VwGH Ro 2017/16/0003

VwGHRo 2017/16/000311.12.2019

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zorn und den Hofrat Dr. Mairinger sowie die Hofrätin Dr. Reinbacher als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Galli, LL.M., über die Revision des Finanzamts Waldviertel in 3500 Krems an der Donau, Rechte Kremszeile 58, gegen das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts vom 14. September 2016, Zl. RV/7104471/2015, betreffend Familienbeihilfe ab Oktober 2013 (mitbeteiligte Partei: A T in B, Deutschland, vertreten durch Mag. Norbert Abel, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Stubenring 18), zu Recht erkannt:

Normen

FamLAG 1967 §2 Abs3
FamLAG 1967 §6 Abs1 lita
FamLAG 1967 §6 Abs5
32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art1 liti
32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art11
32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art12
32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art13
32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art14
32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art15
32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art16
32009R0987 Koordinierung Soziale Sicherheit DV Art60 Abs1
62014CJ0378 Trapkowski VORAB

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RO2017160003.J00

 

Spruch:

Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.

Begründung

1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 14. September 2016 gab das Bundesfinanzgericht der Beschwerde der Mitbeteiligten gegen den Bescheid des Finanzamts vom 31. Oktober 2014, mit dem ihr Antrag auf Familienbeihilfe ab Oktober 2013 abgewiesen worden war, Folge und hob den Abweisungsbescheid vom 31. Oktober 2014 auf. 2 Das Bundesfinanzgericht führte - soweit hier wesentlich - aus, die Mitbeteiligte sei deutsche Staatsbürgerin und lebe in Deutschland, wo sie seit Oktober 2013 studiere. Die Mutter der Mitbeteiligten sei 2007 verstorben. Seit 1. September 2012 lebe die Mitbeteiligte, die bei Pflegeeltern aufgewachsen sei, in einem eigenen Haushalt. Der Vater der Mitbeteiligten sei deutscher Staatsbürger. Er lebe in Österreich und sei in Österreich unselbständig erwerbstätig. Er leiste keinen Unterhalt an die Mitbeteiligte. Zwischen Vater und Tochter gebe es keinen Kontakt. Es bestehe ein gerichtliches Kontaktverbot.

3 Nach erfolgloser Beantragung des Kindergelds in Deutschland habe die Mitbeteiligte in Österreich einen Antrag auf Familienbeihilfe ab Oktober 2013 gestellt.

4 Dieser Antrag sei mit Bescheid des Finanzamts vom 31. Oktober 2014 abgewiesen worden, da die Mitbeteiligte abverlangte Unterlagen nicht beigebracht habe.

5 Dagegen habe die Mitbeteiligte Beschwerde erhoben und diverse Unterlagen vorgelegt.

6 Mit Beschwerdevorentscheidung vom 2. April 2015 habe das Finanzamt die Beschwerde der Mitbeteiligten abgewiesen und ausgeführt, die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 regle bei grenzüberschreitenden Sachverhalten welcher Mitgliedstaat vorrangig zur Zahlung der Familienleistungen zuständig sei. Bestehe zwischen einem Kind und dessen leiblichen Eltern kein Naheverhältnis in Form eines gemeinsamen Haushalts oder einer überwiegenden Kostentragung seien die leiblichen Eltern (als Anknüpfungspunkt) außer Betracht zu lassen, sodass in Österreich kein Anspruch der Mitbeteiligten auf Familienbeihilfe bestehe. 7 Mit Vorlageantrag vom 13. Mai 2015 habe die Mitbeteiligte die Entscheidung über die Beschwerde durch das Bundesfinanzgericht beantragt.

