VwGH Ra 2020/01/0074

VwGHRa 2020/01/007412.12.2022

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer und die Hofräte Dr. Kleiser sowie Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Röder, über die Revision der A E in W, vertreten durch Dr. Mehmet Saim Akagündüz, Rechtsanwalt in 1170 Wien, Ottakringer Straße 54/Top 3.2, gegen das am 28. Oktober 2019 mündlich verkündete und am 5. Dezember 2019 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien, Zl. VGW‑152/071/7287/2019‑9, betreffend Staatsbürgerschaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Wiener Landesregierung), den Beschluss gefasst:

Normen

StbG 1985 §27 Abs1
VwRallg

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020010074.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis stellte das Verwaltungsgericht Wien (Verwaltungsgericht) in der Sache gemäß § 39 und § 42 Abs. 3 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 (StbG) fest, dass die Revisionswerberin spätestens mit Wirkung vom 30. April 2018 die österreichische Staatsbürgerschaft gemäß § 27 Abs. 1 StbG durch den Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit verloren hat und sie nicht österreichische Staatsbürgerin ist (Spruchpunkt I.). Eine Revision wurde nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG für unzulässig erklärt (Spruchpunkt II.).

2 Begründend führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, der in der Türkei geborenen Revisionswerberin sei von der belangten Behörde mit Wirkung vom 8. April 1994 die österreichische Staatsbürgerschaft durch Erstreckung verliehen worden. Mit „Entlassungsurkunde entsprechend dem Ministerratsbeschluss“ vom 2. Dezember 1994, ausgestellt am 12. Mai 1995, sei die Revisionswerberin „endgültig aus dem türkischen Staatsverband entlassen“ worden. Die Revisionswerberin habe die türkische Staatsangehörigkeit nach Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft auf ihren Antrag wieder erworben und sei „am Stichtag für die Eintragung in das Wählerverzeichnis, dem 30.04.2018, türkische Staatsangehörige“ gewesen.

Am 18. Mai 2017 habe ein näher bezeichneter Wiener Landtagsklub einen Datenträger an ein Mitglied der Wiener Landesregierung übermittelt, auf dem sich mehrere Listen befunden hätten. Es habe der Verdacht bestanden, „dass es sich bei diesen Listen um türkische Wählerervidenzlisten“ gehandelt habe. Unter anderem habe sich darauf auch ein Datensatz befunden, der sich augenscheinlich auf die Revisionswerberin bezogen habe. Aufgrund dessen habe die belangte Behörde ein Verfahren gemäß § 42 Abs. 3 StbG zur Feststellung der Staatsbürgerschaft der Revisionswerberin eingeleitet.

3 In weiterer Folge führte das Verwaltungsgericht auf das Wesentliche zusammengefasst aus, die übermittelten Listen stellten nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (Verweis auf VfGH 11.12.2018, E 3717/2018) für die Zwecke des § 27 Abs. 1 StbG kein taugliches Beweismittel dar.

Anders verhalte es sich „bei der per Internet durchgeführten Abfrage der von der Hohen Wahlkommission der Türkei zur Verfügung gestellten Wählerevidenz.“ Eine solche Abfrage sei der belangten Behörde „über die offizielle Homepage der hohen Wahlkommission ([...])“ am 25. Mai 2018 möglich gewesen. Im Gegensatz „zur übermittelten Liste“ stünden hier die Authentizität und Herkunft der abgefragten Daten fest. Da die Eintragung in das Wählerverzeichnis die türkische Staatsangehörigkeit voraussetze, werde davon ausgegangen, dass die Revisionsweberin diese Voraussetzung „zumindest am Stichtag ‑ dem 30.04.2018 ‑ erfüllt“ habe und daher die türkische Staatsangehörigkeit nach dem Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft wieder erworben habe.

4 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, damit lägen die Voraussetzungen des § 27 Abs. 1 StbG vor. Die Richtigkeit der Eintragung in das Auslandswählerverzeichnis habe nicht widerlegt werden können.

Zur Verhältnismäßigkeitsprüfung nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) vom 12. März 2019, C‑221/17, Tjebbes u.a., führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, der Revisionswerberin stehe die neuerliche Beantragung der österreichischen Staatsbürgerschaft offen. Darüber hinaus käme „überdies ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen vor dem Hintergrund des Art. 8 EMRK nach dem Asylgesetz in Betracht.“ Außerdem sei davon auszugehen, dass die Revisionswerberin „als türkische Staatsangehörige unter das Assoziationsabkommen EWG‑Türkei“ falle. Der ex‑lege Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft erweise sich somit vor allem vor dem Hintergrund der freiwillig getroffenen positiven Willenserklärung der Revisionswerberin als verhältnismäßig.

Die Unzulässigkeit der Revision begründete das Verwaltungsgericht damit, dass die gegenständliche Entscheidung weder von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweiche noch es an einer solchen Rechtsprechung fehle. Weiters sei die dazu vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch sonst lägen keine Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Die belangte Behörde beantragte in ihrer nach Einleitung des Vorverfahrens erstatteten Revisionsbeantwortung die Abweisung der Revision.

6 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

7 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, mit Beschluss zurückzuweisen.

8 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

9 In der (alleine maßgeblichen) Zulässigkeitsbegründung der vorliegenden Revision werden keine Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung aufgezeigt:

10 Soweit die Revision insoweit rügt, zur Frage der Zulässigkeit der Feststellung des Zeitpunktes des Verlustes der österreichischen Staatsbürgerschaft durch die Verwendung der Wortfolge „spätestens mit Wirkung vom“ fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, ist auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, nach welcher der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft nach § 27 Abs. 1 StbG zu einem näher bezeichneten Zeitpunkt festzustellen ist. Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits festgehalten, vor diesem Hintergrund ist eine Wortfolge „spätestens mit Wirkung vom“ dahin auszulegen, dass der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft nach § 27 Abs. 1 StbG mit dem genannten Zeitpunkt festgestellt wird (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 12.3.2020, Ra 2019/01/0484; 17.12.2021, Ra 2019/01/0381, Rn. 18, mwN).

11 Die Revision behauptet weiter, das Verwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des EuGH und des Verwaltungsgerichtshofes zur gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung (nach dem Urteil des EuGH 12.3.2019, C‑221/17, Tjebbes u.a.) abgewichen. Das Verwaltungsgericht habe zwar eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt, jedoch liege „mangels Unschlüssigkeit“ der Beweiswürdigung und der mangelnden Begründung der tatsächlichen Folgen des Verlustes der österreichischen Staatsbürgerschaft eine krasse Fehlbeurteilung vor, welche zu einer unvertretbaren einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung geführt habe. Aus diesem Grund liege eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung hinsichtlich der Beweiswürdigung vor.

Zu der nach der Rechtsprechung des EuGH vom 12. März 2019 in der Rechtssache C‑221/17, Tjebbes u.a., unionsrechtlich gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung und deren Kriterien als eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung kann gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz iVm Abs. 9 VwGG auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, aus jüngerer Zeit etwa auf den Beschluss vom 1. September 2021, Ra 2021/01/0250, mwN, verwiesen werden.

Diese Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist auch nach dem jüngst ergangenen Urteil EuGH vom 18. Jänner 2022 in der Rechtssache C‑118/20, JY, weiterhin maßgeblich (vgl. VwGH 10.2.2022, Ra 2021/01/0356).

12 Im Übrigen wenden sich die genannten Revisionsausführungen im Wesentlichen gegen die zur Feststellung nach § 27 StbG führende Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts:

In diesem Zusammenhang ist zunächst auf den mit § 45 Abs. 2 AVG normierten Grundsatz der freien Beweiswürdigung hinzuweisen, wonach die Behörde bzw. iVm § 17 VwGVG das Verwaltungsgericht bei der Beweiswürdigung nicht an feste Beweisregeln gebunden ist, sondern den Wert der aufgenommenen Beweise nach bestem Wissen und Gewissen nach deren innerem Wahrheitsgehalt zu beurteilen hat (vgl. VwGH 4.5.2022, Ra 2020/01/0076, mwN).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes soll sich das Revisionsmodell nach dem Willen des Verfassungsgesetzgebers an der Revision nach den §§ 500 ff ZPO orientieren (vgl. ErläutRV 1618 BlgNR 24. GP  16). Ausgehend davon ist der Verwaltungsgerichtshof als Rechtsinstanz tätig, zur Überprüfung der Beweiswürdigung ist er im Allgemeinen nicht berufen. Auch kann einer Rechtsfrage nur dann grundsätzliche Bedeutung zukommen, wenn sie über den konkreten Einzelfall hinaus Bedeutung besitzt. Eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. zu § 27 StbG etwa VwGH 21.3.2022, Ra 2022/01/0065, mwN).

Derartiges zeigt die Revision nicht auf (vgl. insbesondere zur „Wählerabfrage“ über die offizielle Homepage der Hohen Wahlkommission der Türkei als tauglichem Beweismittel wiederum VwGH 12.3.2020, Ra 2019/01/0484; erneut 21.3.2022, Ra 2022/01/0065, jeweils mwN).

13 In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

14 Von der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 1 VwGG abgesehen werden.

Wien, am 12. Dezember 2022

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte