VwGH Ra 2019/01/0381

VwGHRa 2019/01/038117.12.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision der A M in L, vertreten durch Dr. Mehmet Saim Akagündüz, Rechtsanwalt in 1170 Wien, Ottakringer Straße 54/Top 3.2, gegen das am 26. März 2019 mündlich verkündete und am 5. April 2019 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien, Zl. VGW‑153/089/1459/2019‑13, betreffend Staatsbürgerschaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Wiener Landesregierung), zu Recht erkannt:

Normen

EURallg
StbG 1985 §27 Abs1
StbG 1985 §28 Abs1
VwRallg
12010M004 EUV Art4 Abs3
62004CJ0292 Meilicke VORAB
62017CJ0221 Tjebbes VORAB

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2019010381.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Das Land Wien hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis bestätigte das Verwaltungsgericht Wien (Verwaltungsgericht) ‑ im Beschwerdeverfahren, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung und unter Fassung eines mit diesem Erkenntnis verbundenen, für das Revisionsverfahren nicht relevanten Beschlusses ‑ den angefochtenen Bescheid der belangten Behörde, wonach die Revisionswerberin die österreichische Staatsbürgerschaft gemäß § 27 Abs. 1 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 (StbG) durch den Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit verloren habe, mit der Maßgabe, dass der Eintritt des Verlusts „zu einem unbekannten, jedenfalls aber nach dem 05.05.1995, und vor dem 20.06.2018 liegenden Zeitpunkt“ erfolgt sei. Eine Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG wurde für unzulässig erklärt.

2 Begründend führte das Verwaltungsgericht aus, der in der Türkei geborenen Revisionswerberin sei mit Bescheid der belangten Behörde vom 10. Jänner 1995 die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen worden. Mit „Entlassungsurkunde“ vom 2. Dezember 1994, ausgestellt am 5. Mai 1995, sei die Revisionswerberin „endgültig aus dem türkischen Staatsverband entlassen“ worden. Die Revisionswerberin habe in der Folge nach Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft die türkische Staatsbürgerschaft „durch eine darauf gerichtete entsprechende Willenserklärung (Antrag, Erklärung, ausdrückliche Zustimmung) wieder erworben.“

3 Mit Schreiben vom 18. Oktober 2018 habe die belangte Behörde der Revisionswerberin mitgeteilt, dass sie davon ausgehe, dass diese zu einem unbekannten Zeitpunkt, jedoch spätestens mit Wirkung vom 18. Mai 2017, die österreichische Staatsbürgerschaft durch den Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit gemäß § 27 StbG verloren habe.

4 Beweiswürdigend führte das Verwaltungsgericht auf das Wesentliche zusammengefasst aus, die übermittelten Listen stellten nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (Verweis auf VfGH 11.12.2018, E 3717/2018) für die Zwecke des § 27 Abs. 1 StbG kein taugliches Beweismittel dar.

5 Es sei jedoch ein anderes Beweismittel hervorgekommen. So sei die Revisionswerberin nach dem (im Verwaltungsakt befindlichen) Auszug aus dem Auslandswählerverzeichnis der Hohen Wahlkommission der Türkei (https://secmen.ysk.gov.tr/ysk ) am 20. Juni 2018 in diesem Verzeichnis eingetragen gewesen. Ein solcher Auszug stelle ein geeignetes Beweismittel für die Annahme dar, „dass diese Personen türkische Staatsbürger sind, weil nur türkische Staatsangehörige wahlberechtigt sind.“ Für die Wiederannahme der türkischen Staatsbürgerschaft durch die Revisionswerberin spreche auch, dass sie im Auszug aus dem online abrufbaren Auslandswählerverzeichnis mit dem ehelichen Nachnamen M eingetragen gewesen sei, während sie mit ihrem „vorehelichen“ Nachnamen U aus der türkischen Staatsbürgerschaft entlassen worden sei.

6 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, damit lägen die Voraussetzungen des § 27 Abs. 1 StbG vor. Die Richtigkeit der Eintragung in das Auslandswählerverzeichnis habe nicht widerlegt werden können.

7 Dagegen erhob die Revisionswerberin sowohl die gegenständliche außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof als auch Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof (VfGH) gemäß Art. 144 Abs. 1 B‑VG.

8 Der VfGH lehnte mit Beschluss vom 26. Juni 2019, E 2283/2019‑5, die Behandlung der Beschwerde mit nachstehender Begründung ab:

„Die vorliegende Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (Art. 2 StGG, Art. 7 Abs. 1 B‑VG). Nach den Beschwerdebehauptungen wären diese Rechtsverletzungen aber zum erheblichen Teil nur die Folge einer ‑ allenfalls grob ‑ unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen, insbesondere der Frage, ob das Verwaltungsgericht Wien die Feststellung, dass die Beschwerdeführerin die türkische Staatsangehörigkeit wiedererworben hat, zu Recht auf einen von der Staatsbürgerschaftsbehörde eingesehenen Eintrag in ein von der Hohen Wahlkommission der Türkei online zur Verfügung gestelltes Wählerverzeichnis stützt, insoweit nicht anzustellen.

