European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020140432.L00
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 9. Oktober 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005, den er im Wesentlichen damit begründete, dass die Sicherheitslage in seiner Herkunftsprovinz schlecht sei und er aus Angst vor den Taliban nicht mehr die Schule habe besuchen können.
2 Mit Bescheid vom 12. September 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag zur Gänze ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde mit vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.
3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 30. März 2020 nach Durchführung einer Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
4 Begründend führte es unter anderem aus, dass der Revisionswerber eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft machen habe können. Eine Rückkehr in seine Heimatprovinz Nangarhar würde ihn zwar aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage der realen Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK aussetzen, jedoch bestehe für den Revisionswerber eine innerstaatliche Fluchtalternative in Mazar-e Sharif und Herat. Der Eingriff in das Privat- und Familienleben des Revisionswerbers nach Art. 8 EMRK durch die Rückkehrentscheidung sei auf Grund des Überwiegens öffentlicher Interessen gerechtfertigt.
5 Mit Beschluss vom 14. Juli 2020, E 1788/2020-7, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der gegen dieses Erkenntnis gerichteten Beschwerde ab und trat diese dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab. In der Folge wurde die gegenständliche Revision eingebracht.
6 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
7 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.
8 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
9 Zu ihrer Zulässigkeit bringt die Revision vor, das Bundesverwaltungsgericht habe sich nicht mit der Befürchtung des Revisionswerbers befasst, von aufständischen Kräften zwangsrekrutiert zu werden und es daher unterlassen, Länderinformationen zu Zwangsrekrutierungen in der Herkunftsprovinz des Revisionswerbers einzuholen. Das Bundesverwaltungsgericht habe sich zudem nicht mit der Frage auseinandergesetzt, welche Auswirkungen die Ausbreitung der COVID-19-Pandemie auf die sozioökonomische und gesundheitliche Situation in Afghanistan habe. Der Revisionswerber zähle als junger Erwachsener - anders als in Österreich - zu einer Gruppe besonders von SARS‑CoV‑2 gesundheitlich gefährdeter Menschen. Die im Erkenntnis als innerstaatliche Fluchtalternative angenommenen Städte Mazar-e Sharif und Herat seien dem Revisionswerber völlig fremd und er verfüge in beiden Städten über kein familiäres oder soziales Netzwerk. Bei der Interessenabwägung im Hinblick auf Art. 8 EMRK habe das Bundesverwaltungsgericht auf die Umstände des Einzelfalls nichts ausreichend Bedacht genommen.
10 Werden Verfahrensmängel als Zulassungsgründe ins Treffen geführt, so muss auch schon in der abgesonderten Zulässigkeitsbegründung die Relevanz dieser Verfahrensmängel, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, dargetan werden. Dies setzt voraus, dass - auch in der gesonderten Begründung für die Zulässigkeit der Revision zumindest auf das Wesentliche zusammengefasst - jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des Verfahrensfehlers als erwiesen ergeben hätten (vgl. VwGH 6.8.2020, Ra 2020/20/0248, mwN).
11 Soweit die Revision Ermittlungsmängel darin erblickt, dass keine Länderinformationen zur Gefahr von Zwangsrekrutierungen in der Provinz Nangarhar, der Heimatprovinz des Revisionswerbers, berücksichtigt worden seien, fehlt es diesbezüglich schon deshalb an Relevanz für den Verfahrensausgang, weil das Bundesverwaltungsgericht den Revisionswerber gerade nicht auf eine Rückkehr in seine Heimatprovinz verweist, sondern eine innerstaatliche Fluchtalternative annimmt.
12 Das Bundesverwaltungsgericht hat sich im vorliegenden Fall mit der COVID‑19‑Pandemie in Afghanistan bzw. den Auswirkungen auf die konkrete Lage des Revisionswerbers bei einer Rückkehr auseinandergesetzt. Soweit die Revision eine Unvollständigkeit der Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts hinsichtlich der Auswirkungen der Pandemie behauptet, vermag sie eine Relevanz des damit geltend gemachten Ermittlungsmangels nicht aufzuzeigen.
13 Zunächst handelt es sich beim Revisionswerber unstrittig um einen 20-jährigen, gesunden jungen Mann. Warum ein solcher - anders als in Österreich - zu einer Gruppe besonders von SARS-CoV-2 gesundheitlich gefährdeten Menschen gehören soll, legt die Revision nicht nachvollziehbar dar.
