VwGH Ra 2020/01/0055

VwGHRa 2020/01/00558.6.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Fasching als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision der Wiener Landesregierung gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 3. Dezember 2019, Zl. VGW‑152/089/11421/2019‑29, betreffend Staatsbürgerschaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Wiener Landesregierung; mitbeteiligte Partei: A A in W, vertreten durch Dr. Farid Rifaat, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schmerlingplatz 3), den Beschluss gefasst:

Normen

StbG 1985 §10 Abs1 Z7
StbG 1985 §10 Abs1b
StbG 1985 §12 Abs1 Z1 litb

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020010055.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Das Land Wien hat der Mitbeteiligten Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde der Mitbeteiligten - im Beschwerdeverfahren - gemäß § 12 Abs. 1 Z 1 lit. b Staatsbürgerschaftsgesetz 1985, BGBl. I Nr. 311 (WV) idF BGBl. I Nr. 56/2018 (StbG), die österreichische Staatsbürgerschaft mit Wirkung vom 4. November 2019 verliehen (I). Weiters wurde die Mitbeteiligte zum Ersatz von Barauslagen verpflichtet (II.) und die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG für nicht zulässig erklärt (III.).

2 Begründend führte das Verwaltungsgericht ‑ soweit für den Revisionsfall maßgeblich ‑ aus, die Mitbeteiligte halte sich seit dem Jahr 2003 durchgehend und ununterbrochen im Bundesgebiet auf, 2004 sei ihr der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden.

3 Die Mitbeteiligte lebe bereits seit über 15 Jahren gemeinsam mit ihrem Ehegatten und den gemeinsamen fünf Kindern, die hier eine Schul- bzw. Berufsausbildung gemacht hätten, in Österreich. Sie habe einen Nachweis über Deutschkenntnisse auf B1‑Niveau des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GERS) erbracht, sei unbescholten und bejahend zur Republik Österreich eingestellt.

4 Die Mitbeteiligte sei ‑ als subsidiär Schutzberechtigte ‑ nicht zumindest fünf Jahre lang im Bundesgebiet rechtmäßig niedergelassen, weshalb die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft gemäß § 10 [Abs. 1 Z 1] StbG nicht in Betracht komme (Hinweis auf VwGH 26.1.2012, 2010/01/0008).

5 Als subsidiär Schutzberechtigte habe die Mitbeteiligte aber sowohl aus fremdenrechtlicher als auch aus beschäftigungsrechtlicher Sicht eine bis auf weiteres gesicherte Position in Österreich. So verfüge sie über einen freien Arbeitsmarktzugang und benötige keine Beschäftigungsbewilligung. Auch sei aufgrund ihres langjährigen Aufenthaltes im Bundesgebiet davon auszugehen, dass sie ‑ selbst für den Fall, dass sie die Stellung als subsidiär Schutzberechtigte verlieren sollte ‑ zumindest einen humanitären Aufenthaltstitel erhalten werde und daher das Bundesgebiet nicht wieder verlassen müsse.

6 Die Mitbeteiligte leide seit 2004 an einer dauerhaften schwerwiegenden Krankheit (Niereninsuffizienz), die ihr derzeit eine Teilnahme am Erwerbsleben nicht ermögliche; die Mitbeteiligte leide überdies seit 2012 an Depressionen und sei ihr Hör- und Sehvermögen eingeschränkt. Die Mitbeteiligte könne in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit einer Erwerbstätigkeit nur auf einem geschützten Arbeitsplatz nachgehen. Der Umstand, dass die Mitbeteiligte bislang keiner Beschäftigung nachgegangen sei, könne ihr deshalb nicht zur Last gelegt werden und sei aus diesem Grund gemäß § 10 Abs. 1b StbG auch vom Erfordernis eines gesicherten Lebensunterhaltes abzusehen.

7 Bei Gesamtbetrachtung aller Umstände erfülle die Mitbeteiligte daher die Verleihungsvoraussetzungen des § 12 Abs. 1 lit. b StbG.

8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Amtsrevision der belangten Behörde (Wiener Landesregierung).

9 In dem vom Verwaltungsgerichtshof durchgeführten Vorverfahren erstattete die Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag, die Revision kostenpflichtig zurückzuweisen.

10 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

11 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

12 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

13 Gemäß § 12 Abs. 1 Z 1 lit. b StbG ist einem Fremden unter den Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Z 2 bis 8 Abs. 2 und 3 leg. cit. die Staatsbürgerschaft zu verleihen, wenn er seit mindestens 15 Jahren seinen rechtmäßigen und ununterbrochenen Aufenthalt im Bundesgebiet hat und seine nachhaltige persönliche und berufliche Integration nachweist.

14 Die Amtsrevision bringt zur Zulässigkeit vor, dass es an Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage fehle, ob die Ausnahmebestimmung des § 10 Abs. 1b StbG auch auf die in § 12 Abs. 1 Z 1 lit. b leg. cit. genannte Voraussetzung der „beruflichen Integration“ übertragbar sei. Es stelle sich im Zusammenhang mit § 12 Abs. 1 Z 1 lit. b StbG die Rechtsfrage, ob die Voraussetzung einer nachhaltigen „beruflichen Integration“ auch dann als erfüllt anzusehen sei, wenn aufgrund von Krankheit eine berufliche Integration nicht möglich gewesen sei. Nach dem Wortlaut der Bestimmung und der Rechtsprechung des VwGH setze auch § 12 StbG die Erfüllung des Erfordernisses eines hinreichend gesicherten Lebensunterhaltes nach § 10 Abs. 1 Z 7 iVm Abs. 5 StbG voraus (Hinweis auf VwGH 20.9.2011, 2009/01/0024). Allein die „theoretische“, mit dem Status einer subsidiär Schutzberechtigten ex lege einhergehende Möglichkeit eine Beschäftigung in Österreich auszuüben, könne noch keine nachhaltige berufliche Integration im Sinne des § 12 Abs. 1 Z 1 lit. b StbG begründen, wenn diese Möglichkeit unstrittig niemals in Anspruch genommen wurde.

15 Dieses Vorbringen führt nicht zur Zulässigkeit der Revision.

I. Zum Erfordernis des hinreichend gesicherten Lebensunterhaltes

16 Die Anwendung des § 12 Abs. 1 StbG setzt zunächst das Vorliegen der (allgemeinen) Verleihungsvoraussetzungen nach § 10 Abs. 1 Z 2 bis 8 StbG voraus.

17 § 10 Abs. 1 Z 7 StbG (idF BGBl. I Nr. 136/2013) stellt darauf ab, ob der Lebensunterhalt des Verleihungswerbers hinreichend gesichert ist oder der Fremde seinen Lebensunterhalt aus tatsächlichen, von ihm nicht zu vertretenden Gründen dauerhaft nicht oder nicht in ausreichendem Maße sichern kann.

18 Gemäß § 10 Abs. 1b StbG hat der Fremde seinen nicht gesicherten Lebensunterhalt insbesondere dann nicht zu vertreten, wenn dieser auf einer Behinderung oder auf einer dauerhaften schwerwiegenden Krankheit beruht, wobei dies durch ein ärztliches Gutachten nachzuweisen ist.

19 Entscheidend ist dabei, dass der Gesetzgeber eine spezifische Ausnahmeregelung für besonders berücksichtigungswürdige Situationen schaffen wollte. In den Anwendungsbereich dieser Bestimmung gelangen Personen die aufgrund ihres Behinderungsgrades oder Krankheitsbildes tatsächlich nicht oder nur eingeschränkt am Erwerbsleben teilnehmen können (vgl. VwGH 11.10.2016, Ra 2016/01/0169, sowie 15.11.2016, Ra 2016/01/0034, mwN).

20 Im Revisionsfall ist unstrittig, dass die Mitbeteiligte ihren Lebensunterhalt aufgrund ihrer schweren Erkrankung und sohin aus von ihr nicht zu vertretenden Gründen nicht sichern kann.

21 Sie erfüllt sohin die ‑ auch im Anwendungsbereich des § 12 Abs. 1 StbG maßgebliche ‑ Verleihungsvoraussetzung des § 10 Abs. 1 Z 7 iVm Abs. 1b StbG.

22 Das von der Revision erwähnte hg. Erkenntnis 2009/01/0024 erging zur alten Rechtslage, wonach das Erfordernis des hinreichend gesicherten Lebensunterhaltes lediglich objektiv erfüllt sein musste und es nicht von Belang war, dass den Verleihungswerber am Fehlen eines hinreichend gesicherten Lebensunterhaltes kein Verschulden traf (vgl. Rz 1 der Entscheidungsgründe). Diese Rechtsprechung ist in diesem Punkt für die im Revisionsfall maßgebliche Rechtslage (nach Inkrafttreten der erwähnten Novelle BGBl. I Nr. 136/2013) ohne Bedeutung.

II. Zum Erfordernis der nachhaltigen persönlichen und beruflichen Integration

23 Entgegen dem Revisionsvorbringen existiert zur Frage der Auslegung des Tatbestandsmerkmals der nachhaltigen persönlichen und beruflichen Integration (idF der Staatsbürgerschaftsgesetznovelle 1998, BGBl. I Nr. 124) eine umfängliche, mit VwGH 11.10.2000, 2000/01/0227, beginnende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. in weiterer Folge VwGH 11.10.2000, 99/01/0385; 12.3.2002, 2001/01/0228; 14.5.2002, 2000/01/0343; 24.6.2003, 2002/01/0437; 9.9.2003, 2002/01/0017; 30.8.2005, 2005/01/0216; 13.12.2005, 2003/01/0329; 27.2.2007, 2005/01/0384; 10.4.2008, 2005/01/0114; 4.9.2008, 2006/01/0074; 9.10.2008, 2006/01/0071; 23.4.2009, 2006/01/0061).

24 Demnach orientiert sich der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Judikatur an der in den Gesetzesmaterialien (RV 1283 BlgNR XX. GP , 8) ausdrücklich so formulierten Ansicht, der „Nachweis nachhaltiger persönlicher und beruflicher Integration“ werde „dann als erbracht gelten, wenn der Fremde sowohl beschäftigungsrechtlich (zB Arbeitserlaubnis, Befreiungsschein) als auch fremdenrechtlich (zB unbefristete weitere Niederlassungsbewilligung) eine bis auf Weiteres gesicherte Position in Österreich hat und er persönlich nachhaltig verankert ist (zB Familie lebt mit dem Fremden in Österreich, Kinder besuchen die Schule usw)“ (vgl. etwa VwGH 2006/01/0061, mwN).

25 Bei derBeurteilung der beruflichen Integration kommt es somit maßgeblich auf die beschäftigungsrechtliche Situation des Verleihungswerbers an, wobei bereits die Arbeitserlaubnis den Nachweis einer beschäftigungsrechtlich bis auf Weiteres gesicherten Position erbringt. Auf die Art der beruflichen Tätigkeit kommt es darüber hinaus nicht an, da dem StbG keine Präferenz für eine bestimmte Form der Erwerbstätigkeit entnehmbar ist (vgl. etwa VwGH 2005/01/0384, mwN).

26 Weiters hat der Verwaltungsgerichtshof wiederholt ausgesprochen, dass eine intensive persönliche Verankerung in Österreich eine allfällige weniger stark ausgeprägte Integration in anderen Bereichen ‑ sofern es dessen bedürfen sollte ‑ partiell auszugleichen vermag (vgl. auch dazu VwGH 2006/01/0061, mwN).

27 Ob eine „nachhaltige persönliche und berufliche Integration“ vorliegt, ist demnach im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zu beurteilen (vgl. VwGH 2006/01/0071, mwN).

28 Es ist nicht zu sehen, dass sich an dieser Verleihungsvoraussetzung ‑ und sohin an der weiteren Beachtlichkeit der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ‑ durch die Neufassung des § 12 im Zuge der Staatsbürgerschaftsrechts-Novelle 2006, BGBl. I Nr. 37, etwas geändert hat (vgl. die Erläuterungen zu RV 1189 BlgNR, 22. GP , S. 8).

29 In Übereinstimmung mit der erwähnten hg. Judikatur hat das Verwaltungsgericht in einer Gesamtbetrachtung die beschäftigungsrechtliche Situation der Mitbeteiligten in den Blick genommen und dazu ausgeführt, dass diese (als subsidiär Schutzberechtigte) über einen freien Arbeitsmarktzugang verfüge und keine Beschäftigungsbewilligung benötige. Dem tritt die Revision nicht entgegen. Es ist daher nicht zu beanstanden, wenn das Verwaltungsgericht in seinen rechtlichen Erwägungen zum Ergebnis kommt, dass die Mitbeteiligte ‑ im Sinne der dargestellten Rechtsprechung ‑ das Tatbestandsmerkmal der „nachhaltigen persönlichen und beruflichen Integration“ gemäß § 12 Abs. 1 Z 1 lit. b StbG erfüllt.

30 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme.

31 Die Revision war daher zurückzuweisen.

32 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet auf den §§ 47 ff, insbesondere auf § 51 VwGG iVm der VwGH‑AufwandersatzVO 2014.

Wien, am 8. Juni 2020

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