Soweit die Beschwerde aber insofern verfassungsrechtliche Fragen berührt, als im Hinblick auf Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH 12.3.2019, Rs. C‑221/17 , Tjebbes ua.) zu einer gebotenen Einzelfallprüfung der Folgen eines mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit einhergehenden Verlusts der Unionsbürgerschaft ein Verstoß der die angefochtene Entscheidung tragenden Rechtsvorschrift des § 27 Abs. 1 StbG gegen Art 8 EMRK behauptet wird, lässt ihr Vorbringen angesichts dessen, dass § 27 Abs. 1 StbG den Verlust der Staatsbürgerschaft nur dann an den Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit knüpft, wenn diese auf Initiative des Betroffenen erworben wird, und § 28 StbG die Möglichkeit eröffnet, die Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft trotz Annahme einer fremden Staatsangehörigkeit aus besonders berücksichtigungswürdigen Gründen des Privat- und Familienlebens zu beantragen (vgl. VfGH 17.6.2019, E 1832/2019), vor dem Hintergrund der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (VfGH 11.12.2018, E 3717/2018; siehe auch bereits VfSlg. 19.765/2013 und 19.766/2013 zu der inhaltlich deckungsgleichen Regelung des § 27 Abs. 1 StbG 1965) die behauptete Rechtsverletzung, die Verletzung in einem anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht oder die Verletzung in einem sonstigen Recht wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes als so wenig wahrscheinlich erkennen, dass sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. Es ist daher im Lichte des Art. 8 EMRK und des Gleichheitsgrundsatzes nicht zu beanstanden, wenn § 27 Abs. 1 StbG bei (Wieder-)Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit für den Fall, dass der Betroffene die ihm eingeräumte Möglichkeit zur Beibehaltung der (österreichischen) Staatsbürgerschaft nicht wahrnimmt, davon ausgeht, dass die öffentlichen Interessen an der Vermeidung mehrfacher Staatsangehörigkeiten überwiegen.“

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision nach Durchführung eines Vorverfahrens, in dem keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

9 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit unter anderem auf das Wesentliche zusammengefasst vor, das Verwaltungsgericht habe entgegen der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) vom 12. März 2019, C‑221/17 , Tjebbes u.a., keine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt.

10 Die Revision ist zulässig; sie ist auch begründet.

11 Auch wenn das angefochtene Erkenntnis vor der genannten Entscheidung des EuGH erlassen wurde, so ist auf den Grundsatz zu verweisen, dass die unmittelbare Anwendung und den Vorrang von unionsrechtlichen Bestimmungen sowohl die Gerichte als auch die Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten zu beachten haben. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH ist jedes im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene nationale Gericht als Organ eines Mitgliedstaates verpflichtet, in Anwendung des in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatzes der Zusammenarbeit das unmittelbar geltende Unionsrecht anzuwenden und die Rechte, die es dem Einzelnen verleiht, zu schützen (vgl. VwGH 29.9.2021, Ra 2019/01/0350, mwN und mit Hinweis auf EuGH 6.3.2007, C‑292/04 , Meilicke u.a. [Rn. 34]).

12 Von diesen Grundsätzen ausgehend genügt es auf die mittlerweile ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhältnismäßigkeitsprüfung nach der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache C‑221/17 , Tjebbes u.a., hinzuweisen (vgl. VwGH 18.2.2020, Ra 2020/01/0022; 12.3.2020, Ra 2019/01/0484 [ebenfalls einen Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit betreffend]). Nach dieser erfordert eine solche unionsrechtlich gebotene Prüfung eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalles durchgeführte Gesamtbetrachtung. Bei einer solchen Gesamtbetrachtung wird jedoch regelmäßig der vom VfGH aus verfassungsrechtlicher Sicht angeführte Umstand, dass der Betroffene die ihm eingeräumte Möglichkeit zur Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft (nach § 28 Abs. 1 StbG) nicht wahrgenommen hat, von maßgeblicher Bedeutung sein. Dieser Umstand entbindet das Verwaltungsgericht aber nicht von der unionsrechtlich gebotenen Gesamtbetrachtung, ob fallbezogen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass die Rücknahme der österreichischen Staatsbürgerschaft ausnahmsweise unverhältnismäßig ist (vgl. wiederum VwGH 29.9.2021, Ra 2019/01/0350, mwN [ebenfalls einen Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit betreffend]).

13 Dies bedeutet, dass das Unionsrecht dem ex lege eintretenden Verlust der Staatsbürgerschaft nach § 27 Abs. 1 StbG nur bei Vorliegen besonders gewichtiger bzw. außergewöhnlicher Umstände (des Privat‑ und Familienlebens des Betroffenen) entgegensteht (vgl. neuerlich VwGH 29.9.2021, Ra 2019/01/0350).

14 Eine Gesamtbetrachtung im oben genannten Sinn wurde im angefochtenen Erkenntnis nicht vorgenommen.

15 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

16 Von der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 5 VwGG abgesehen werden.

17 Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

18 Für das fortgesetzte Verfahren wird auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hingewiesen, nach welcher der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft nach § 27 Abs. 1 StbG zu einem näher bezeichneten Zeitpunkt festzustellen ist (vgl. etwa VwGH 20.5.2020, Ra 2019/01/0383, mwN). Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits festgehalten, vor diesem Hintergrund ist eine Wortfolge „spätestens mit Wirkung vom“ dahin auszulegen, dass der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft nach § 27 Abs. 1 StbG mit dem genannten Zeitpunkt festgestellt wird (vgl. VwGH 12.3.2020, Ra 2019/01/0484, Rn. 45).

Wien, am 17. Dezember 2021

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