VwGH Ra 2017/21/0132

VwGHRa 2017/21/013221.12.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Samonig, über die Revision der A R in R, vertreten durch Dr. Peter Kolb, Rechtsanwalt in 3430 Tulln, Hauptplatz 3/2/20, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 5. Mai 2017, G313 2114232-1/13E, betreffend Ausweisung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

32004L0038 Unionsbürger-RL Art7 Abs1 litb;
62012CJ0140 Brey VORAB;
62013CJ0333 Dano VORAB;
EURallg;
FrPolG 2005 §66 Abs1;
FrPolG 2005 §66;
MRK Art8;
NAG 2005 §51 Abs1 Z2;
NAG 2005 §51;
NAG 2005 §53a Abs1;
NAG 2005 §53a;
VwGG §42 Abs2 Z1;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2017:RA2017210132.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

1 Die 1959 geborene Revisionswerberin ist polnische Staatsangehörige. Sie weist seit 26. März 2009 eine Hauptwohnsitzmeldung in Österreich auf und heiratete am 22. September 2009 den Unterkunftgeber, einen 1957 geborenen österreichischen Staatsbürger.

2 Mit am 4. Juli 2014 in Rechtskraft erwachsenem Beschluss wurde die Ehe gemäß § 55a Ehegesetz geschieden. Im abgeschlossenen Scheidungsvergleich verpflichtete sich der (ehemalige) Ehemann der Revisionswerberin, ihr ab 1. Juli 2014 bis 30. Juni 2016 einen monatlichen Unterhaltsbetrag in der Höhe von EUR 300,-- und ab 1. Juli 2016 einen solchen in der Höhe von EUR 150,-- zu leisten. Der Revisionswerberin wurde ferner gestattet, bis 30. Juni 2015 in der bisherigen Ehewohnung, deren laufende Kosten ihr (ehemaliger) Ehemann zu tragen habe, zu verbleiben. U.a. verpflichtete sich der (ehemalige) Ehemann der Revisionswerberin außerdem, an sie einen Ausgleichsbetrag von EUR 15.000,-- bis 25. Juli 2014 zu bezahlen.

3 Bereits am 20. März 2014 hatte die Revisionswerberin einen Antrag auf Ausstellung einer Anmeldebescheinigung "privat" gestellt. Die Niederlassungsbehörde gelangte allerdings zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen für ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht nicht vorlägen. Das im Hinblick darauf gemäß § 55 Abs. 3 NAG unter dem Aspekt einer möglichen Aufenthaltsbeendigung befasste Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) forderte die Revisionswerberin hierauf zur Abgabe einer Stellungnahme auf. Die Revisionswerberin kam dieser ihr im Juli 2015 zugestellten Aufforderung nach und führte aus, dass sie sich seit Dezember 2007 - nach einer Einreise auf Grund einer Einladung des späteren Ehemannes - im Bundesgebiet befinde; ihren Lebensunterhalt bestreite sie aus den Einkünften aus einer geringfügigen Beschäftigung und den im Scheidungsvergleich zugesprochenen Unterhaltsmitteln; sie lebe noch in der "zugesprochenen" Ehewohnung, sei bei ihrem "Ex-Gatten" bei der BVA mitversichert und möchte in Österreich, wo sie sich auf Grund des langen Aufenthalts "vollkommen integriert" fühle, eine regelmäßige Arbeit finden.

4 Das BFA wies die Revisionswerberin nach Eingang dieser Stellungnahme und ohne erkennbare weitere Ermittlungen mit Bescheid vom 25. August 2015 gemäß § 66 Abs. 1 FPG iVm § 55 Abs. 3 NAG aus dem österreichischen Bundesgebiet aus, wobei es außerdem gemäß § 70 Abs. 3 FPG einen einmonatigen Durchsetzungsaufschub erteilte. In der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde verwies die Revisionswerberin einleitend erneut darauf, dass sie sich bereits seit dem Jahr 2007 im Bundesgebiet aufhalte. U.a. machte sie dann geltend, angesichts eines mehr als fünfjährigen rechtmäßigen und ununterbrochenen Aufenthalts im Bundesgebiet (im Speziellen während der aufrechten Ehe mit ihrem ehemaligen Ehemann, durch dessen Einkommen in der Höhe von rund EUR 1.800,-- netto 14 mal jährlich ihr Unterhalt sichergestellt gewesen sei) ein Recht auf Daueraufenthalt nach § 53a NAG erworben zu haben; schon deswegen sei ihre Ausweisung fallbezogen unzulässig.

