VwGH Ra 2018/01/0068

VwGHRa 2018/01/006830.9.2019

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Fasching als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das am 17. November 2017 verkündete (und am 2. Jänner 2018 schriftlich ausgefertigte) Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, Zl. W246 2140682-1/12E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (Mitbeteiligter: R M), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
EURallg
MRK Art2
MRK Art3
32011L0095 Status-RL Art15 litc
62007CJ0465 Elgafaji VORAB
62012CJ0285 Diakite VORAB

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018010068.L00

 

Spruch:

Das Erkenntnis wird im Umfang der Spruchpunkte A) II. und A) III. wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Begründung

1 Mit Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 10. Oktober 2016 wurde der Antrag auf internationalen Schutz des Mitbeteiligten, eines Staatsangehörigen Afghanistans, vollinhaltlich abgewiesen, kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen, die Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan festgestellt und eine Frist für die freiwillige Ausreise gesetzt.

2 Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wies die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit mündlich verkündetem Erkenntnis vom 17. November 2017 hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt A) I.), erkannte im Übrigen dem Mitbeteiligten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zu (Spruchpunkt A) II.) und erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt A) III.). Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig (Spruchpunkt B). 3 Begründend führte das BVwG zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten im Wesentlichen aus, der Mitbeteiligte, der im Alter von vier Jahren mit seiner Familie in den Iran gezogen sei, könne nicht in die Provinz Balkh, aus der er ursprünglich stamme, zurückkehren, weil ihm dort ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit drohe. Die zentral gelegene Provinz Balkh - "mit ihrer friedlichen Umgebung, historischen Denkmälern und wunderschönen Landschaft" - zähle zwar zu einer der friedlichsten und sichersten Provinzen Afghanistans, aber auch dort seien regierungsfeindliche Gruppen aktiv und fänden Kampfhandlungen statt. Das BVwG gehe daher angesichts der in dieser Provinz auftretenden Militäroperationen davon aus, dass dem Mitbeteiligten, der diese Provinz im Alter von vier Jahren verlassen habe und danach nie wieder in Afghanistan aufhältig gewesen sei, bei einer Überstellung nach Afghanistan in diese Provinz und einer Rückkehr in sein Heimatdorf die reale Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK drohen würde.

4 Die Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative des Mitbeteiligten in Kabul oder Mazar-e Sharif verneinte das BVwG mit der Begründung, der Mitbeteiligte liefe im Fall einer Ansiedlung außerhalb der Provinz Balkh Gefahr, grundlegende Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft nicht befriedigen zu können und insofern in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

5 Das BFA erhob gegen dieses Erkenntnis die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Einleitung des Vorverfahrens und Erstattung einer Revisionsbeantwortung seitens des Mitbeteiligten in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

6 Die Revision ist im Hinblick auf das im Zulässigkeitsvorbringen dargelegte Abweichen des angefochtenen Erkenntnisses von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Vorliegen einer realen Gefahr im Sinn des Art. 3 EMRK zulässig. Sie ist auch berechtigt.

7 Der Verwaltungsgerichtshof hat sich bereits wiederholt mit dem Kriterium nach § 8 Abs. 1 AsylG einer realen Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung durch eine Rückkehr nach Afghanistan auseinandergesetzt.

8 So hat der Verwaltungsgerichtshof auf die ständige Judikatur des EGMR verwiesen, wonach es - abgesehen von Abschiebungen in Staaten, in denen die allgemeine Situation so schwerwiegend ist, dass die Rückführung eines abgelehnten Asylwerbers dorthin eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde - grundsätzlich der abschiebungsgefährdeten Person obliegt, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos nachzuweisen, dass ihr im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (vgl. VwGH 23.2.2016, Ra 2015/01/0134).

9 Weiters verweist der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Judikatur auf die Rechtsprechung des EGMR, wonach die allgemeine Situation in Afghanistan nicht so gelagert sei, dass die Ausweisung dorthin automatisch gegen Art. 3 EMRK verstoßen würde (vgl. auch dazu VwGH Ra 2015/01/0134, sowie in weiterer Folge etwa VwGH 25.4.2017, Ra 2016/01/0307, 19.6.2017, Ra 2017/19/0095 und 6.11.2018, Ra 2018/01/0106, jeweils mwN; vgl. im Übrigen auch den Beschluss des deutschen Bundesverwaltungsgerichtes vom 13.2.2019, BVerwG 1 B 2.19).

