Vergütungsanspruch an die Rechtsanwaltskammer.
15 Die Wendung, dass die Jahresfrist, innerhalb derer die maßgebliche Grenze überschritten werden muss, „ab dem ersten von ihm geleisteten Verhandlungstag“ zu laufen beginnt, wurde mit dem BRÄG 2020 in die Bestimmung des § 16 Abs. 4 RAO aufgenommen (vergleiche dazu bereits VwGH 1.9.2021, Ra 2021/03/0140).
16 In den Erläuterungen zur Regierungsvorlage hinsichtlich dieser Novellierung (19 BlgNR 27. GP , 9f) wird dazu Folgendes ausgeführt:
„Nach § 16 Abs. 4 erster Satz RAO hat ein nach den §§ 45 oder 45a bestellter Rechtsanwalt dann, wenn er in einem Verfahren innerhalb eines Jahres mehr als zehn Verhandlungstage oder insgesamt mehr als 50 Verhandlungsstunden tätig wird und er zufolge verfahrensrechtlicher Vorschriften sonst keinen Entlohnungsanspruch hätte, einen Anspruch auf angemessene Vergütung gegenüber der Rechtsanwaltskammer. Im Gesetz bislang nicht ausdrücklich angeordnet wird dabei, ab welchem Zeitpunkt die in dieser Regelung genannte Jahresfrist, innerhalb derer mehr als zehn Verhandlungstage oder insgesamt mehr als fünfzig Verhandlungsstunden zu erbringen sind, zu laufen beginnt.
...
In ständiger Verwaltungspraxis aller Rechtsanwaltskammern wurde und wird als maßgeblicher Zeitpunkt für die Ermittlung der Jahresfrist nach § 16 Abs. 4 erster Satz RAO insofern stets der Zeitpunkt des Beginns der Hauptverhandlung herangezogen. Auch (soweit ersichtlich) sämtlichen Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs, in denen sich dieser mit der Bestimmung des § 16 Abs. 4 erster Satz RAO zu beschäftigen hatte, lag dieses Verständnis zugrunde. Eine Notwendigkeit für eine ausdrückliche gesetzliche Klarstellung dieses Punkts wurde daher bislang nicht gesehen. Eine solche macht nunmehr die vom VwGH in seinem Beschluss vom 11.7.2019, Ra 2019/03/0013‑4, getroffene Aussage, wonach ein Anspruch auf Sondervergütung nach § 16 Abs. 4 RAO nur dann bestehe, wenn durch die Leistungen des Rechtsanwalts innerhalb eines Kalenderjahres die maßgebliche Grenze überschritten wird, aber doch notwendig. Entsprechend der bisherigen Sichtweise wird mit dem Vorschlag daher klargestellt, dass es bei der Ermittlung der ‚Erheblichkeitsschwelle‘ nach § 16 Abs. 4 erster Satz RAO auf die vom Verfahrenshelfer innerhalb eines Jahres ab dem ersten von ihm geleisteten Verhandlungstag erbrachten Verhandlungszeiten ankommt.“
17 Der Vergütungsregelung nach § 16 Abs. 4 RAO liegt eine jahresweise Betrachtung zu Grunde. Zur Bemessung des Anspruchs nach § 16 Abs. 4 RAO ist zudem nur auf das einzelne Verfahren abzustellen, es sind aber nicht etwa alle während eines Jahres erbrachten Verfahrenshilfeleistungen in einzelnen Verfahren zusammenzuzählen, was auch dann gilt, wenn die selbständig geführten Verfahren in einem Zusammenhang stehen (vgl. VwGH 29.7.2020, Ra 2020/03/0077, mwN).
18 Im gegenständlichen Fall hob der Oberste Gerichtshof den Wahrspruch der Geschworenen und das darauf beruhende Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 25. Jänner 2019 (teilweise) auf und verwies die Sache an das Geschworenengericht des Landesgerichts für Strafsachen Graz zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung zurück (vgl. § 349 Abs. 1 StPO).
