VwGH Ro 2018/16/0040

VwGHRo 2018/16/004024.6.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Mairinger und die Hofräte Dr. Thoma und Mag. Straßegger sowie die Hofrätinnen Dr. Reinbacher und Dr. Funk‑Leisch als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Galli, LL.M., über die Revision des damaligen Finanzamts Wien 3/6/7/11/15 Schwechat Gerasdorf (nunmehr Finanzamt Österreich) gegen das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts vom 6. Juni 2018, Zl. RV/7100050/2016, betreffend Familienbeihilfe für Jänner bis Oktober 2012 (mitbeteiligte Partei: C S in W), zu Recht erkannt:

Normen

EURallg
FamLAG 1967 §2 Abs1
FamLAG 1967 §2 Abs2
FamLAG 1967 §5 Abs3
32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit
32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art67
32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art68
32009R0987 Koordinierung Soziale Sicherheit DV Art60 Abs1
62014CJ0378 Trapkowski VORAB
62018CJ0032 Moser VORAB

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RO2018160040.J00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis sprach das Bundesfinanzgericht über eine Beschwerde des Mitbeteiligten ab, welche sich gegen einen Bescheid des damaligen Finanzamts Wien 3/6/7/11/15 Schwechat Gerasdorf richtete, mit dem ein Antrag des Mitbeteiligten vom 19. Jänner 2015 auf Gewährung der „Familienbeihilfe/Differenzzahlung“ für dessen Sohn AS u.a. für die Monate Jänner bis Oktober 2012 abgewiesen worden war. Der Spruch des angefochtenen Erkenntnisses lautet:

„I. Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der angefochtene Bescheid wird gemäß § 279 BAO abgeändert, dass sein Spruch zu lauten hat:

Es wird gemäß § 92 BAO i.V.m. §§ 10, 13 FLAG 1967 und Art. 60 Abs. 1 Satz 3 VO 987/2009 festgestellt,

1. dass ein Anspruch des Vaters [Mitbeteiligter; Anschrift] auf Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag oder auf Ausgleichszahlung betreffend Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag für den in 1996 geborenen [AS] für den Zeitraum Jänner bis Oktober 2012 nicht besteht,

2. dass der Antrag des Vaters [Mitbeteiligter] vom 19.1.2015 auf Ausgleichszahlung für den 1996 geborenen [AS] als derartiger Antrag zugunsten der Mutter [WS] zu berücksichtigen ist,

III. Gegen dieses Erkenntnis ist eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG zulässig.“

2 Der Vater CS (der Mitbeteiligte), die Mutter WS und deren Sohn AS seien polnische Staatsbürger. Der Mitbeteiligte habe im Streitzeitraum in Österreich gearbeitet und eine Wohnung in W sowie eine Wohnung in L, Polen, gehabt. Rund einen Kilometer von der Wohnung des Vaters entfernt befinde sich die Wohnung der Mutter WS in L, Polen. In der Wohnung der Mutter habe im Streitzeitraum der damals in L, Polen, eine Schule besuchende Sohn AS gewohnt. Der Sohn habe im Streitzeitraum dem Haushalt der Mutter angehört. Ungefähr jedes zweite Wochenende sei der Vater (der Mitbeteiligte) in seine Wohnung nach Polen zurückgekehrt. An diesen Wochenenden habe der Sohn bei seinem Vater gewohnt. Der Sohn habe auch seinen Vater in den Ferien in W besucht. Der Vater habe für seinen Sohn Unterhalt geleistet. Die Mutter WS sei im Streitzeitraum arbeitslos gewesen.

3 Gemäß § 2 Abs. 2 FLAG gehe ein Anspruch des haushaltsführenden Elternteils einem solchen des im Wege des Geldunterhalts den überwiegenden Unterhalt finanzierenden Elternteils vor. Das Bundesfinanzgericht habe in einer Reihe näher zitierter Entscheidungen aus den Jahren 2015 bis 2018 bei mitgliedstaatsübergreifenden Sachverhalten den Vorrang des haushaltsführenden Elternteils, auch wenn dieser in einem anderen Mitgliedstaat wohne, gegenüber dem nicht haushaltsführenden oder bloß Geldunterhalt leistenden Elternteil betont.

4 Der Verwaltungsgerichtshof habe in mehreren näher zitierten Erkenntnissen aus den Jahren 2009 bis 2012 unmittelbar nach dem Urteil des EuGH vom 26. November 2009, C‑363/08, Romana Slanina, die Ansicht vertreten, einer in einem anderen Mitgliedstaat der Union im gemeinsamen Haushalt mit dem Kind lebenden Unionsbürgerin (oder in der Schweiz lebenden Schweizer Bürgerin) stehe nach nationalem Recht die Bestimmung des § 2 Abs. 1 FLAG entgegen, denn Personen hätten nur dann einen Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn sie im Bundesgebiet einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hätten, weshalb § 2 Abs. 2 zweiter Satz FLAG anzuwenden sei. Diese Auffassung sei spätestens seit den Urteilen des EuGH vom 11. September 2014, C‑394/13, B, und vom 22. Oktober 2015, C‑378/14, Tomislaw Trapkowski, als überholt anzusehen. Der Verwaltungsgerichthof habe klargestellt, dass im Anwendungsbereich des Unionsrechts die Wohnortklauseln des FLAG nicht anzuwenden seien (Hinweis auf VwGH 22.11.2016, Ro 2014/16/0067).

5 Die nach Art. 67 VO 883/2004 iVm Art. 60 Abs. 1 zweiter Satz VO 987/2009 vorzunehmende Fiktion bewirke, dass die Wohnsituation auf Grundlage der im Streitzeitraum im anderen EU‑Mitgliedstaat gegebenen Verhältnisse (fiktiv) ins Inland übertragen würde. Diese Fiktion führe dazu, dass der Anspruch auf Familienleistungen des Beschäftigungsmitgliedstaats nicht dem im für Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaat, sondern dem im anderen Staat der EU lebenden Elternteil zustehe, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen habe.

6 Da im Revisionsfall der Sohn dem Haushalt der Mutter angehört habe, die im Streitzeitraum getrennt vom Vater des Kindes gelebt habe, habe die Mutter gemäß § 2 Abs. 2 erster Satz FLAG vorrangigen Anspruch auf Familienbeihilfe. Es könne dabei dahingestellt bleiben, ob vom Vater im Streitzeitraum ‑ wie vom Finanzamt bestritten ‑ tatsächlich die überwiegenden Unterhaltskosten getragen worden seien.

7 Im Revisionsfall habe gemäß Art. 60 Abs. 1 dritter Satz VO 987/2009 das Finanzamt den vom Vater gestellten Antrag, soweit diesem ein Anspruch der haushaltsführenden Mutter vorgehe, zugunsten des Anspruchs der Mutter auf Familienbeihilfe zu berücksichtigen gehabt.

8 Es sei zwar die Beschwerde des Vaters abzuweisen, der Antrag des Vaters sei aber nicht abzuweisen, sondern als Antrag zugunsten der Mutter zu berücksichtigen. Da der Antrag zugunsten der Mutter wirke, komme ein endgültiger Abspruch über diesen Antrag vorerst nicht in Frage.

9 Es sei daher gemäß § 92 BAO iVm §§ 10, 13 FLAG und Art. 60 Abs. 1 dritter Satz VO 987/2009 festzustellen, dass einerseits ein Anspruch des Vaters (des Mitbeteiligten) auf Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag oder auf Ausgleichszahlung betreffend Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag für den 1996 geborenen AS für den Zeitraum Jänner bis Oktober 2012 nicht bestehe, sowie andererseits der Antrag des Vaters (des Mitbeteiligten) vom 19. Jänner 2015 auf Ausgleichszahlung für den 1996 geborenen AS als derartiger Antrag zugunsten der Mutter WS zu berücksichtigen sei.

