VwGH Ra 2020/19/0052

VwGHRa 2020/19/005212.3.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser, die Hofräte Dr. Pürgy, Mag. Stickler und Dr. Faber sowie die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. Jänner 2020, L516 2162455‑2/3E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: S A alias A), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §10 Abs6 idF 2009/I/122
AsylG 2005 §12a
AsylG 2005 §12a Abs2 Z1
AsylG 2005 §12a Abs6
AsylG 2005 §75 Abs23
FrPolG 2005 §52
FrPolG 2005 §52 Abs8
FrPolG 2005 §53
FrPolG 2005 §61
FrPolG 2005 §66
FrPolG 2005 §67
FrPolG 2005 §69 Abs1
VwRallg

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020190052.L00

 

Spruch:

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte stellte am 10. November 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Mit Erkenntnis vom 12. April 2018 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) diesen Antrag ‑ im Rechtsmittelweg ‑ als unbegründet ab, erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Pakistan zulässig sei.

3 Nach seiner Überstellung aus Deutschland, wo er sich zwischenzeitlich aufgehalten hatte, stellte der Mitbeteiligte am 6. Dezember 2019 in Österreich den gegenständlichen Folgeantrag auf internationalen Schutz.

4 Mit am 30. Dezember 2019 mündlich verkündetem Bescheid hob das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 den faktischen Abschiebeschutz des Mitbeteiligten auf. Begründend führte das BFA aus, der Mitbeteiligte habe zwischenzeitlich zwar das Bundesgebiet nach Deutschland verlassen bzw. seien 18 Monate seit dieser Ausreise vergangen, er habe jedoch nicht die Europäische Union verlassen. Der Folgeantrag werde voraussichtlich wegen entschiedener Sache zurückzuweisen sein, da der Mitbeteiligte keine neuen Fluchtgründe vorgebracht habe. Ihm drohe bei einer Rückkehr nach Pakistan auch keine Verletzung seiner Rechte iSd. § 12a Abs. 2 Z 3 AsylG 2005.

5 Mit dem angefochtenen Beschluss sprach das BVwG aus, dass die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 nicht rechtmäßig sei und hob den Bescheid des BFA vom 30. Dezember 2019 auf. Unter einem sprach das BVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

6 Begründend führte das BVwG aus, Rückkehrentscheidungen blieben gemäß § 12a Abs. 6 AsylG 2005 für 18 Monate ab der Ausreise des Fremden aufrecht. Im vorliegenden Fall sei die Ausreise des Mitbeteiligten aus dem Bundesgebiet spätestens am 16. April 2018 erfolgt, da er an diesem Tag einen Asylantrag in Deutschland gestellt habe. Gemäß § 2 Abs. 4 Z 2a FPG werde der Begriff „Ausreise“ als das Verlassen des Bundesgebietes definiert. Auf das Verlassen der Europäischen Union komme es, entgegen der Ansicht des BFA, für den Beginn der 18‑monatigen Frist nicht an. Zum Zeitpunkt der mündlichen Verkündung des Bescheides des BFA vom 30. Dezember 2019 über die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes seien bereits mehr als 18 Monate ab der Ausreise des Mitbeteiligten vergangen, sodass keine aufrechte Rückkehrentscheidung bestanden habe. Die Voraussetzung des § 12a Abs. 2 Z 1 AsylG 2005 sei daher nicht vorgelegen, weswegen die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes nicht rechtmäßig gewesen sei.

7 Gegen diesen Beschluss richtet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision.

8 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, erwogen:

9 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, es fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, was unter einer „Ausreise“ iSd. § 12a Abs. 6 AsylG 2005 zu verstehen sei. Gemäß § 2 Abs. 4 Z 2a FPG bedeute der Begriff „Ausreise“ das Verlassen des Bundesgebietes. Dabei handle es sich aber nicht um eine Legaldefinition des AsylG 2005, sondern um eine solche des FPG. Für den Bereich der Rückkehrentscheidung gehe dieser Definition die Bestimmung des § 52 Abs. 8 FPG (Art. 3 Z 3 Richtlinie 2008/115/EG ) vor. Unter einer „Ausreise“ iSd. § 12a Abs. 6 AsylG 2005 sei die Erfüllung des jeweiligen Ausreisebefehls zu verstehen, welcher sich je nach aufenthaltsbeendender Maßnahme unterscheide. Eine Rückkehrentscheidung verpflichte zur Ausreise aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten in einen Drittstaat. Mit der unrechtmäßigen Weiterreise in einen anderen Mitgliedstaat komme ein Drittstaatsangehöriger seiner sich aus der Rückkehrentscheidung ergebenden Ausreiseverpflichtung nicht nach. Indem das Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall den Ausreisebegriff des § 2 Abs. 4 Z 2a FPG und nicht jenen des § 52 Abs. 8 FPG herangezogen habe, weiche es überdies von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab.

10 Die Revision ist im Sinne dieses Vorbringens zulässig. Sie ist auch begründet.

11 § 12a Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100 in der hier maßgeblichen Fassung BGBl. I Nr. 145/2017, lautet auszugsweise:

Faktischer Abschiebeschutz bei Folgeanträgen

§ 12a. ...

(2) Hat der Fremde einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) gestellt und liegt kein Fall des Abs. 1 vor, kann das Bundesamt den faktischen Abschiebeschutz des Fremden aufheben, wenn

1. gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG besteht,

2. der Antrag voraussichtlich zurückzuweisen ist, weil keine entscheidungswesentliche Änderung des maßgeblichen Sachverhalts eingetreten ist, und

3. die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung keine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2, 3 oder 8 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten und für ihn als Zivilperson keine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

...

(6) Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 FPG bleiben 18 Monate ab der Ausreise des Fremden aufrecht, es sei denn es wurde ein darüber hinausgehender Zeitraum gemäß § 53 Abs. 2 und 3 FPG festgesetzt. Anordnungen zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, Ausweisungen gemäß § 66 FPG und Aufenthaltsverbote gemäß § 67 FPG bleiben 18 Monate ab der Ausreise des Fremden aufrecht. Dies gilt nicht für Aufenthaltsverbote gemäß § 67 FPG, die über einen darüber hinausgehenden Zeitraum festgesetzt wurden.“

12 Das Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100 in der hier maßgeblichen Fassung BGBl. I Nr. 110/2019, lautet auszugsweise:

Begriffsbestimmungen

§ 2. ...

(4) Im Sinn dieses Bundesgesetzes ist

...

2a. Ausreise: das Verlassen des Bundesgebietes;

...

8. Hauptstück

Aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen Fremde

1. Abschnitt

Aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen Drittstaatsangehörige

Rückkehrentscheidung

§ 52. ...

(2) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn

...

2. dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,

...

und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

...

(8) Die Rückkehrentscheidung wird im Fall des § 16 Abs. 4 BFA‑VG oder mit Eintritt der Rechtskraft durchsetzbar und verpflichtet den Drittstaatsangehörigen zur unverzüglichen Ausreise in dessen Herkunftsstaat, ein Transitland gemäß unionsrechtlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder einen anderen Drittstaat, sofern ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht eingeräumt wurde. Liegt ein Fall des § 55a vor, so wird die Rückkehrentscheidung mit dem Ablauf der Frist für die freiwillige Ausreise durchsetzbar. Im Falle einer Beschwerde gegen eine Rückkehrentscheidung ist § 28 Abs. 2 Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz ‑ VwGVG), BGBl. I Nr. 33/2013 auch dann anzuwenden, wenn er sich zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung nicht mehr im Bundesgebiet aufhält.

(9) Mit der Rückkehrentscheidung ist gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.

...“

13 Gemäß § 12a Abs. 2 Z 1 AsylG 2005 ist eine Voraussetzung für die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes eines Fremden, der einen Folgeantrag gestellt hat und für den die Abs. 1 und 3 des § 12a AsylG 2005 nicht zur Anwendung gelangen, dass gegen ihn eine (rechtskräftige; vgl. VwGH 19.11.2020, Ra 2020/21/0041) Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG oder eine andere aufenthaltsbeendende Maßnahme nach dem 8. Hauptstück des FPG „besteht“.

