VwGH Ra 2020/14/0096

VwGHRa 2020/14/009623.3.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel, den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin Mag. Schindler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Schweinzer, in den Revisionssachen 1. des A, 2. der B, 3. des C, 4. der D, 5. der E, 6. der F, und 7. des G, alle vertreten durch Mag. Julian A. Motamedi, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Baumannstraße 9/12A, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts je vom 29. Jänner 2020, 1. W204 2193403- 1/19E, 2. W204 2193414-1/19E, 3. W204 2193405-1/21E,

4. W204 2193412-1/18E, 5. W204 2193411-1/20E, 6. W204 2193410- 1/15E und 7. W204 2193416-1/15E, jeweils betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Normen

AsylG 2005 §8
AsylG 2005 §8 Abs1
B-VG Art133 Abs4
MRK Art2
MRK Art3
VwGG §34 Abs1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020140096.L00

 

Spruch:

Die Revisionen werden zurückgewiesen.

Begründung

1 Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind miteinander verheiratet. Die Dritt- bis Siebentrevisionswerber sind ihre gemeinsamen in den Jahren 2000, 2001, 2002, 2009 und 2016 geborenen Kinder. Sie alle sind afghanische Staatsangehörige.

2 Die revisionswerbenden Parteien stammen aus der Provinz Parwan und stellten am 26. November 2015 Anträge auf internationalen Schutz. Für den in Österreich geborenen Siebentrevisionswerber wurde am 25. Jänner 2017 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

3 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies sämtliche Anträge mit Bescheiden vom 20. März 2018 ab, erteilte den revisionswerbenden Parteien keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und legte die Frist für die freiwillige Ausreise jeweils mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen fest.

4 Mit den angefochtenen Erkenntnissen wies das Bundesverwaltungsgericht die dagegen erhobenen Beschwerden der revisionswerbenden Parteien nach Durchführung einer Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG jeweils nicht zulässig sei.

5 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen. 7 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen. 8 Die revisionswerbenden Parteien bringen zur Zulässigkeit ihrer Revisionen im Wesentlichen vor, das Bundesverwaltungsgericht habe sich im Rahmen der Beweiswürdigung nicht in der erforderlichen Art und Weise mit der behaupteten "westlichen Orientierung" der Zweit-, Viert- und Fünftrevisionswerberinnen auseinandergesetzt. Das Bundesverwaltungsgericht habe veraltete Länderberichte herangezogen und es unterlassen, sich hinreichend mit der aktuellen Sicherheitslage in Kabul und Parwan zu befassen. Den revisionswerbenden Parteien stehe aufgrund zahlreicher Anschläge in Kabul und Umgebung keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Überdies sei das Bundesverwaltungsgericht bei der Prüfung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht auf die persönlichen Umstände der revisionswerbenden Parteien, insbesondere auf die Minderjährigkeit der Sechstrevisionswerberin und des Siebentrevisionswerbers, eingegangen. Schließlich wenden sich die revisionswerbenden Parteien im Zulässigkeitsvorbringen gegen die Interessenabwägung gemäß Art. 8 EMRK betreffend den Siebentrevisionswerber.

9 Soweit sich die Revisionen gegen die Beurteilung des Bundesverwaltungsgerichts zur Frage der westlichen Orientierung der Zweit-, Viert- und Fünftrevisionswerberinnen wenden, ist auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach nicht jede Änderung der Lebensführung einer Asylwerberin während ihres Aufenthalts in Österreich, die im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr aufrecht erhalten werden könnte, dazu führt, dass der Asylwerberin deshalb internationaler Schutz gewährt werden muss. Entscheidend ist vielmehr eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung der Asylwerberin, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte (vgl. etwa VwGH 23.1.2019, Ra 2018/18/0447 bis 0449, mwN).

10 Das Bundesverwaltungsgericht führte eine Verhandlung durch, in der es sich einen persönlichen Eindruck von der Zweit-, Viert- und Fünftrevisionswerberin verschaffen konnte. Es setzte sich mit ihren jeweils aktuellen Lebensweisen und den vorgebrachten Alltagsbeschäftigungen auseinander, würdigte das entsprechende Vorbringen und kam in einer nicht unvertretbaren Weise zum Ergebnis, dass die Revisionswerberinnen keine Lebensweise verinnerlicht hätten, aufgrund derer sie im Heimatland einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt wären. Den Revisionen gelingt es in diesem Zusammenhang nicht darzulegen, dass das Bundesverwaltungsgericht seine Beweiswürdigung in unvertretbarer Weise vorgenommen hätte (vgl. zur eingeschränkten Prüfungsbefugnis etwa VwGH 18.12.2019, Ra 2019/14/0539, mwN). Auch wenn die Revisionen einzelne Begründungselemente der Beweiswürdigung - insbesondere in Bezug auf die festgestellten wenigen außerhalb der Familie bzw. Schule gesetzten Aktivitäten der Revisionswerberinnen unter Hinweis auf die ländliche Gegend ihres Wohnortes und mangelnder Freizeitangebote bzw. fehlender Verkehrsanbindungen am Abend - zu relativieren versuchen, gelingt es ihnen letztlich nicht, aufzuzeigen, dass die beweiswürdigenden Überlegungen des Bundesverwaltungsgerichts insgesamt als unschlüssig anzusehen wären.

