Normen
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
FrÄG 2015;
FrPolG 2005 §76 idF 2015/I/070;
FrPolG 2005 §77;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwGVG 2014 §24;
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Tunesiens, hatte am 2. Februar 2010 in Tunesien eine österreichische Staatsbürgerin geheiratet. In der Folge waren ihm wiederholt, zuletzt am 18. April 2015, für die Dauer von jeweils einem Jahr, zuletzt bis 6. März 2016, befristete Aufenthaltstitel als Familienangehöriger erteilt worden, auf Grund derer er sich seit April 2010 rechtmäßig in Österreich aufgehalten hatte. Am 1. März 2016 stellte er - diese Aufenthaltstitel betreffend - einen Verlängerungsantrag, obgleich die genannte Ehe mit rechtskräftigem Urteil des Bezirksgerichtes Baden vom 8. Juni 2015 gemäß § 55 EheG geschieden worden war.
2 Mit Bescheid vom 13. Juni 2016 versagte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) dem Revisionswerber (amtswegig) die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß den §§ 55 und 57 AsylG 2005. Es erließ ihm gegenüber gemäß § 10 Abs. 2 AsylG 2005 eine Rückkehrentscheidung nach "§ 52 Abs. 1 Z 1" Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Tunesien zulässig sei und erließ überdies gemäß § 53 Abs. 1 und Abs. 2 Z 1 FPG ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot. Gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG erkannte es einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung ab.
Eine vom Revisionswerber dagegen erhobene Beschwerde wurde vom Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom 7. Juli 2016 gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG als unbegründet abgewiesen.
3 Eine für den 14. Juni 2016 anberaumte Abschiebung nach Tunesien hatte der Revisionswerber dadurch vereitelt, dass er sich bei seiner Überstellung zum Flughafen Wien-Schwechat eine Schnittverletzung am linken Unterarm zufügte und fälschlich vorgab, einen Metallschlüssel verschluckt zu haben.
4 Mit - am selben Tag in Vollzug gesetztem - Mandatsbescheid vom 15. Juni 2016 ordnete das BFA gegenüber dem Revisionswerber gemäß § 76 Abs. 2 Z 1 FPG iVm § 57 Abs. 1 AVG die Schubhaft zum Zweck der Sicherung seiner Abschiebung an. Begründend verwies das BFA darauf, dass der Revisionswerber seit 3. März 2016 im Bundesgebiet nicht mehr aufrecht gemeldet, seit 6. Mai 2016 (nach einer früheren Tätigkeit als Koch) keiner geregelten Beschäftigung nachgegangen, nicht mehr versichert sowie nahezu mittellos sei. Auch bestehe keine begründete Aussicht, dass er künftig eine neue Arbeitsstelle finden werde. Er sei in Österreich während seines illegalen Aufenthalts untergetaucht, indem er "auf diversen Bahnhöfen und sonstigen nicht als Unterkunft geeigneten Stellen genächtigt" habe. Hinzu kämen mehrfache Anzeigen nach dem FPG und dem Meldegesetz sowie das erwähnte unkooperative Verhalten vom 14. Juni 2016, wodurch der Revisionswerber seine Abschiebung vereitelt habe. Dieser halte sich seit vier Monaten illegal in Österreich auf, sei weder beruflich noch sozial verankert und habe hier keine Familienangehörigen bzw. Verwandte. Seine Kernfamilie lebe im Heimatland. Zusammenfassend verneinte das BFA jeglichen Grund zur Annahme, der Revisionswerber würde sich "einem Verfahren auf freiem Fuß stellen". Die Anwendung gelinderer Mittel nach § 77 FPG könnte die Gefahr eines neuerlichen Untertauchens nicht abwenden, zumal eine Sicherheitsleistung auf Grund der finanziellen Situation des Revisionswerbers ausscheide und auch mit einer Unterkunftnahme in bestimmten Räumlichkeiten und einer periodischen Meldeverpflichtung nicht das Auslangen gefunden werden könnte.
