VwGH Ra 2017/21/0222

VwGHRa 2017/21/022215.3.2018

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Samonig, über die Revision der K L in W, vertreten durch Mag. Lukas Moser, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Parkring 2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21. September 2017, G306 2158375-1/5E, betreffend Ausweisung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

32004L0038 Unionsbürger-RL Art7 Abs1 litb;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art8 Abs4;
62012CJ0140 Brey VORAB;
62013CJ0333 Dano VORAB;
ASVG §293;
BFA-VG 2014 §9;
EURallg;
NAG 2005 §51 Abs1 Z2;
VwGG §42 Abs2 Z1;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2017210222.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die 1977 geborene Revisionswerberin ist polnische Staatsangehörige. Sie weist für den Zeitraum 14. Juli 2004 bis 28. August 2009 sowie dann wieder ab 2. Oktober 2014 Hauptwohnsitzmeldungen in Österreich auf und heiratete am 25. März 2015 einen 1948 geborenen österreichischen Staatsbürger, mit dem sie im gemeinsamen Haushalt wohnt.

2 Im Juli 2015 beantragte die Revisionswerberin die Ausstellung einer Anmeldebescheinigung. Die zuständige Niederlassungsbehörde ging allerdings davon aus, dass die Revisionswerberin, die im Bundesgebiet nie einer Beschäftigung nachgegangen war, die Voraussetzungen für ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht nicht erfülle; sie sei (zwar) bei ihrem Ehemann mitversichert, dieser beziehe jedoch (nur) eine Alterspension in der Höhe von EUR 911,32 monatlich, sodass "das Familieneinkommen" unter dem "gesetzlich vorgeschriebenen Mindestausmaß" liege.

3 In dem hierauf eingeleiteten Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gab die Revisionswerberin bei einer niederschriftlichen Einvernahme insbesondere an, sich seit 2004 durchgehend in Österreich zu befinden; sie habe eine "Meldelücke", da sie "zwischenzeitlich auch im Park" gelebt habe. Nunmehr sei sie bei ihrem jetzigen Ehemann wieder gemeldet, dieser sei "Mindestpensionist" und habe Ausgleichszulage beantragt, die jedoch "nicht genehmigt" worden sei.

4 In einer Stellungnahme vom 6. März 2017 führte die Revisionswerberin einerseits aus, dass sich ihr Ehemann "derzeit in einem etwas schlechten Gesundheitszustand befinde" und daher dringend "bei einigen Tätigkeiten im Haushalt" ihre Hilfe benötige. Andererseits gab die Revisionswerberin an, dass sie sich schon seit längerem um Arbeit bemühe und "jetzt Aussicht auf einen Hausmeisterposten" habe; im Übrigen wurde im Rahmen einer rechnerischen Aufstellung näher dargelegt, dass sich das Pensionseinkommen des Ehemannes der Revisionswerberin jährlich auf etwas mehr als EUR 13.000,-- netto belaufe, wovon nach Abzug jährlicher Fixkosten EUR 7.300,-- für "Lebenserhaltungskosten" übrig blieben; das seien EUR 608,33 pro Monat, und die Revisionswerberin und ihr Ehemann benötigten "für Essen, Getränke und Tabak" maximal EUR 450,-- monatlich; somit bleibe "für Bekleidung und Sonstiges" ein Rest von EUR 158,--.

5 Mit Bescheid vom 5. Mai 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Revisionswerberin in der Folge gemäß § 66 Abs. 1 FPG iVm § 55 Abs. 3 NAG - gemäß § 70 Abs. 3 FPG unter Einräumung eines einmonatigen Durchsetzungsaufschubes - aus dem österreichischen Bundesgebiet aus. Betreffend den Aufenthalt der Revisionswerberin in Österreich führte das BFA u.a. aus, sie sei zwischen dem 28. August 2009 und dem 2. Oktober 2014 nicht behördlich gemeldet und somit unbekannten Aufenthalts gewesen; es stehe nicht fest, dass sie sich in diesem Zeitraum in Österreich aufgehalten habe; die Revisionswerberin erkläre ihre fehlende Meldung damit, dass sie obdachlos gewesen sei und in einem Park gelebt habe.