5 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 5. Mai 2017 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde als unbegründet ab und sprach aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

 

6 Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen:

7 Die Revisionswerberin ist polnische Staatsangehörige und damit EWR-Bürgerin. Gemäß § 51 Abs. 1 Z 2 NAG kommt ihr daher - u.a. - ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zu, wenn sie über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügt, sodass sie während ihres Aufenthalts weder Sozialhilfeleistungen noch die Ausgleichszulage in Anspruch nehmen muss.

8 Das BVwG ging davon aus, dass die Revisionswerberin diese Voraussetzungen im Hinblick auf ihre derzeit feststellbaren Einkünfte nicht erfülle, sodass sie mangels unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts (andere Konstellationen, aus der ein derartiges Recht abgeleitet werden könne, zog es von vornherein nicht in Betracht) nach § 66 FPG ausgewiesen werden könne.

9 Die Revisionswerberin hat in ihrer Beschwerde allerdings ausdrücklich geltend gemacht, dass sie sich ab 26. März 2009 (Meldung bei ihrem späteren Ehemann an der späteren gemeinsamen Ehewohnung) mehr als fünf Jahre lang - erkennbar auf Basis des angesprochenen § 51 Abs. 1 Z 2 NAG - rechtmäßig und ununterbrochen im Bundesgebiet aufgehalten und damit das Recht auf Daueraufenthalt nach § 53a NAG erworben habe. Träfe diese Behauptung zu, wäre ihre Ausweisung schon deshalb rechtswidrig, weil der Revisionswerberin nach dem Abs. 1 der gerade genannten Bestimmung ungeachtet ihrer aktuellen Situation seit Ablauf der fünf Jahre ein von den Voraussetzungen des § 51 NAG unabhängiges weiteres Aufenthaltsrecht zukäme. In diesem Sinn schließt auch § 66 FPG, auf dessen Grundlage die gegenständliche Ausweisung erfolgte, die Erlassung einer solchen Maßnahme aus, wenn bereits das Daueraufenthaltsrecht erworben wurde (es sei denn, der weitere Aufenthalt des fraglichen Fremden stelle eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit dar, wovon hier aber keinesfalls auszugehen ist; siehe zu einer derartigen Konstellation grundsätzlich VwGH 13.12.2012, 2012/21/0181, VwSlg. 18535 A).

10 Mit der Frage, ob die Revisionswerberin ein Daueraufenthaltsrecht erworben hat, haben sich indes weder das BFA noch das BVwG beschäftigt, obwohl schon die im Verfahren vor dem BFA erstattete Stellungnahme der Revisionswerberin (siehe oben Rn. 3) Überlegungen in diese Richtung erfordert hätte. Denn zumindest für die Zeiten der aufrechten Ehe mit dem österreichischen Staatsbürger musste es - zumal in Anbetracht des in der Stellungnahme erstatteten Hinweises auf die Mitversicherung bei der BVA und des dieser Stellungnahme angeschlossenen Scheidungsvergleichs - als nahe liegend erscheinen, dass der Revisionswerberin das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht nach § 51 Abs. 1 Z 2 NAG zukam. Dass die Revisionswerberin, wie vom BVwG unbestritten festgestellt, vom 26. März 2014 bis 30. Juni 2014 Mindestsicherung bezog, steht dem nicht zwingend entgegen (siehe in diesem Sinn EuGH 11.11.2014, Dano, C-333/13 , Rn. 80, wonach bei der Beurteilung, ob ein Unionsbürger über ausreichende Existenzmittel verfügt, um ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 1 lit. b der Freizügigkeitsrichtlinie - in Österreich umgesetzt durch § 51 Abs. 1 Z 2 NAG - in Anspruch nehmen zu können, eine konkrete Prüfung der wirtschaftlichen Situation jedes Betroffenen vorzunehmen ist, ohne die beantragten Sozialleistungen zu berücksichtigen, was notwendig impliziert, dass die Beantragung von Sozialleistungen und allenfalls ein Bezug derselben nicht schon per se bedeutet, dass keine ausreichenden Existenzmittel vorliegen; siehe auch EuGH 19.09.2013, Brey, C-140/12 , Rn. 63 ff.).

11 Aber auch für die unmittelbar an die Ehescheidung anschließenden Zeiten war vor dem Hintergrund der Ergebnisse des Scheidungsvergleichs (siehe oben Rn. 2) und von § 56 Abs. 7 B-KUVG (woraus ein weiter bestehender Krankenversicherungsschutz der Revisionswerberin abzuleiten ist) das (weitere) Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Z 2 NAG nicht ausgeschlossen; ebensowenig wie für die vor der Eheschließung liegende Phase ab Meldung in der Wohnung des späteren Ehemannes - ab 26. März 2009 und somit im Übrigen fünf Jahre vor dem Bezug von Mindestsicherung durch die Revisionswerberin -, was die Revisionswerberin in ihrer Beschwerde gegen den Ausweisungsbescheid des BFA dann im Übrigen ausdrücklich vorgebracht hat.

12 Auch in der gegenständlichen Revision wird - noch erkennbar (schon in der Zulassungsbegründung) - mit einem Daueraufenthaltsrecht der Revisionswerberin nach § 53a NAG argumentiert. Da nach dem Gesagten nicht ausgeschlossen werden kann, dass das BVwG bei ordnungsgemäßer Beschäftigung mit diesem Aspekt im Sinn der obigen Überlegungen zur Unzulässigkeit der gegenständlichen Ausweisung hätte gelangen müssen, erweist sich die mithin zulässige Revision auch als berechtigt.

13 Angesichts dessen braucht nicht mehr darauf eingegangen werden, ob das BVwG angesichts seiner eigenen Feststellung, die Revisionswerberin stehe seit 13. März 2017 in einem freien Dienstverhältnis und sei "da" auch pflichtversichert, den vorliegenden Fall auch unter dem Gesichtspunkt des § 51 Abs. 1 Z 1 NAG (Bestand eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts als Arbeitnehmerin oder als Selbstständige) zu prüfen gehabt hätte und ob dem dazu in der Revision nunmehr erstatteten Vorbringen das im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof geltende Neuerungsverbot entgegensteht. Auch die vom BVwG vorgenommene Interessenabwägung braucht keiner näheren Untersuchung unterzogen zu werden. Dazu sei allerdings der Vollständigkeit halber angemerkt, dass sich das BVwG in diesem Kontext mit der Behauptung der Revisionswerberin hätte auseinandersetzen müssen, sie sei bereits im Dezember 2007 nach Österreich eingereist; dem gegenüber begnügte sich das BVwG nämlich mit der Feststellung, sie sei seit 26. März 2009 mit Hauptwohnsitz in Österreich gemeldet, obwohl bereits das BFA einen Aufenthalt der Revisionswerberin in Österreich seit 2007 nicht in Zweifel zog. Könnte die Revisionswerberin in diesem Sinn in Bezug auf den Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses schon auf einen rund neuneinhalbjährigen Aufenthalt in Österreich verweisen, so wäre auch auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes Bedacht zu nehmen gewesen, wonach Aufenthaltsbeendigungen nach so langem Inlandsaufenthalt nur dann für verhältnismäßig angesehen werden, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren (vgl. nur VwGH 23.02.2017, Ra 2016/21/0325, Rn. 9, mwN). Diese, zu mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalten entwickelte, Judikatur wurde vom Verwaltungsgerichtshof - bei stärkerem Integrationserfolg - nämlich auch auf Fälle übertragen, in denen die Aufenthaltsdauer knapp unter zehn Jahren lag (VwGH 14.04.2016, Ra 2016/21/0029, Rn. 14), was angesichts der offenkundig nicht unbeträchtlichen Integration der Revisionswerberin (abgesehen von der knapp fünfjährigen Ehe mit einem österreichischen Staatsbürger besteht nunmehr nach den Feststellungen des BVwG seit September 2016 eine aufrechte Lebensgemeinschaft) auch fallbezogen hätte in Betracht kommen können.

14 Da das BVwG allerdings die rechtlich gebotene Auseinandersetzung mit der Frage unterließ, ob die Revisionswerberin bereits ein Daueraufenthaltsrecht nach § 53a NAG erworben habe, war das angefochtene Erkenntnis schon deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

15 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil es einerseits über den nach der genannten Verordnung zustehenden Schriftsatzaufwand, der insbesondere auch Umsatzsteuer inkludiert (siehe etwa VwGH 20.12.2016, Ra 2016/21/0229, Rn. 15), hinausgeht und weil andererseits angesichts der bewilligten Verfahrenshilfe ein Ersatz der Gebühren nach § 24a VwGG nicht in Betracht kommt.

Wien, am 21. Dezember 2017

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