8 Rechtlich führte das Bundesfinanzgericht aus, primär anspruchsberechtigt auf Gewährung der Familienbeihilfe sei grundsätzlich der in Österreich wohnhafte und berufstätige Kindesvater. Voraussetzung dafür sei jedoch, dass entweder eine gemeinsame Haushaltsführung vorliege oder überwiegend Unterhalt geleistet werde. Da im revisionsgegenständlichen Fall unbestrittenermaßen keine dieser beiden Voraussetzungen erfüllt sei, stehe der Mitbeteiligten bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen ein Eigenanspruch auf Familienbeihilfe nach § 6 Abs. 5 FLAG 1967 zu. Da sich die Mitbeteiligte, wie sich aus den vorgelegten Unterlagen ergebe, im Streitzeitraum in Berufsausbildung befunden habe, seien die Voraussetzungen für das Vorliegen eines Eigenanspruchs auf Familienbeihilfe erfüllt. 9 Eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof erklärte das Bundesfinanzgericht für zulässig, weil Rechtsprechung zur Frage fehle, ob in einem Fall, in dem der in Österreich wohnhafte, berufstätige Kindesvater keine Unterhaltsleistungen erbringe, der in einem anderen EU-Mitgliedstaat lebenden, studierenden Tochter ein Anspruch auf Familienbeihilfe zustehe.

 

10 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die ordentliche Revision des Finanzamts in einem nach § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

11 Die Revision ist zulässig, aber nicht begründet.

12 Im Revisionsfall ist ausschließlich strittig, ob der Mitbeteiligten ein Eigenanspruch auf Familienbeihilfe nach § 6 Abs. 5 FLAG 1967 zusteht, obwohl sie - entgegen dem in § 6 Abs. 1 lit. a leg. cit. normierten Erfordernis - im Inland weder ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. 13 Nach den Feststellungen des Bundesfinanzgerichts ist der Vater der Mitbeteiligten in Österreich wohnhaft und erwerbstätig. Damit unterliegt er gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl. EU Nr. L 166 vom 30. April 2004, in der Fassung der Berichtigung ABl. EU Nr. L 200 vom 7. Juni 2004 (im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004 ), den österreichischen Rechtsvorschriften.

14 Nach Art. 67 erster Satz der Verordnung Nr. 883/2004 besteht auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, ein Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnten. 15 Art. 60 Abs. 1 zweiter Satz der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl. EU Nr. L 284 vom 30. Oktober 2009 (im Folgenden: Durchführungsverordnung Nr. 987/2009), normiert, dass bei Anwendung von Art. 67 und 68 der Verordnung Nr. 883/2004 , insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen ist, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fielen und dort wohnten.

16 Die in Art. 60 Abs. 1 zweiter Satz der Durchführungsverordnung Nr. 987/2009 vorgesehene Fiktion kann somit dazu führen, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind (EuGH 22.10.2015, C-378/14 , Trapkowski, Rn. 38 und 41).

17 Zu den "beteiligten Personen" iSd Art. 60 Abs. 1 zweiter Satz der Durchführungsverordnung Nr. 987/2009 gehören die "Familienangehörigen" iSd Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i der Verordnung Nr. 883/2004 . Auch wenn das FLAG 1967 keine Legaldefinition des Begriffs "Familienangehöriger" enthält, kann in diesem Zusammenhang § 2 Abs. 3 FLAG 1967 herangezogen werden (vgl. etwa VwGH 27.9.2012, 2012/16/0054, VwSlg 8754/F). 18 Daher zählt auch die Mitbeteiligte, unabhängig davon, dass sie nicht mit ihrem Vater im gemeinsamen Haushalt wohnt und dieser nicht die überwiegenden Unterhaltskosten trägt, zu den "beteiligten Personen" iSd Art. 60 Abs. 1 zweiter Satz der Durchführungsverordnung Nr. 987/2009 für die ein Inlandswohnsitz fingiert wird. Das Erfordernis eines besonderen "Naheverhältnisses" ist - entgegen der in der Amtsrevision vertretenen Ansicht - aus Art. 1 Buchst. i oder Art. 11 bis 16 der Verordnung Nr. 883/2004 nicht ableitbar.

19 Damit erfüllt die Mitbeteiligte aber, über Vermittlung durch die Erwerbstätigkeit ihres Vaters in Österreich, auch das für den Eigenanspruch auf Familienbeihilfe nach § 6 Abs. 5 FLAG 1967 durch den Verweis auf § 6 Abs. 1 lit. a leg. cit. normierte Wohnsitzerfordernis.

20 Die Revision war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

Wien, am 11. Dezember 2019

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