14 Der Verwaltungsgerichtshof verweist auf die ständige Judikatur des EGMR, wonach es - abgesehen von Abschiebungen in Staaten, in denen die allgemeine Situation so schwerwiegend ist, dass die Rückführung eines abgelehnten Asylwerbers dorthin eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde - grundsätzlich der abschiebungsgefährdeten Person obliegt, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos nachzuweisen, dass ihr im Fall der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK ist nicht ausreichend (vgl. etwa VwGH 27.7.2020, Ra 2020/01/0130; 12.12.2019, Ra 2019/01/0243; 30.9.2019, Ra 2018/01/0068; jeweils mwN).
15 Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für sich betrachtet allerdings nicht aus, um die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu verneinen (vgl. VwGH 3.7.2020, Ra 2020/14/0255; 24.6.2020, Ra 2019/20/0412; mwN).
16 Davon ausgehend zeigt die Revision mit ihrem Vorbringen zu der durch die COVID-19-Pandemie bedingten schwierigen wirtschaftlichen Lage - der Revisionswerber verweist auf steigende Lebensmittelpreise, den „Lockdown“ sowie den eingeschränkten Flugverkehr und die fehlende Möglichkeit, Arbeit und Wohnraum zu finden - nicht auf, dass dem arbeitsfähigen Revisionswerber die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht zumutbar wäre (vgl. abermals VwGH 27.7.2020, Ra 2020/01/0130, mwN sowie VwGH 2.7.2020, Ra 2020/20/0212; 1.7.2020, Ra 2020/14/0266; 23.6.2020, Ra 2020/20/0188; jeweils mwN).
17 Soweit der Revisionswerber zur Zumutbarkeit seiner Ansiedlung in Mazar-e Sharif oder Herat vorbringt, ihm seien diese Städte völlig fremd, er wäre zunächst auf sich allein gestellt und könne von familiärer Seite keinerlei Unterstützung erwarten, ist er darauf zu verweisen, dass nach der aktuellen Berichtslage weder EASO noch UNHCR von der jedenfalls bestehenden Notwendigkeit der Existenz eines sozialen Netzwerkes in Mazar-e Sharif für einen - wie hier - alleinstehenden, gesunden, erwachsenen Mann ohne besondere Vulnerabilität für die Verfügbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative ausgehen. Es entspricht zudem der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass allein die Tatsache, dass ein Asylwerber in seinem Herkunftsstaat über keine familiären Kontakte verfüge, die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht hindere (vgl. jeweils VwGH 11.8.2020, Ra 2020/14/0347, mwN).
18 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG (vgl. VwGH 11.8.2020, Ra 2020/14/0347, mwN).
19 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. etwa VwGH 12.8.2020, Ra 2020/14/0322, mwN).
20 Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt (vgl. etwa VwGH 5.8.2020, Ra 2020/14/0103 bis 0106, mwN). Liegt - wie im gegenständlichen Fall - eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vor, so wird nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes regelmäßig erwartet, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären (vgl. VwGH 30.7.2020, Ra 2020/20/0130, mwN).
21 Das Bundesverwaltungsgericht setzte sich im gegenständlichen Fall umfassend mit den Integrationsbemühungen und -erfolgen des Revisionswerbers auseinander und kam zu dem Ergebnis, dass eine tiefgreifende und stark verfestigte Integration nicht vorliege, er seine Integrationsschritte im Wissen des unsicheren Aufenthaltes gesetzt habe und die Rückkehrentscheidung daher keinen unverhältnismäßigen Eingriff in das Privatleben darstelle. Ausgehend davon kann auch unter Einbeziehung des Revisionsvorbringens, das einzelne Aspekte besonders hervorhebt, keine derartige Verdichtung seiner persönlichen Interessen erkannt werden, dass bereits von „außergewöhnlichen Umständen“ gesprochen werden könnte und sich die Interessenabwägung als unvertretbar erweisen würde. Dass sich das Bundesverwaltungsgericht mit seiner Beurteilung von den dargestellten Leitlinien des Verwaltungsgerichtshofes in unvertretbarer Weise entfernt hätte, wird von der Revision also nicht dargetan.
22 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.
Wien, am 7. Oktober 2020
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