10 Die Zulässigkeit der Revision begründete das Bundesfinanzgericht mit den von der näher zitierten Judikatur des Bundesfinanzgerichts unterschiedlich (und vom Verwaltungsgerichtshof noch nicht) beantworteten Fragen, ob ein Anspruch der in einem anderen Mitgliedstaat haushaltsführenden Mutter dem Anspruch eines in Österreich erwerbstätigen Vaters vorgehe und ob bei Abweisung eines Antrags eines Familienangehörigen auf Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag anstelle eines Abweisungsbescheids ein Feststellungsbescheid zu erlassen sei, wenn dieser Antrag nach Art. 60 Abs. 1 dritter Satz VO 987/2009 als Antrag eines anderen, bisher am Verfahren nicht beteiligten Familienangehörigen zu berücksichtigen sei.

11 Die vom damaligen Finanzamt Wien 3/6/7/11/15 Schwechat Gerasdorf dagegen erhobene Revision legte das Bundesfinanzgericht unter Anschluss der Akten des Verfahrens ‑ Revisionsbeantwortungen seien keine eingebracht worden ‑ dem Verwaltungsgerichtshof vor.

12 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

13 § 2 Abs. 1 lit. a des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967 (FLAG) lautet:

„§ 2. (1) Anspruch auf Familienbeihilfe haben Personen, die im Bundesgebiet einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben,

a) für minderjährige Kinder,“

14 § 2 Abs. 2 FLAG lautet:

„(2) Anspruch auf Familienbeihilfe für ein im Abs. 1 genanntes Kind hat die Person, zu deren Haushalt das Kind gehört. Eine Person, zu deren Haushalt das Kind nicht gehört, die jedoch die Unterhaltskosten für das Kind überwiegend trägt, hat dann Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn keine andere Person nach dem ersten Satz anspruchsberechtigt ist.“

15 Gemäß § 5 Abs. 3 FLAG besteht kein Anspruch auf Familienbeihilfe für Kinder, die sich ständig im Ausland aufhalten.

16 Im Titel I (Allgemeine Bestimmungen) der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl. L 166 vom 30. April 2004, in der Fassung der Berichtigung ABl. L 200 vom 7. Juni 2004, (im Folgenden VO 883/2004 ) lautet der Art. 7 samt Überschrift:

„Artikel 7

Aufhebung der Wohnortklauseln

Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, dürfen Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten oder nach dieser Verordnung zu zahlen sind, nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt bzw. wohnen, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat.“

17 Im Titel II (Bestimmung des anwendbaren Rechts) der VO 883/2004 lautet der Art. 11 Abs. 1 bis 3 samt Überschrift:

„Artikel 11

Allgemeine Regelung

(1) Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel.

(2) Für die Zwecke dieses Titels wird bei Personen, die aufgrund oder infolge ihrer Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit eine Geldleistung beziehen, davon ausgegangen, dass sie diese Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben. Dies gilt nicht für Invaliditäts-, Alters- oder Hinterbliebenenrenten oder für Renten bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten oder für Geldleistungen bei Krankheit, die eine Behandlung von unbegrenzter Dauer abdecken.

(3) Vorbehaltlich der Artikel 12 bis 16 gilt Folgendes:

a) eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats;

b) ein Beamter unterliegt den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, dem die ihn beschäftigende Verwaltungseinheit angehört;

c) eine Person, die nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats Leistungen bei Arbeitslosigkeit gemäß Artikel 65 erhält, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats;

d) eine zum Wehr- oder Zivildienst eines Mitgliedstaats einberufene oder wiedereinberufene Person unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats;

e) jede andere Person, die nicht unter die Buchstaben a) bis d) fällt, unterliegt unbeschadet anders lautender Bestimmungen dieser Verordnung, nach denen ihr Leistungen aufgrund der Rechtsvorschriften eines oder mehrerer anderer Mitgliedstaaten zustehen, den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats.“

18 Im Titel III (Besondere Bestimmungen über die verschiedenen Arten von Leistungen) Kapitel 8 (Familienleistungen) der VO 883/2004 lauten die Art. 67 und 68 jeweils samt Überschrift:

„Artikel 67

Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen

Eine Person hat auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Ein Rentner hat jedoch Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des für die Rentengewährung zuständigen Mitgliedstaats.