6 In rechtlicher Hinsicht ging das BFA davon aus, dass "das Familieneinkommen" angesichts der Alterspension des Ehemannes der Revisionswerberin in der Höhe von EUR 911,32 "unter dem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestausmaß" liege; die Erteilungsvoraussetzungen für eine Anmeldebescheinigung seien daher nicht erfüllt.

7 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 21. September 2017 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen den genannten Bescheid erhobene Beschwerde als unbegründet ab und sprach aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

 

8 Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen:

9 Die Revisionswerberin ist polnische Staatsangehörige und damit EWR-Bürgerin. Gemäß § 51 Abs. 1 Z 2 NAG kommt ihr daher - u.a. - ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zu, wenn sie über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügt, sodass sie während ihres Aufenthalts weder Sozialhilfeleistungen noch die Ausgleichszulage in Anspruch nehmen muss.

10 Auch das BVwG ging davon aus, dass die Revisionswerberin diese Voraussetzungen im Hinblick auf das allein zur Verfügung stehende Pensionseinkommen ihres Ehemannes nicht erfülle, sodass sie mangels unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts nach § 66 FPG ausgewiesen werden könne.

11 Im Einzelnen führte das BVwG dazu aus, dass zur Finanzierung des Lebensunterhaltes der Revisionswerberin nur die Pensionszahlungen ihres Ehemannes zur Verfügung stünden. Unter Berücksichtigung der Sonderzahlungen einerseits und des "Freibetrages" nach § 292 Abs. 3 ASVG andererseits könne sie sohin monatlich EUR 1.062,83 "an gemeinsamen finanziellen Mitteln" vorweisen. Eine Gegenüberstellung dieses Betrages mit den Richtsätzen des § 293 Abs. 1 lit. a sublit. aa ASVG (EUR 1.334,17) ergebe, dass die Revisionswerberin keinesfalls über hinreichende finanzielle Mittel im Sinn des § 51 Abs. 1 Z 2 NAG verfüge. Unbeschadet dessen erweise sich das behauptete dauerhafte Auskommen zweier Personen in Österreich mit EUR 1.062,83 monatlich "als realitätsfremd". Zudem unterstreiche der Umstand, dass der Ehemann der Revisionswerberin bereits Ausgleichszulage beantragt habe, das tatsächliche Fehlen hinreichender finanzieller Mittel.

12 Soweit diese Überlegungen zunächst schematisch auf den Ausgleichszulagenrichtsatz nach § 293 ASVG Bezug nehmen, lassen sie die maßgeblichen unionsrechtlichen Grundlagen außer Betracht. Nach Art. 8 Abs. 4 der Freizügigkeitsrichtlinie dürfen die Mitgliedstaaten (nämlich) keinen festen Betrag für die Existenzmittel festlegen, die sie als ausreichend betrachten, sondern müssen die persönliche Situation des Betroffenen berücksichtigen. Demgemäß wurde in der Judikatur des Gerichtshofes der Europäischen Union betont, dass bei der Beurteilung, ob ein Unionsbürger über ausreichende Existenzmittel verfügt, um ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 1 lit. b der Freizügigkeitsrichtlinie in Anspruch nehmen zu können, eine konkrete Prüfung der wirtschaftlichen Situation jedes Betroffenen vorzunehmen ist (EuGH (Große Kammer) 11.11.2014, Dano, C- 333/13 , Rn. 80). Der Gerichtshof hat weiter festgehalten, dass die Mitgliedstaaten zwar einen bestimmten Betrag als Richtbetrag angeben können, dass sie aber nicht ein Mindesteinkommen vorgeben können, unterhalb dessen ohne eine konkrete Prüfung der Situation des einzelnen Betroffenen angenommen würde, dass er nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt (EuGH 19.9.2013, Brey, C-140/12 , Rn. 68).

13 Es bedarf also bei der Frage, ob ausreichende Existenzmittel zur Verfügung stehen, einer konkreten Einzelfallbeurteilung, was auch bereits in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Ausdruck gebracht wurde (vgl. etwa VwGH 10.4.2014, 2013/22/0034). Auch in der vom BVwG angeführten Literaturstelle (Abermann in Abermann/Czech/Kind/Peyrl, NAG - Kommentar (2016), § 51 Rz 13) wird im Übrigen keine andere Auffassung vertreten.

14 Das BVwG hat dann zwar "unbeschadet" seiner "Richtwertüberlegungen" noch angemerkt, ein Auskommen zweier Personen in Österreich mit EUR 1.062,83 monatlich sei realitätsfremd. Die gebotene Einzelfallbeurteilung kann darin jedoch nicht erblickt werden. Vielmehr wäre es Aufgabe des BVwG gewesen, sich im Detail mit den persönlichen Verhältnissen der Revisionswerberin und ihres Ehemannes auseinanderzusetzen und dabei insbesondere auf die in der oben erwähnten Stellungnahme vom 6. März 2017 angestellten Berechnungen (siehe Rn. 4) einzugehen. Dass bereits ein Antrag auf Zuerkennung einer Ausgleichszulage gestellt wurde, vermag daran nichts zu ändern (idS VwGH 21.12.2017, Ra 2017/21/0132, Rn. 10, mit Verweis auf die schon erwähnte Judikatur des EuGH; siehe ergänzend überdies OGH 17.12.2013, 10 ObS 152/13w, Punkt 8.3. der Entscheidungsgründe a. E.).

15 Zur gebotenen Auseinandersetzung mit den konkreten Verhältnissen der Revisionswerberin wäre es geboten gewesen, die von dieser beantragte Beschwerdeverhandlung durchzuführen. Vor dem Hintergrund des Gesagten kann nämlich nicht davon die Rede sein, der Sachverhalt sei geklärt, sodass gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG trotz des darauf gerichteten Antrags von der Durchführung der Beschwerdeverhandlung hätte abgesehen werden dürfen. Geklärter Sachverhalt hätte darüber hinaus auch deshalb nicht angenommen werden dürfen, weil auch auf Basis der Feststellungen des BFA unklar geblieben ist, ob sich die Revisionswerberin, wie von ihr behauptet, ungeachtet der "Meldelücke" von August 2009 bis Oktober 2014 seit 2004 durchgehend in Österreich aufhält. Dass in den Verwaltungsakten Unterlagen über eine spitalsärztliche Behandlung der Revisionswerberin im Bundesgebiet im Jänner 2014 erliegen, sei in diesem Zusammenhang angemerkt. Aber auch die Frage der Betreuungsbedürftigkeit des Ehemannes der Revisionswerberin hätte unter dem Gesichtspunkt einer umfassenden Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG einer näheren Abklärung bedurft. Unbeschadet dessen ist freilich festzuhalten, dass das BVwG dem Umstand, dass die Revisionswerberin mit einem österreichischen Staatsbürger verheiratet ist, von vornherein nicht die gebotene Bedeutung zugemessen hat (vgl. dazu näher VwGH 14.11.2017, Ra 2017/21/0130, Rn. 15).

16 Aus diesen Gründen, die teilweise auch in der deshalb gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässigen Revision angesprochen werden, kann das angefochtene Erkenntnis keinen Bestand haben. Es war daher - wegen der prävalierenden Rechtswidrigkeit seines Inhaltes - gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

17 Von der Durchführung der vor dem Verwaltungsgerichtshof beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.

18 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 15. März 2018

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