14 Eine solche Maßnahme besteht jedenfalls solange, bis der Fremde ausgereist ist. Reist der Fremde aus, bleibt die aufenthaltsbeendende Maßnahme ungeachtet seiner Ausreise für die in § 12a Abs. 6 AsylG 2005 festgelegte Frist aufrecht. Die aufenthaltsbeendende Maßnahme wird also durch die Ausreise nicht konsumiert (vgl. RV 330 BlgNR XXIV. GP , 10 zur Vorgängerbestimmung des § 10 Abs. 6 AsylG 2005 in der Fassung des FrÄG 2009, BGBl. I Nr. 122; VwGH 30.7.2015, Ra 2014/22/0131, zur Übergangsbestimmung des § 75 Abs. 23 AsylG 2005; vgl. hingegen zu ‑ im Folgenden außer Betracht bleibenden ‑ Ausweisungen gemäß § 66 FPG das hg. Erkenntnis vom 5. Februar 2021, Ra 2020/21/0412, wonach Ausweisungen bei Verlassen des Bundesgebietes gemäß § 69 Abs. 1 FPG gegenstandslos werden und die Anordnung des § 12a Abs. 6 zweiter Satz AsylG 2005 schon aus unionsrechtlichen Erwägungen zurückzutreten hat). Der Beginn dieser Frist wird in § 12a Abs. 6 AsylG 2005 für alle aufenthaltsbeendenden Maßnahmen einheitlich mit dem Zeitpunkt der „Ausreise“ des Fremden bestimmt, ohne dass spezifiziert würde, auf welchen räumlichen Bereich sich die Ausreise bezieht.

15 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes verpflichtet eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG den Drittstaatsangehörigen zur Ausreise in dessen Herkunftsstaat, ein Transitland oder einen anderen Drittstaat; ein mit einer Rückkehrentscheidung erlassenes Einreiseverbot gemäß § 53 FPG enthält die normative Anordnung, für den festgelegten Zeitraum nicht in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen. Hingegen beinhaltet die Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG einen Ausreisebefehl in einen Mitgliedstaat des EWR‑Abkommens oder die Schweiz; ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG verpflichtet „nur“ zum Verlassen und zum Verbleib außerhalb des Bundesgebietes (vgl. VwGH 24.3.2015, Ra 2015/21/0004; 14.11.2017, Ra 2017/21/0151).

16 § 12a Abs. 6 AsylG 2005 knüpft schon seinem Wortlaut nach an dieses, sich aus den einschlägigen Bestimmungen des FPG ergebende Verständnis der jeweiligen aufenthaltsbeendenden Maßnahme an („Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 FPG ..., etc.“). Es gibt keinen Hinweis dafür, dass dieser Bestimmung in Bezug auf den Inhalt der Ausreiseverpflichtung einer ‑ im Revisionsfall einschlägigen ‑ Rückkehrentscheidung ein anderes Verständnis zu Grunde liegen sollte als jenes, welches sich aus § 52 Abs. 8 FPG ergibt. Auch der Kontext des § 12a AsylG 2005, welcher in seinen Abs. 1 bis 4 Regelungen über den faktischen Abschiebeschutz bei Folgeanträgen enthält, gibt keinen Anlass für ein anderes Verständnis (vgl. auch Filzwieser et al, Asyl- und Fremdenrecht, 2016, § 12a AsylG 2005 K3, wonach § 12a Abs. 6 AsylG 2005 an systematisch nicht passender Stelle eine allgemeine Regelung über die Weitergeltung von Rückkehrentscheidungen und aufenthaltsbeendenden Maßnahmen trotz Ausreise enthält).

17 Im Revisionsfall ist unstrittig, dass der Mitbeteiligte nach der Abweisung seines ersten Antrages auf internationalen Schutz durch das Erkenntnis des BVwG vom 12. April 2018, welche mit einer Rückkehrentscheidung verbunden war, zwar nach Deutschland gereist ist, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten jedoch nicht verlassen hat. Folglich hatte die 18‑monatige Frist des § 12a Abs. 6 erster Satz AsylG 2005 noch nicht zu laufen begonnen.

18 Hingegen legte das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung zu Unrecht die Auffassung zu Grunde, diese Frist habe bereits mit dem Verlassen des Bundesgebietes nach Deutschland zu laufen begonnen, und gelangte ausgehend davon zur Annahme, dass die Frist bereits abgelaufen sei und gegen den Mitbeteiligten keine Rückkehrentscheidung iSd. § 12a Abs. 2 Z 1 AsylG 2005 mehr bestehe.

19 Der angefochtene Beschluss war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 12. März 2021

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