Artikel 68

Prioritätsregeln bei Zusammentreffen von Ansprüchen

(1) Sind für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren, so gelten folgende Prioritätsregeln:

a) Sind Leistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus unterschiedlichen Gründen zu gewähren, so gilt folgende Rangfolge: an erster Stelle stehen die durch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgelösten Ansprüche, darauf folgen die durch den Bezug einer Rente ausgelösten Ansprüche und schließlich die durch den Wohnort ausgelösten Ansprüche.

b) Sind Leistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus denselben Gründen zu gewähren, so richtet sich die Rangfolge nach den folgenden subsidiären Kriterien:

i) bei Ansprüchen, die durch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgelöst werden: der Wohnort der Kinder, unter der Voraussetzung, dass dort eine solche Tätigkeit ausgeübt wird, und subsidiär gegebenenfalls die nach den widerstreitenden Rechtsvorschriften zu gewährende höchste Leistung. Im letztgenannten Fall werden die Kosten für die Leistungen nach in der Durchführungsverordnung festgelegten Kriterien aufgeteilt;

ii) bei Ansprüchen, die durch den Bezug einer Rente ausgelöst werden: der Wohnort der Kinder, unter der Voraussetzung, dass nach diesen Rechtsvorschriften eine Rente geschuldet wird, und subsidiär gegebenenfalls die längste Dauer der nach den widerstreitenden Rechtsvorschriften zurückgelegten Versicherungs- oder Wohnzeiten;

iii) bei Ansprüchen, die durch den Wohnort ausgelöst werden: der Wohnort der Kinder.

(2) Bei Zusammentreffen von Ansprüchen werden die Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften gewährt, die nach Absatz 1 Vorrang haben. Ansprüche auf Familienleistungen nach anderen widerstreitenden Rechtsvorschriften werden bis zur Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags ausgesetzt; erforderlichenfalls ist ein Unterschiedsbetrag in Höhe des darüber hinausgehenden Betrags der Leistungen zu gewähren. Ein derartiger Unterschiedsbetrag muss jedoch nicht für Kinder gewährt werden, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, wenn der entsprechende Leistungsanspruch ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst wird.

(3) Wird nach Artikel 67 beim zuständigen Träger eines Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften gelten, aber nach den Prioritätsregeln der Absätze 1 und 2 des vorliegenden Artikels nachrangig sind, ein Antrag auf Familienleistungen gestellt, so gilt Folgendes:

a) Dieser Träger leitet den Antrag unverzüglich an den zuständigen Träger des Mitgliedstaats weiter, dessen Rechtsvorschriften vorrangig gelten, teilt dies der betroffenen Person mit und zahlt unbeschadet der Bestimmungen der Durchführungsverordnung über die vorläufige Gewährung von Leistungen erforderlichenfalls den in Absatz 2 genannten Unterschiedsbetrag;

b) der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften vorrangig gelten, bearbeitet den Antrag, als ob er direkt bei ihm gestellt worden wäre; der Tag der Einreichung des Antrags beim ersten Träger gilt als der Tag der Einreichung bei dem Träger, der vorrangig zuständig ist.“

19 Im Titel III (Besondere Vorschriften über die verschiedenen Arten von Leistungen) Kapitel VI (Familienleistungen) der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABL. L 284 vom 30. Oktober 2009, (im Folgenden: VO 987/2009 ) lautet der Art. 60 samt Überschrift auszugsweise:

„Artikel 60

Verfahren bei der Anwendung von Artikel 67 und 68 der Grundverordnung

(1) Die Familienleistungen werden bei dem zuständigen Träger beantragt. Bei der Anwendung von Artikel 67 und 68 der Grundverordnung ist, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen. Nimmt eine Person, die berechtigt ist, Anspruch auf die Leistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahr, berücksichtigt der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften anzuwenden sind, einen Antrag auf Familienleistungen, der von dem anderen Elternteil, einer als Elternteil behandelten Person oder von der Person oder Institution, die als Vormund des Kindes oder der Kinder handelt, gestellt wird.“

20 Im Revisionsfall unterlag der Mitbeteiligte für den Streitzeitraum den Rechtsvorschriften Österreichs, weil er hier unstrittig eine Beschäftigung ausübte (Art. 11 Abs. 3 Buchstabe a der VO 883/2004 ).

21 Damit besteht ein Anspruch für den im Streitzeitraum noch minderjährigen Sohn des Mitbeteiligten (§ 2 Abs. 1 lit. a FLAG). Die Bestimmung des § 5 Abs. 3 FLAG wird für den in Polen lebenden Sohn des Mitbeteiligten durch die Bestimmung des § 53 Abs. 1 zweiter Satz FLAG iVm Art. 67 der VO 883/2004 verdrängt.

22 Die Mutter des Sohns des Mitbeteiligten unterlag im Streitzeitraum den Rechtsvorschriften Polens (Art. 11 Abs. 3 Buchstabe e, allenfalls Buchstabe c der VO 883/2004 ).

23 Strittig ist im Revisionsfall die Wirkung der in Art. 60 Abs. 1 zweiter Satz der VO 987/2009 aufgestellten Fiktion.

24 Dieser Artikel ist dahin auszulegen, dass er sowohl in dem Fall, dass die Leistung gemäß den als vorrangig bestimmten Rechtsvorschriften gewährt wird, als auch in jenem Fall, dass sie nach den Rechtsvorschriften eines nachrangig zuständigen Mitgliedstaats in Form eines Unterschiedsbetrags ausbezahlt wird, Anwendung findet (EuGH 18.9.2019, C‑32/18, Michael Moser, Rn 45).

25 Ob nach polnischen Rechtsvorschriften überhaupt ein Anspruch auf vergleichbare Familienleistungen für den Sohn des Mitbeteiligten bestand und ob zutreffendenfalls bei Anwendung der Prioritätsregeln des Art. 68 der VO 883/2004 die österreichischen Rechtsvorschriften Vorrang haben, ist für den Revisionsfall demnach nicht ausschlaggebend.

26 Zum Familienbeihilfenanspruch eines in Österreich Beschäftigten oder selbständig Erwerbstätigen, dessen Kind in einem anderen Mitgliedstaat wohnt und zu dessen Haushalt es nicht gehört, hat der Verwaltungsgerichtshof bereits zur Vorgängerregelung der VO 883/2004 darauf abgestellt, ob der in Österreich lebende Elternteil die Unterhaltskosten für das in einem anderen Mitgliedstaat wohnende Kind überwiegend trägt (vgl. etwa VwGH 24.2.2010, 2009/13/0240; VwGH 24.2.2010, 2009/13/0241; VwGH 24.2.2010, 2009/13/0243; VwGH 19.4.2007, 2004/15/0049, VwSlg 8225/F).

27 Zu vergleichbaren Konstellationen hat der Verwaltungsgerichtshof im Anwendungsbereich der VO 883/2004 einen Anspruch des in einem anderen Mitgliedstaat im gemeinsamen Haushalt mit dem Kind wohnenden Elternteils dann verneint, wenn der in Österreich eine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausübende Elternteil, zu dessen Haushalt das Kind nicht gehört, die Unterhaltskosten für das Kind überwiegend trägt (vgl. VwGH 22.11.2016, Ro 2014/16/0067; VwGH 27.9.2012, 2012/16/0135).

28 Das Bundesfinanzgericht weicht von dieser Rechtsprechung unter Berufung auf die Judikatur des EuGH (EuGH 22.10.2015, C‑378/14, Tomislaw Trapkowski) ab und verneint einen Anspruch des Mitbeteiligten auf Familienbeihilfe, weil dessen Sohn im gemeinsamen Haushalt der Mutter in Polen gelebt hat. Deshalb stehe gemäß § 2 Abs. 2 erster Satz FLAG der Mutter die Familienbeihilfe zu. Dem in 2 Abs. 1 FLAG normierten Erfordernis eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes im Bundesgebiet hält das Bundesfinanzgericht den Anwendungsvorrang des Art. 60 Abs. 1 zweiter Satz der VO 987/2009 entgegen.

29 Demgegenüber hat der Verwaltungsgerichtshof bereits ausgesprochen, dass seine Rechtsprechung auch nicht durch die vom Bundesfinanzgericht im angefochtenen Erkenntnis herangezogene Rechtsprechung des EuGH (EuGH 22.10.2015, C‑378/14, Tomislaw Trapkowski) überholt ist (vgl. VwGH 12.11.2019, Ra 2019/16/0133).

30 Der vom Bundesfinanzgericht erwähnte Anwendungsvorrang des Art. 60 Abs. 1 zweiter Satz der VO 987/2009 gebietet das vom Bundesfinanzgericht gefundene Ergebnis nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes nicht.

31 Denn nationales Recht, das in einer konkreten Konstellation im Widerspruch zu unmittelbar anwendbarem Unionsrecht steht, wird für diese Konstellation verdrängt. Nationales Recht bleibt insoweit unangewendet, als ein Verstoß gegen unmittelbar anwendbares Unionsrecht gegeben ist. Die Verdrängungswirkung des Unionsrechts hat zur Folge, dass die nationale gesetzliche Regelung in jener Gestalt anwendbar bleibt, in der sie nicht mehr im Widerspruch zum Unionsrecht steht. Die Verdrängung erreicht dabei bloß jenes Ausmaß, das gerade noch hinreicht, um einen unionsrechtskonformen Zustand herbeizuführen (vgl. VwGH 19.3.2013, 2010/15/0065, VwSlg 8795/F; und VwGH 17.4 2008, 2008/15/0064, VwSlg 8332/F).

32 Lässt das Unionsrecht für eine bestimmte Konstellation mehrere Lösungen zu, ist es Aufgabe des Gesetzgebers, innerhalb des vom Unionsrecht vorgegebenen Rahmens eine nationale Regelung zu normieren. Solange der Gesetzgeber diese Entscheidung nicht getroffen hat, und soweit dem Unionsrecht unmittelbare Anwendbarkeit zukommt, muss der Rechtsanwender eine „bereinigte Rechtslage“ zur Anwendung bringen. Bestehen mehrere gleichwertige unionsrechtskonforme Lösungen, hat der Rechtsanwender nicht ein freies Wahlrecht, sondern hat jene Lösung zur Anwendung zu bringen, mit welcher materiell am wenigsten in das nationale Recht eingegriffen wird. Soweit als möglich ist die normative Anordnung des nationalen Gesetzgebers aufrechtzuerhalten (vgl. abermals VwGH 19.3.2013, 2010/15/0065, VwSlg 8795/F; und VwGH 25.10.2011, 2011/15/0070, VwSlg 8674/F, mwN).

33 Art. 67 der VO 883/2004 soll es den Wandererwerbstätigen erleichtern, Familienbeihilfen in ihrem Beschäftigungsstaat zu erlangen, wenn ihre Familie ihnen nicht in diesen Staat gefolgt ist, und soll insbesondere verhindern, dass ein Mitgliedstaat die Gewährung oder die Höhe von Familienleistungen davon abhängig machen kann, dass die Familienangehörigen des Erwerbstätigen in dem Mitgliedstaat wohnen, in dem die Leistungen erbracht werden (EuGH 18.9.2019, C‑32/18, Michael Moser, Rn 36).

34 In dem vom Bundesfinanzgericht erwähnten Urteil hat der EuGH lediglich ausgesprochen, Art. 60 Abs. 1 zweiter Satz der VO 987/2009 sei dahin auszulegen, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Fiktion dazu führen kann, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind, was von dem vorlegenden Gericht zu prüfen ist (EuGH 22.10.2015, C‑378/14, Tomislaw Trapkowski, Rn 39 bis 41).

35 Später hat der EuGH ausgesprochen, dass die in Art. 60 Abs. 1 zweiter Satz der VO 987/2009 vorgesehene Fiktion dazu führt, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind (EuGH 18.9.2019, C‑32/18, Michael Moser, Rn 44).