5 Gegen die Anordnung der Schubhaft sowie seine fortdauernde Anhaltung in Schubhaft erhob der Revisionswerber am 17. Juni 2016 Beschwerde an das BVwG, in der er ausdrücklich die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragte. Er verwies insbesondere auf seinen seit 2010 andauernden legalen Aufenthalt im Bundesgebiet, die "nahezu durchgehende" Ausübung unselbständiger Beschäftigungen sowie den Erwerb von Deutschkenntnissen auf dem Niveau B2, insgesamt also auf das Vorliegen einer beruflichen und sozialen Verankerung. Aktuell bestehe ein aufrechtes Arbeitsverhältnis als Pizzakoch, sodass auch von Mittellosigkeit nicht die Rede sein könne. Er verfüge über einen weitreichenden Freundes- und Bekanntenkreis und könnte nach seiner Enthaftung im Haus einer konkret bezeichneten Zeugin, deren Einvernahme er beantragte, Wohnung nehmen. Selbst wenn man vom Bestehen eines Sicherungsbedarfs ausgehe, hätten im Hinblick auf die genannten Umstände gelindere Mittel gemäß § 77 FPG vorrangig angewendet werden müssen. Dafür kämen etwa die erwähnte Wohnungnahme in Verbindung mit einer periodischen Meldeverpflichtung in Betracht. Insgesamt seien somit Anordnung und Aufrechterhaltung der Schubhaft in rechtswidriger Weise erfolgt.
6 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 24. Juni 2016 wies das BVwG die Schubhaftbeschwerde gemäß § 76 Abs. 2 Z 1 FPG iVm § 22a Abs. 1 BFA-VG als unbegründet ab und erklärte die Anhaltung in Schubhaft "ab 03.06.2016" für rechtmäßig. Außerdem stellte es gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG iVm § 76 FPG fest, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen zum Entscheidungszeitpunkt vorlägen. Eine Revision sei gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
7 Begründend teilte das BVwG die vom BFA vertretene Ansicht und führte näher aus, der Revisionswerber sei von Jänner bis Juli 2016 mehrfach wegen Missachtung einer einstweiligen Verfügung (Verletzung des Schutzbereiches seiner ehemaligen Ehefrau), "Scheinmeldung, Ordnungsstörung (SPG) oder aggressivem Verhalten (SPG)", ebenfalls wegen einer Anstandsverletzung nach dem NÖ Polizeistrafgesetz angezeigt worden. Am 22. Mai und 3. Juni 2016 habe er sich den Zugang zu einem näher bezeichneten Seniorenheim erschlichen, wobei er jeweils in den frühen Morgenstunden betreten worden sei. Am 3. Juni 2016 habe er eine Ersatzfreiheitsstrafe angetreten. Am 13. Juni 2016 sei er infolge eines Festnahmeauftrages zur Durchführung der dann von ihm vereitelten Abschiebung festgenommen worden.
Dem Revisionswerber sei zwar zuzubilligen, dass er mehr als fünf Jahre lang in Österreich legal aufhältig, in dieser Zeit auch regelmäßig beschäftigt und amtlich gemeldet gewesen sei; dabei habe er sich grundlegend in Österreich integriert. Zuletzt habe er jedoch über keinen - eine legale unselbständige Berufstätigkeit ermöglichenden - Aufenthaltstitel verfügt. Die erst nach Verhängung der Schubhaft erfolgte Anmeldung als Arbeitnehmer durch einen mit dem Revisionswerber befreundeten Arbeitgeber stelle einen Freundschaftsdienst dar, der vorrangig zur Aufhebung der Schubhaft dienen solle. Zwar habe der Revisionswerber behauptet, diesen Vertrag "Anfang Juni" abgeschlossen zu haben, er habe jedoch nicht darlegen können, warum dessen Meldung bei der Gebietskrankenkasse nicht bereits früher erfolgt sei. Die sich daraus ergebende Unglaubwürdigkeit gelte umso mehr, weil der unterstandslose und beinahe mittellose Revisionswerber eine Beschäftigung jedenfalls schon in den letzten Monaten hätte brauchen können.
Da der Revisionswerber schon seit Anfang März unterstandslos und unstet in Österreich gelebt habe, könne ungeachtet der geltend gemachten Freundschaft zur namhaft gemachten Zeugin (als Unterkunftgeberin) nicht von einem Maß an sozialen Anknüpfungspunkten ausgegangen werden, das geeignet wäre, das Fehlen von Fluchtgefahr oder Sicherungsbedarf zu indizieren. Das gelte umso mehr, als die genannte Person den Revisionswerber zu einem Zeitpunkt nicht in ihre Wohnung aufgenommen habe, als er bereits eine Unterkunft benötigt hätte.
Infolge der erwiesenen mangelhaften Kooperation (Vereitelung der Abschiebung am 14. Juni 2016), fehlender Mittel zur Finanzierung des weiteren Aufenthalts in Österreich und Nichtfeststellbarkeit einer besonderen sozialen Verankerung habe das BFA zutreffend das Vorliegen von Fluchtgefahr bejaht, die unverändert aufrecht sei. Es bestünden keine feststellbaren familiären, beruflichen und substanziellen sozialen Anknüpfungspunkte, sodass nicht ersichtlich sei, was den Revisionswerber im Fall einer Entlassung aus der Schubhaft von einem neuerlichen Untertauchen abhalten sollte, zumal "die geplante Abschiebung nach Algerien" nunmehr zeitnah bevorstehe. Zudem fehlten ein gesicherter Wohnraum und ein Hinweis auf substanzielle Existenzmittel.
Mit einem gelinderen Mittel könne nicht das Auslangen gefunden werden, weil es auf Grund der erheblichen Fluchtgefahr mit hoher Wahrscheinlichkeit keine ausreichende Sicherstellung der Abschiebung bedeuten würde.
Im Hinblick auf den hinreichend geklärten Sachverhalt habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG von der Abhaltung der beantragten Beschwerdeverhandlung Abstand genommen werden können. In der Beschwerde fänden sich auch keine substanziellen Hinweise auf einen möglicherweise unvollständig ermittelten entscheidungsrelevanten Sachverhalt.
8 Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens (Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet) in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
Die Revision ist zulässig und berechtigt.
9 Auch für die zentrale Schubhaftnorm des § 76 FPG idF des FrÄG 2015 gilt im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben, dass Schubhaft stets nur "ultima ratio" sein darf und dass ihre Verhängung zu unterbleiben hat, wenn das zu sichernde Ziel auch durch die Anwendung gelinderer Mittel erreicht werden kann (vgl. das hg. Erkenntnis vom 20. Oktober 2016, Ra 2016/21/0243, mwN).
10 Vor diesem Hintergrund hätte sich das BVwG zunächst mit dem (der Aktenlage entsprechenden) Vorbringen des Revisionswerbers, er habe sich seit 1. März 2016 in einem Verlängerungsverfahren nach § 24 NAG befunden, auseinandersetzen müssen, ist insoweit doch - wie die Revision zutreffend darstellt -
im Zeitpunkt der Verhängung der Schubhaft jedenfalls nicht von einem bereits seit vier Monaten andauernden illegalen Aufenthalt in Österreich auszugehen (vgl. dazu ausführlich das hg. Erkenntnis vom 20. Oktober 2016, Ra 2016/21/0224).
11 Ebenso erweist sich die Entscheidung des BVwG als mangelhaft, als dieses lediglich verschiedene gegenüber dem Revisionswerber erfolgte Anzeigen ins Treffen führt, ohne nachzuprüfen, ob und zu welchem Ergebnis, etwa einer verwaltungsstrafrechtlichen Verurteilung, diese geführt haben.
12 Auch kann angesichts des (in Rz 5) wiedergegebenen, vom Revisionswerber erstatteten Beschwerdevorbringens insbesondere zum Vorliegen eines bereits Anfang Juni 2016 begründeten Arbeitsverhältnisses sowie einer gesicherten Wohnmöglichkeit, dem das BVwG nicht gefolgt ist, keinesfalls gesagt werden, es liege ein - etwa auch für die Beurteilung des Ausreichens gelinderer Mittel - hinreichend geklärter Sachverhalt vor, sodass von der Abhaltung der beantragten Beschwerdeverhandlung (nach § 21 Abs. 7 BFA-VG) Abstand genommen werden dürfte (vgl. dazu etwa die hg. Erkenntnisse vom 20. Oktober 2016, Ra 2015/21/0091 und Ra 2016/21/0243).
13 Das angefochtene Erkenntnis ist daher mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben war.
14 Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3, 5 und 6 VwGG abgesehen werden.
15 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Da in den dort angeführten Pauschalbeträgen die Kosten für die Einbringung der Revision mittels ERV (sowie die Umsatzsteuer) bereits enthalten sind (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 15. September 2016, Ro 2015/21/0043), war das insoweit erhobene Mehrbegehren abzuweisen.
Wien, am 20. Dezember 2016
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