19 Er eröffnete damit einen zweiten Rechtsgang in diesem Strafverfahren, ohne damit das Strafverfahren zu beenden und ein neues Verfahren in Gang zu setzen.
20 So wies bereits die Bundeministerin für Justiz in einer Stellungnahme an die belangte Behörde vom 18. Mai 2021 zutreffend darauf hin, dass nach § 1 Abs. 2 StPO das Strafverfahren durch Einstellung oder Rücktritt von der Verfolgung durch die Staatsanwaltschaft oder durch gerichtliche Entscheidung endet. Bei Urteilsaufhebung kommt es hingegen zur Wiederholung der Verhandlung in erster Instanz im zweiten Rechtsgang.
21 Soweit das im ersten Rechtsgang ergangene Urteil nicht in (Teil‑)Rechtskraft erwachsen ist, wird die Rechtssache durch das aufhebende Urteil des Obersten Gerichtshofes vielmehr in den status quo ante zurückversetzt, das heißt in denjenigen Stand, in welchem sie sich bei Beginn der ursprünglichen Hauptverhandlung befunden hatte (vgl. Ratz in Fuchs/Ratz, Wiener Kommentar zur Strafprozessordnung (2020), § 293, Rn 2). Das Strafgericht, an das die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung verwiesen wird, hat auch im zweiten Rechtsgang die ursprüngliche Anklage zugrunde zu legen, sofern der Oberste Gerichtshof nicht eine Abweichung angeordnet hat (vgl. §§ 293 iVm 344 StPO). Die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers gilt, wenn das Gericht nicht im Einzelnen etwas anderes anordnet, auch für das gesamte weitere Verfahren bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss sowie für ein allfälliges Verfahren auf Grund einer zur Wahrung des Gesetzes ergriffenen Nichtigkeitsbeschwerde oder eines Antrages auf Erneuerung des Strafverfahrens (vgl. § 61 Abs. 4 StPO). All dies spricht dafür, dass mit der Urteilsaufhebung durch den Obersten Gerichtshof kein neues (Straf‑)Verfahren beginnt.
22 Dass dem § 16 Abs. 4 RAO ein anderes Begriffsverständnis eines (einheitlichen) Strafverfahrens zugrunde läge, ist weder dem Wortlaut der Norm noch den Gesetzesmaterialien zu entnehmen. Wenn das erstinstanzliche Gericht infolge der kassatorischen Entscheidung des Rechtsmittelgerichtes nochmals zu verhandeln und zu entscheiden hat, so begründet dies zwar einen eigenen Verfahrensabschnitt, jedoch entgegen der Ansicht der Revision kein eigenes (neues) Verfahren im Sinne des § 16 Abs. 4 RAO.
23 Das deckt im Ergebnis die Sichtweise der belangten Behörde und des Verwaltungsgerichts, wonach das mit dem ersten Verhandlungstag in Gang gesetzte System der Vergütung nach § 16 Abs. 4 RAO im Sinne einer jahresweisen Betrachtung auch in einem weiteren Rechtsgang des Strafverfahrens fortzusetzen ist.
Wenn die Revisionswerberin ausführt, dies könne ‑ wie im vorliegenden Fall ‑ im Einzelfall zu unbilligen Ergebnissen führen, ist sie darauf zu verweisen, dass es auch unter Zugrundelegung ihrer rechtlichen Argumentation vereinzelt zu einem für den Verfahrenshelfer nachteiligen Ergebnissen kommen könnte (etwa dann, wenn beide Verfahrensgänge eines Strafverfahrens innerhalb eines Jahres ab dem ersten Verhandlungstag stattfänden und der Schwellenwert von zehn Verhandlungstagen bzw. 50 Verhandlungsstunden zwar zusammen, nicht aber für jeden einzelnen Verfahrensgang überschritten würde). Bei dieser Ausgangslage ist nicht zu erkennen, dass gleichheitsrechtliche Erwägungen im gegenständlichen Fall zu einem anderen Ergebnis führen müssten.
24 Die Revision war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.
25 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 20. September 2022
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)