36 Der EuGH hat auch klargestellt, dass die VO 987/2009 und die VO 883/2004 nicht bestimmen, welche Personen Anspruch auf Familienleistungen haben, auch wenn sie die Regeln festlegen, nach denen diese Personen bestimmt werden können. Welche Personen Anspruch auf Familienleistungen haben, bestimmt sich nämlich, wie aus Art. 67 der VO 883/2004 klar hervorgeht, nach dem nationalen Recht (EuGH 22.10.2015, C‑378/14, Tomislaw Trapkowski, Rn 43 und 44).

37 Dergestalt besteht gemäß § 2 Abs. 2 zweiter Satz FLAG der Anspruch auf Familienbeihilfe des Elternteils, welcher im Bundesgebiet wohnt und die Unterhaltskosten des Kindes überwiegend trägt, wenn der andere Elternteil, zu dessen Haushalt das Kind gehört, im Bundesgebiet weder Wohnsitz noch gewöhnlichen Aufenthalt hat und somit die Voraussetzung des § 2 Abs. 1 FLAG nicht erfüllt. Insoweit bedarf es einer Verdrängung der nationalen Bestimmung des Wohnsitzerfordernisses in § 2 Abs. 1 FLAG durch Art. 60 Abs. 1 zweiter Satz der VO 987/2009 nicht, um den Anspruch für das Kind zu begründen.

38 Erst wenn der in Österreich wohnhafte Elternteil die Unterhaltskosten für das Kind nicht überwiegend trägt und deshalb aus § 2 Abs. 2 zweiter Satz FLAG keinen Anspruch ableiten kann, und auch sonst nach nationalem Recht keine andere Person in Betracht käme, greift die Verdrängung des Wohnsitzerfordernisses in § 2 Abs. 1 FLAG für einen in § 2 Abs. 2 erster Satz FLAG genannten Anspruchsberechtigten.

39 So hat der Verwaltungsgerichtshof mangels Tragung der überwiegenden Unterhaltskosten des in Österreich lebenden Vaters (§ 2 Abs. 2 zweiter Satz FLAG) auch einem in einem anderen Mitgliedstaat wohnenden Kind (einer Halbwaise) in einem solchen Fall einen sogenannten Eigenanspruch zuerkannt und das Erfordernis eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts im Bundesgebiet nach § 6 Abs. 5 iVm § 6 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 FLAG verdrängt gesehen (VwGH 11.12.2019, Ro 2017/16/0003).

40 Das Bundesfinanzgericht hat demgegenüber das in § 2 Abs. 1 FLAG aufgestellte Erfordernis eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts der nach § 2 Abs. 2 erster Satz FLAG in Betracht kommenden, in Polen lebenden Mutter des Sohns des Mitbeteiligten von vorneherein verdrängt gesehen und deshalb deren Anspruch auf Familienbeihilfe angenommen. Dementsprechend hat das Bundesfinanzgericht lediglich erwähnt, dass der Mitbeteiligte Unterhalt geleistet hat, hat aber keine Feststellungen getroffen, aus denen zu entnehmen wäre, ob der Mitbeteiligte die Unterhaltskosten für seinen Sohn überwiegend getragen hat oder nicht.

41 Dieser aus einer unzutreffenden Rechtsansicht herrührende Feststellungsmangel (sekundärer Verfahrensfehler) führt zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit des angefochtenen Erkenntnisses. Daran ändert auch die Zitierung von Entscheidungen des deutschen Bundesfinanzhofes nichts, ist doch die oben dargestellte Verdrängungswirkung des Unionsrechts im Hinblick auf das nationale Recht zu beurteilen, welches in den Mitgliedstaaten unterschiedliche Regelungen aufweist.

42 Bei diesem Ergebnis erübrigt es sich, auf die zweite zur Zulässigkeit der Revision angeführte Rechtsfrage im Zusammenhang mit der Erlassung eines Feststellungsbescheids einzugehen.

43 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 24. Juni 2021

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