10 Bei der Behandlung von Amtsrevisionen gegen die Gewährung von subsidiärem Schutz (durch das BVwG betreffend Afghanistan) hielt der Verwaltungsgerichtshof fest, dass bei Prüfung betreffend die Zuerkennung von subsidiärem Schutz eine Einzelfallprüfung vorzunehmen ist, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr ("real risk") einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK ist nicht ausreichend (vgl. VwGH 25.5.2016, Ra 2016/19/0036; dem folgend aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 23.1.2018, Ra 2017/20/0361 und auch dazu VwGH Ra 2018/01/0106, jeweils mwN).

11 Im Hinblick auf das Vorliegen einer allgemein prekären Sicherheitslage hat der Verwaltungsgerichtshof - unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung von EGMR und EuGH - zum Vorliegen eines reales Riskos iSd Art. 3 EMRK ausgesprochen, dass diese Voraussetzung nur in sehr extremen Fällen ("in the most extreme cases") erfüllt ist. In den übrigen Fällen bedarf es des Nachweises von besonderen Unterscheidungsmerkmalen ("special distinguishing features"), aufgrund derer sich die Situation des Betroffenen kritischer darstellt als für die Bevölkerung im Herkunftsstaat im Allgemeinen (vgl. VwGH 21.2.2017, Ra 2016/18/0137).

12 Der Tatbestand einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes in § 8 Abs. 1 Z 2 Asyl 2005 orientiert sich an Art. 15 lit. c der Statusrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU ) und umfasst - nach der Rechtsprechung des EuGH - eine Schadensgefahr allgemeiner Art, die sich als "willkürlich" erweist, also sich auf Personen ungeachtet ihrer persönlichen Situation erstrecken kann. Entscheidend für die Annahme einer solchen Gefährdung ist nach Auffassung des EuGH, dass der den bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson liefe bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr, einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein. Dabei ist zu beachten, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat, umso geringer sein wird, je mehr er möglicherweise zu belegen vermag, dass er aufgrund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (vgl. auch dazu VwGH Ra 2016/18/0137 sowie abermals VwGH Ra 2018/01/0106, jeweils mit umfassenden Hinweisen auf die Rechtsprechung von EGMR und EuGH).

13 Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein - im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen - höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen. In diesem Fall kann das reale Risiko der Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bereits in der Kombination der prekären Sicherheitslage und der besonderen Gefährdungsmomente für die einzelne Person begründet liegen (vgl. neuerlich VwGH Ra 2016/01/0137 sowie VwGH 25.4.2017, Ra 2017/01/0016). 14 Für den Revisionsfall ergibt sich daraus:

15 Das BVwG hat in seinen Feststellungen auf - in der Heimatprovinz des Mitbeteiligten stattfindende - "Kampfhandlungen" bzw. "Militäroperationen" hingewiesen und ist insofern offenkundig von einer allgemein prekären Sicherheitslage ausgegangen. Anhaltspunkte für das Vorliegen einer "extremen" Gefährdungslage bzw. einer "willkürlichen" Schadensgefahr für den Mitbeteiligten im Sinne der dargestellten Rechtsprechung lassen sich daraus fallbezogen aber nicht ableiten, zumal das BVwG selbst in den Länderfeststellungen auf die (relativ) friedliche Situation in der genannten Provinz verweist. Mit dem bloßen Hinweis, dass der Mitbeteiligte seine Heimatregion als Kind verlassen und seither nicht mehr dort aufhältig war, wird - unter dem Blickwinkel einer angenommenen allgemeinen prekären Sicherheitslage - auch kein in der persönlichen Lebenssituation des Mitbeteiligten begründetes besonderes Gefährdungsmoment bzw. kein relevantes Unterscheidungsmerkmal, aufgrund dessen sich seine Situation kritischer darstellen sollte als für die sonstige Bevölkerung im Herkunftsstaat, dargelegt.

16 Die reale Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK im Sinn der obigen Rechtsgrundsätze wird somit nicht dargetan. Auf die Frage der (vom BVwG verneinten) Möglichkeit einer IFA kommt es daher im Revisionsfall nicht an.

17 Das BVwG ist somit von der erwähnten hg. Rechtsprechung abgewichen und war die Entscheidung daher sowohl im Umfang des Spruchpunktes A II. als auch im Umfang des Spruchpunktes A III., weil dieser mit der Aufhebung des Spruchpunktes A II. seine rechtliche Grundlage verliert, wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 30. September 2019

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte