Normen
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs3
FrPolG 2005 §52 Abs2 Z2
MRK Art8
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019180457.L00
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Die revisionswerbenden Parteien sind ukrainische Staatsangehörige. Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter des Zweitrevisionswerbers. Sie stellten beide am 7. Jänner 2015 Anträge auf internationalen Schutz, welche sie im Wesentlichen damit begründeten, in der Ukraine Verfolgung aus politischen Gründen zu befürchten.
2 Mit Bescheiden vom 16. Februar und vom 17. Februar 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der revisionswerbenden Parteien auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen die revisionswerbenden Parteien Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass ihre Abschiebung in die Ukraine zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
4 Betreffend die vorliegenden Rückkehrentscheidungen führte das BVwG aus, die Erstrevisionswerberin lebe mit dem Zweitrevisionswerber und ihrer volljährigen Tochter in Österreich im gemeinsamen Haushalt. Es seien alle Familienmitglieder von der Erlassung von Rückkehrentscheidungen gleichermaßen betroffen, weshalb im Hinblick auf die gemeinsame Ausreise kein Eingriff in das Familienleben im Sinn von Art. 8 EMRK vorliege. Es sei daher die Zulässigkeit eines Eingriffs in das Privatleben der revisionswerbenden Parteien zu prüfen.
5 Die Erstrevisionswerberin weise keine fortgeschrittene Integration auf. Sie lebe seit ihrer Einreise von der Grundversorgung, sie habe an Deutschkursen teilgenommen, sie sei ehrenamtlich tätig gewesen, sie habe in Österreich Bekanntschaften geknüpft und auch Empfehlungsschreiben vorgelegt.
6 Betreffend die vom Zweitrevisionswerber absolvierte Lehre als Metalltechniker verwies das BVwG auf dessen ca. viereinhalbjährige Aufenthaltsdauer sowie auf die Ausführungen in dem hg. Erkenntnis vom 28. Februar 2019, Ro 2019/01/0003. Weiters verfüge der Zweitrevisionswerber über sehr gute Deutschkenntnisse. Er habe in Österreich Bekanntschaften geschlossen und ebenfalls Empfehlungsschreiben vorgelegt. 7 Die revisionswerbenden Parteien hätten sich ihres unsicheren Aufenthaltsstatus während der Zeit, zu dem diese Integrationsschritte gesetzt worden seien, bewusst sein müssen. Zudem verfügten sie über starke Bindungen zur Ukraine. Sie sprächen die Landessprache und seien dort sozialisiert worden. 8 Im Hinblick auf diese Erwägungen gelangte das BVwG zusammengefasst zu dem Ergebnis, dass die Interessenabwägung im Sinn von Art. 8 EMRK zum Nachteil der revisionswerbenden Parteien ausfalle.
9 Gegen dieses Erkenntnis erhoben die revisionswerbenden Parteien zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der mit Beschluss vom 23. September 2019, E 3037-3039/2019-7, die Behandlung der Beschwerde gemäß Art. 144 Abs. 2 B-VG ablehnte und die Beschwerde über nachträglichen Antrag mit Beschluss vom 3. Oktober 2019, E 3037-3039/2019-9, gemäß Art. 144 Abs. 3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat. 10 Die vorliegende außerordentliche Revision macht zur Begründung ihrer Zulässigkeit geltend, die vom BVwG vorgenommene Interessenabwägung im Sinn von Art. 8 EMRK weiche von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab. Dem Umstand, dass die Integrationsschritte von den revisionswerbenden Parteien im Bewusstsein über ihren unsicheren Aufenthalt gesetzt worden seien, sei unverhältnismäßig viel Gewicht beigemessen worden. In diesem Zusammenhang habe das BVwG insbesondere nicht berücksichtigt, dass dem zum Zeitpunkt der Einreise in das Bundesgebiet minderjährigen Zweitrevisionswerber, der sich überdies nicht mehr im anpassungsfähigen Alter befinde, die Entscheidung seiner Mutter, die Ukraine in Richtung Österreich zu verlassen, nicht in dem Maße zugerechnet werden dürfe, dass er sich die Unsicherheit seines Aufenthalts in Österreich ständig hätte bewusst halten müssen. Das BVwG habe nicht alle für die Verankerung der revisionswerbenden Parteien im Bundesgebiet sprechenden Aspekte, die zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses vorgelegen und teilweise auch noch nach der im Jahr 2017 durchgeführten mündlichen Verhandlung hinzugetreten seien, gewürdigt. 11 Dazu bringt die Revision vor, der Zweitrevisionswerber spreche die deutsche Sprache "perfekt, akzentfrei und auf nahezu muttersprachlichem Niveau". Er habe in Österreich "zahlreiche soziale Bindungen" aufgebaut, seine Lehre beinahe abgeschlossen, eine Anstellung in Aussicht, und er habe außergewöhnliche Schulleistungen erbracht (dazu legt die Revision verschiedene Unterlagen vor, die sehr gute Schulleistungen des Zweitrevisionswerbers belegen).
12 Die Erstrevisionswerberin habe zahlreiche Ausbildungs- und Weiterbildungsangebote in Anspruch genommen und bereite sich derzeit auf die Sprachprüfung auf B1-Niveau vor. Sie erbringe regelmäßig durch Dienstleistungsschecks vergütete Dienstleistungen und verfüge über eine Einstellungszusage für eine geringfügige Beschäftigung als Bürogehilfin.
13 Neben dem hohen Grad der in Österreich erreichten Integration sei auch zu berücksichtigen gewesen, dass Bindungen der revisionswerbenden Parteien zum Herkunftsstaat fehlten. 14 Mit diesem Vorbringen wird die Zulässigkeit der Revision nicht dargetan.
15 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
16 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen. 17 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen. 18 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 20.8.2019, Ra 2019/18/0046, mwN).
19 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (vgl. VwGH 14.10.2019, Ra 2019/18/0396, mwN).
20 Das BVwG gesteht dem Zweitrevisionswerber in der angefochtenen Entscheidung zu, die deutsche Sprache sehr gut zu beherrschen, in Österreich eine Lehre begonnen und soziale Bekanntschaften gemacht zu haben. Allerdings sieht es darin keine außergewöhnliche Integration, derer es bei einer relativ kurzen Aufenthaltsdauer in Österreich, die beim Zweitrevisionswerber unstrittig vorliegt, nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bedürfen würde, um eine (dauerhaft) unzulässige Rückkehrentscheidung und einen entsprechenden Aufenthaltstitel rechtfertigen zu können (vgl. dazu etwa VwGH 5.6.2019, Ra 2019/18/0078, 18.9.2019, Ra 2019/18/0212, jeweils mwN). Dass diese Einschätzung des Verwaltungsgerichts am Maßstab der höchstgerichtlichen Rechtsprechung unvertretbar wäre, vermag die Revision (auch unter Bedachtnahme auf die vorgelegten Unterlagen, die sehr gute schulische Leistungen in der Berufsschule ausweisen) nicht hinreichend darzutun. 21 Das BVwG hat auch zu Recht darauf hingewiesen, dass die revisionswerbenden Parteien ihre integrationsbegründenden Schritte in einem Zeitraum gesetzt haben, in dem sie sich ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein mussten (vgl. diesbezüglich z. B. VwGH 18.9.2019, Ra 2019/18/0212, mwN).
22 Die in der Revision dazu im Hinblick auf die Minderjährigkeit des Zweitrevisionswerbers unter Hinweis auf VwGH 13.11.2018, Ra 2018/21/0205, angeführten Argumente relativieren sich zum einen schon deshalb, weil der Zweitrevisionswerber bereits am 17. März 2017 volljährig wurde. Dem Umstand, dass bezogen auf die Situation der Kinder dem Bewusstsein um die Unsicherheit des Aufenthalts (wobei das diesbezügliche Bewusstsein der Eltern auch auf die Kinder durchschlägt; vgl. dazu den soeben zitierten hg. Beschluss vom 13. November 2018) im Rahmen der Gesamtabwägung weniger Gewicht beizumessen ist, kommt somit ohnehin nur für jenen Zeitraum zum Tragen, in dem der Zweitrevisionswerber noch nicht volljährig war. Zum anderen wird mit diesem Vorbringen auch nicht aufgezeigt, dass die im angefochtenen Erkenntnis vorgenommene Gesamtabwägung im Ergebnis nicht den in der Rechtsprechung dargelegten Leitlinien entspräche.
23 Letzteres gilt auch für die ins Treffen geführte Selbsterhaltungsfähigkeit des Zweitrevisionswerbers, die von ihm bezogene Lehrlingsentschädigung sowie seine weiteren in der Revision aufgelisteten beruflichen und schulischen Integrationsschritte. Es ist nicht ersichtlich, dass bei Berücksichtigung dieser integrationsvertiefenden Gesichtspunkte fallbezogen von dem Überwiegen der privaten Interessen der revisionswerbenden Parteien an einem weiteren Aufenthalt in Österreich auszugehen gewesen wäre (vgl. im Zusammenhang mit einer Beschäftigungsgarantie nach der Lehre, der Berücksichtigung der Leistungen in einer Berufsschule sowie einem darüber hinausgehenden beruflichen Engagement VwGH 14.8.2019, Ra 2019/18/0216; im Zusammenhang mit einer Arbeitsplatzzusicherung und der festgestellten Selbsterhaltungsfähigkeit VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003; ebenfalls unter Zugrundelegung der Selbsterhaltungsfähigkeit in vergleichbaren Konstellationen VwGH 2.9.2019, Ra 2019/01/0088; 22.8.2019, Ra 2019/21/0149; 27.6.2019, Ra 2019/14/0142; 10.4.2019, Ra 2019/18/0058). 24 Ferner hat der Zweitrevisionswerber seinen Herkunftsstaat erst im Alter von fünfzehn Jahren verlassen und demnach seine grundsätzliche Sozialisierung bereits in der Ukraine erfahren. Die Annahme seiner Wiedereingliederungsfähigkeit im Herkunftsstaat steht nicht im Widerspruch zur Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 18.10.2017, Ra 2017/19/0422, mwN). 25 Wenn die revisionswerbenden Parteien schließlich kursorisch auf ihre fehlenden Bindungen zum Herkunftsstaat verweisen, sind ihnen die Feststellungen des angefochtenen Erkenntnisses entgegenzuhalten, wonach u.a. der Ehemann und der älteste Sohn der Erstrevisionswerberin bzw. der Vater und der Bruder des Zweitrevisionswerbers noch in der Ukraine leben würden. Die Revision zieht die diesbezüglichen Feststellungen des BVwG nicht in Zweifel, sodass schon deshalb betreffend die (dem angefochtenen Erkenntnis zugrunde gelegte) Annahme von Verankerungspunkten im Herkunftsstaat keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung vorliegt.
26 Aufgrund der dargelegten rechtlichen Erwägungen machen die revisionswerbenden Parteien auch keine für die Entscheidung über die vorliegende Revision relevanten Verfahrensmängel geltend (vgl. VwGH 18.9.2019, Ra 2019/18/0239, mwN).
27 In der Revision werden daher keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Wien, am 28. November 2019
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