VwGH Ra 2017/22/0007

VwGHRa 2017/22/000727.7.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, Hofrätin Mag.a Merl und Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Lechner, über die Revision des C E (alias J O), in W, vertreten durch Dr. Manfred Ainedter, Rechtsanwalt in 1020 Wien, Taborstraße 22A, dieser vertreten durch Mag. Ronald Frühwirth, Rechtsanwalt in 8020 Graz, Grieskai 48, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. Dezember 2016, I411 1262293-2/3E, betreffend Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG sowie Rückkehrentscheidung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §55;
AsylG 2005 §57;
AsylG 2005 §58 Abs3;
AsylGDV 2005 §8;
BFA-VG 2014 §18 Abs2 Z1;
BFA-VG 2014 §20 Abs1;
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
BFA-VG 2014 §9;
FrPolG 2005 §46;
FrPolG 2005 §52 Abs3;
FrPolG 2005 §52 Abs9;
FrPolG 2005 §55 Abs4;
MRK Art8;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGVG 2014 §27;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein nigerianischer Staatsangehöriger, reiste am 28. Juni 1999 illegal nach Österreich ein und stellte, nach rechtskräftiger Beendigung seines zweiten Asylverfahrens im Jahr 2011, am 7. August 2014 einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Mit Schriftsatz vom 10. August 2016 änderte er diesen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 AsylG 2005. Der Revisionswerber lebt mit seiner Lebensgefährtin und zwei gemeinsamen Kindern, alle sind nigerianische Staatsangehörige und verfügen über keine Aufenthaltstitel in Österreich, zusammen. Er ist nicht berufstätig, sondern bezieht Leistungen aus der Grundversorgung.

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Behörde) wies den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 mit Bescheid vom 4. Oktober 2016 ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005, erließ eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 Fremdenpolizeigesetz (FPG) (Spruchpunkt I), wies die beiden Anträge auf Heilung eines Mangels gemäß § 4 Abs. 1 Z 2 und 3 Asylgesetz-Durchführungsverordnung (AsylG-DV) ab (Spruchpunkt II), stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG die Zulässigkeit einer Abschiebung gemäß § 46 FPG fest (Spruchpunkt III), gewährte keine Frist für eine freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 4 FPG (Spruchpunkt IV) und erkannte die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-Verfahrensgesetz ab (Spruchpunkt V).

3 In der dagegen erhobenen Beschwerde bestritt der Revisionswerber den von der Behörde festgestellten Sachverhalt insofern, als diese davon ausging, dass er kein Sprachzeugnis vorgelegt habe, seine Identität nicht feststellbar sei und seine in Nigeria lebenden Schwestern ihn finanziell unterstützen könnten. Darüber hinaus führte er aus, auch wenn die Rechtsverbindlichkeit des von ihm vorgelegten Arbeitsvorvertrages abgelaufen sei, könne er nach wie vor bei dieser Firma arbeiten. Es sei nicht ersichtlich, dass die damals zuständige Bundespolizeidirektion zwischen den Jahren 2000 und 2005 versucht hätte, ihn abzuschieben; eine Außerlandesbringung sei daher nicht daran gescheitert, dass er falsche Identitäten angegeben habe. Von 3. November 2011 bis 28. Juli 2014 habe er zwar über keine Meldeadresse verfügt, er sei aber weiterhin an der Adresse seiner Lebensgefährtin aufhältig gewesen. Von der Abmeldung habe er nichts gewusst; diese sei die Folge eines Streites zwischen ihm und seiner Lebensgefährtin gewesen; die Wiederanmeldung sei versehentlich unterblieben. Die Behörden hätte seinen Aufenthaltsort ermitteln können, die Einleitung eines aufenthaltsbeendenden Verfahrens wäre jederzeit möglich gewesen. Der Verschaffung eines persönlichen Eindruckes komme bei der Beurteilung der Intensität des Privat- und Familienlebens eine besondere Bedeutung zu. Im Hinblick darauf beantragte der Revisionswerber ausdrücklich die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, um den maßgeblichen Sachverhalt - mittels seiner Einvernahme und der seiner Lebensgefährtin - zu klären. Weiters verwies der Revisionswerber auf die hg. Judikatur, wonach bei einem über zehnjährigen Aufenthalt regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen auszugehen sei (Hinweis auf das hg. Erkenntnis vom 10. Mai 2011, 2011/18/0100).

4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde als unbegründet ab. Eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG wurde für nicht zulässig erklärt.

5 Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, der Revisionswerber habe sich spätestens seit 2005 seines unsicheren Aufenthaltes bewusst sein müssen; sein Privat- und Familienleben sei erst nach diesem Zeitpunkt entstanden. Durch die Angaben unrichtiger Identitäten, unrichtiger Geburtsdaten und eines unrichtigen Herkunftsstaates habe er erkennen lassen, dass er eine Aufenthaltsbeendigung zu verhindern bzw. zu erschweren versuche. Im Hinblick auf sein Privatleben zeige der Revisionswerber Integrationsbemühungen und habe ein Zeugnis über den Abschluss einer Deutschprüfung auf Niveau A 2, Unterstützungserklärungen, Mitgliedsbestätigung einer Glaubensgemeinschaft, eine Einstellungszusage und einen Mietvertrag vorgelegt. Diese integrativen Bemühungen seien jedoch nach der höchstgerichtlichen Rechtsprechung aufgrund der nach wie vor bestehenden Abhängigkeit von der österreichischen Grundversorgung zu relativieren. Aus dem von ihm vorgelegten Arbeitsvorvertrag lasse sich keine Garantie auf eine (Weiter‑)Beschäftigung ableiten. Auch könne nach wie vor von Bindungen des Revisionswerbers zu seinem Heimatstaat Nigeria ausgegangen werden. Zwei Schwestern von ihm lebten in Nigeria und er habe regelmäßigen Kontakt zu ihnen. Ein Eingriff in das Privat- und Familienleben des Revisionswerbers gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK könne als verhältnismäßig angesehen werden.

6 Den Entfall der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG iVm § 24 VwGVG begründete das BVwG damit, dass der Sachverhalt durch die Behörde vollständig erhoben worden sei und nach wie vor die gebotene Aktualität aufweise. Im Übrigen finde sich in der Beschwerde lediglich ein unsubstanziiertes Vorbringen, welches im gegenständlichen Fall nicht dazu geeignet sei, die erstinstanzliche Entscheidung in Frage zu stellen. Der maßgebliche Sachverhalt könne aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde als geklärt angesehen werden, eine mündliche Erörterung lasse keine weitere Klärung der Rechtssache erwarten.

7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

8 In seiner Zulässigkeitsbegründung bringt der Revisionswerber vor, das BVwG sei von der hg. Rechtsprechung abgewichen, weil es nicht von einem geklärten Sachverhalt hätte ausgehen dürfen und eine mündlichen Verhandlung durchführen hätte müssen (Hinweis ua. auf die hg. Erkenntnisse vom 20. Oktober 2016, Ra 2016/21/0289 und vom 23. November 2016, Ra 2016/04/0085). Das BVwG sei auch bei der Interessenabwägung gemäß § 9 BFA-VG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bei Beurteilung eines über zehnjährigen Aufenthaltes abgewichen (Hinweis ua. auf das hg. Erkenntnis, Ro 2016/22/0005).

9 Die Revision ist im Hinblick auf das Vorbringen zum Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung zulässig und berechtigt.

10 Zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen von einer beantragten mündlichen Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG abgesehen werden kann, setzte sich der VwGH ausführlich in seinem Erkenntnis vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017, 0018, auf welches gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird, auseinander.

11 Darüber hinaus betonte der Verwaltungsgerichtshof in seiner ständigen Rechtsprechung, dass die Frage der Intensität der privaten und familiären Bindungen in Österreich nicht auf die bloße Beurteilung von Rechtsfragen reduziert werden kann, sondern der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände besondere Bedeutung zukommt (vgl. das Erkenntnis vom 23. Juni 2015, Ra 2014/22/0181).

12 Im vorliegenden Fall beantragte der Revisionswerber in der Beschwerde unstrittig die Durchführung einer mündlichen Verhandlung durch das BVwG und trat dem von der Behörde festgestellten Sachverhalt (Nichtvorlage eines Sprachzertifikates, Unmöglichkeit der Feststellung seiner Identität, fehlende Arbeitsplatzzusage, Hilfestellung durch seine Schwestern in Nigeria, Vereitelung der Außerlandesbringung) entgegen.

13 Angesichts dieses Vorbringens kann - entgegen der vom BVwG vertretenen Auffassung - nicht gesagt werden, der Revisionswerber habe nur ein unsubstanziiertes Vorbringen erstattet, das keine Klärung des Sachverhaltes in der mündlichen Verhandlung erwarten lasse. Es trifft auch nicht zu, dass die Behörde den Sachverhalt vollständig erhoben habe und dieser immer noch aktuell sei, zumal das BVwG seiner Entscheidung - im Unterschied zur Behörde - Deutschkenntnisse des Revisionswerbers zugrunde legte. Insbesondere zur Intensität seines Familienlebens hätte das BVwG jedoch nicht von einem iSd § 21 Abs. 7 BFA-VG geklärten Sachverhalt ausgehen dürfen, die beantragte Verhandlung durchführen und dabei die Lebensgefährtin als Zeugin hören müssen. Angesichts des langen Aufenthaltes (seit 1999) des Revisionswerbers in Österreich und der ständigen hg. Judikatur dazu (vgl. beispielsweise das hg. Erkenntnis vom 23. Februar 2017, Ra 2016/21/0325) kommt der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände besonderes Gewicht zu.

14 Indem das BVwG dies verkannte, belastete es seine Entscheidung, soweit es die Abweisung der Beschwerde hinsichtlich des beantragten Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 betrifft, mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit. Angesichts dieser Aufhebung können die Aussprüche über die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, die Abweisung des Antrages auf Heilung eines Mangels gemäß § 8 AsylG-DV, die Zulässigkeit der Abschiebung nach Nigeria, die Nichtgewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise und die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung keinen Bestand haben und sind daher ebenfalls aufzuheben (vgl. das hg. Erkenntnis vom 12. November 2015, Ra 2015/21/0101).

15 Darüber hinaus wird darauf hingewiesen, dass in einem Verfahren nach § 55 AsylG 2005 eine amtswegige Prüfung gemäß § 57 AsylG 2005 ("Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz") nicht vorgesehen ist (vgl. diesbezüglich die ausführliche Begründung im hg. Erkenntnis vom 12. November 2015, Ra 2015/21/0101). Im Hinblick darauf hätte das BVwG gemäß § 27 VwGVG den Ausspruch der Behörde zu § 57 AsylG 2005 ersatzlos beheben müssen.

16 Das angefochtene Erkenntnis war somit wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

17 Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 27. Juli 2017

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