11 Soweit die Revisionen die Heranziehung veralteter Berichte zur Sicherheitslage in der Heimatprovinz Parwan rügen, ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach die Asylbehörden bei den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat als Grundlage für die Beurteilung des Vorbringens von Asylwerbern die zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten und insbesondere Berichte der mit Flüchtlingsfragen befassten Organisationen in die Entscheidung einzubeziehen haben. Das gilt ebenso für von einem Verwaltungsgericht geführte Asylverfahren. Auch das Bundesverwaltungsgericht hat daher seinem Erkenntnis die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen. Es reicht aber nicht aus, die Außerachtlassung von Verfahrensvorschriften zu behaupten, ohne die Relevanz der behaupteten Verfahrensmängel aufzuzeigen (vgl. VwGH 25.6.2019, Ra 2018/19/0644, mwN).

12 Eine solche Relevanz legen die vorliegenden Revisionen, die auf einen Zeitungsartikel im Internet verweisen, wonach sich im September 2019 ein Anschlag in der Provinz Parwan ereignet habe, nicht konkret dar. Das Verwaltungsgericht hat im Übrigen seinen Feststellungen zur Situation in der Provinz Parwan das im Entscheidungszeitpunkt aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom November 2019 zugrunde gelegt, die im Heimatdistrikt der revisionswerbenden Parteien verzeichneten zivilen Opfer berücksichtigt und sich weiters mit den Empfehlungen der aktuellen UNHCR- und EASO-Richtlinien auseinandergesetzt (vgl. dazu etwa VwGH 9.9.2019, Ra 2019/18/0169).

13 Nach der Rechtsprechung ist hinsichtlich der Zuerkennung des subsidiären Schutzes eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr ("real risk") einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen. Eine solche einzelfallbezogene Beurteilung ist im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (vgl. etwa VwGH 11.2.2020, Ra 2020/20/0032).

14 Eine besondere Vulnerabilität - etwa aufgrund von Minderjährigkeit - ist bei der Beurteilung, ob den revisionswerbenden Parteien bei einer Rückkehr in die Heimat eine Verletzung ihrer durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte droht, im Speziellen zu berücksichtigen. Dies erfordert insbesondere eine konkrete Auseinandersetzung mit der Situation, die eine solche Person bei ihrer Rückkehr vorfindet (vgl. VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0381, mwN).

15 Entgegen dem Revisionsvorbringen hat sich das Bundesverwaltungsgericht mit der Rückkehrmöglichkeit der revisionswerbenden Parteien nach Kafshan, wo die Familie gelebt hat, und der Lebenssituation, die die Familie dort vorfinden würde, näher auseinandergesetzt. Nach den nur unsubstanziiert bestrittenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts kann die Familie in ihrem früheren Haus wohnen, ist ihre Versorgung durch dort ansässige Verwandten und einen vorhandenen Grundstücksbesitz gegeben und dem Erstrevisionswerber durch seine bisherige Berufserfahrung und seine noch bestehende Kontakte möglich, sich wieder am Arbeitsmarkt einzugliedern und seinen früheren Berufen nachzugehen. Das Bundesverwaltungsgericht hat bei seiner Beurteilung auch die besondere Vulnerabilität der drei zum Zeitpunkt der Erlassung der angefochtenen Entscheidung noch minderjährigen Revisionswerber berücksichtigt und sich mit den spezifischen Gefährdungen von Minderjährigen in Afghanistan auseinandergesetzt. Es ist jedoch mit nachvollziehbarer Begründung, insbesondere aufgrund der Einbindung der minderjährigen Revisionswerber in den Familienverband vor Ort, zum Schluss gekommen, dass sie von diesen Gefahren nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit betroffen seien. Diesen Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichts halten die revisionswerbenden Parteien nichts Stichhaltiges entgegen. Die Revisionen zeigen nicht konkret auf den vorliegenden Fall bezogen auf, warum entgegen der festgestellten Situation eine Rückkehr nach Kafshan zu einer Verletzung der minderjährigen Revisionswerber in ihren Rechten nach Art. 2 oder 3 EMRK führen würde.

16 Wenn sich die Revisionen gegen die Existenz einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul wenden, ist darauf zu verweisen, dass es sich hierbei nach dem oben Gesagten lediglich um eine Alternativbegründung des Bundesverwaltungsgerichts handelt. Da die Revisionen aber von den auf die innerstaatliche Fluchtalternative Bezug nehmenden Ausführungen nicht abhängen, war auf das darauf Bezug nehmende Vorbringen nicht weiter einzugehen (vgl. zur Unzulässigkeit einer Revision bei einer tragfähigen Alternativbegründung VwGH 8.8.2019, Ra 2019/20/0188). 17 Soweit die Revisionen in ihren Zulässigkeitsbegründungen letztlich die vom Bundesverwaltungsgericht vorgenommene Interessenabwägung in Bezug auf den Siebentrevisionswerber nach Art. 8 EMRK beanstanden, ist festzuhalten, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG ist (vgl. etwa VwGH 4.2.2020, Ra 2020/14/0002, mwN). Bei einer Rückkehrentscheidung, von der Kinder bzw. Minderjährige betroffen sind, sind nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Rahmen der Abwägung gemäß § 9 BFA-VG "die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder", insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Fragen zu, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere, ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter befinden (vgl. VwGH 13.11.2018, Ra 2018/21/0205 bis 0208, mwN).

18 Das Bundesverwaltungsgericht ging davon aus, dass mit der Entscheidung kein Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens erfolge, weil sich der im Jahr 2016 geborene Siebentrevisionswerber in einem anpassungsfähigen Alter befinde und hinsichtlich aller Familienangehörigen eine aufenthaltsbeendende Maßnahme erlassen werde. Es gelingt den Revisionen nicht darzulegen, dass die vom Bundesverwaltungsgericht vorgenommene und auf die Umstände im Einzelfall ausreichend Bedacht nehmende Interessenabwägung unvertretbar erfolgt wäre. 19 In den Revisionen werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revisionen waren daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.

Wien, am 23. März 2020

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte