VwGH Ra 2016/18/0171

VwGHRa 2016/18/017121.2.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Mag. Nedwed und die Hofrätin Mag. Hainz-Sator als Richterinnen und Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag.a Schweda, über die Revision des N A in W, vertreten durch Mag. Katrin Ehrbar, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Zelinkagasse 6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Juni 2016, Zl. W222 1435211-2/12E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §3 Abs1;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2017:RA2016180171.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber ist Staatsangehöriger von Afghanistan und stellte am 01. März 2013 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Zu seinen Fluchtgründen führte er im Wesentlichen aus, dass es in seiner Heimatregion einen - mit seinem Vater verfeindeten - "Kommandanten A" gegeben habe, der seine gesamte Familie tyrannisiert habe. Sein Vater sei zudem Mitglied einer Gruppierung gewesen, die gegen die Taliban gekämpft habe. Die Taliban seien hinter seinem Vater her gewesen, hätten diesen gefoltert, seine Hand verbrannt und die ganze Familie mit dem Tod bedroht. Sein Vater sei geflüchtet, woraufhin die Taliban eines Nachts ins Haus des Revisionswerbers gekommen seien und ihn mit dem Tod bedroht hätten, wenn er nicht den Aufenthaltsort seines Vaters preisgebe. Aus Angst von den Taliban getötet zu werden, sei der Revisionswerber daher (etwa sechs Monate vor Antragstellung) geflüchtet.

2 Mit Bescheid vom 1. Dezember 2014 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers im zweiten Rechtsgang hinsichtlich der Zuerkennung des Status als Asylberechtigten ab, erkannte ihm jedoch den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu.

3 Die Behörde stellte fest, dass es sich bei dem Revisionswerber um einen schiitischen Hazara aus der Provinz Ghazni in Afghanistan handle. Die Nichtzuerkennung des Status als Asylberechtigten begründete das BFA im Wesentlichen damit, dass das Fluchtvorbringen zur behaupteten Bedrohung durch die Taliban aufgrund von Widersprüchen und der allgemeinen Vagheit des Vorbringens nicht glaubwürdig sei.

4 Gegen die Nichtzuerkennung des Status als Asylberechtigter richtete sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde des Revisionswerbers.

5 In der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG vom 13. April 2016 und in der Stellungnahme vom 21. April 2016 brachte der Revisionswerber vor, dass gerade in seiner Heimatregion Ghazni eine Gruppenverfolgung der Hazara durch die Taliban nicht ausgeschlossen werden könne. In der Stellungnahme vom 21. April 2016 verwies der Revisionswerber zudem auf einen "Country Report on Human Rights Practices 2015 - Afghanistan" des US State Department, der die Gefährdungslage der Hazara in der Provinz Ghazni belegen solle. Das BVwG habe daher sein besonderes Gefährdungspotential aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara zu berücksichtigen.

6 Mit dem nunmehr beim Verwaltungsgerichtshof in Revision gezogenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet ab.

7 Nach Wiedergabe des Verfahrensganges traf das BVwG folgende Feststellungen:

"Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Hazara an und ist schiitischen Glaubensbekenntnisses.

Nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer Afghanistan aus den von ihm genannten Gründen verlassen hat.

Zur aktuellen Lage in Afghanistan werden folgende Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 21.01.2016 zugrunde gelegt:

(...)"

8 Im Rahmen der Beweiswürdigung führte das BVwG aus, die Angaben des Revisionswerbers zu seinen Fluchtgründen seien aufgrund der Widersprüchlichkeit und der Steigerung des Vorbringens nicht glaubwürdig. Das BVwG gehe daher davon aus, dass die behaupteten fluchtauslösenden Ereignisse nicht stattgefunden hätten und die behaupteten Bedrohungen für den Revisionswerber in Afghanistan nicht bestehen würden.

9 Im Zuge der rechtlichen Beurteilung kam das BVwG zu folgenden Schlüssen:

"Umstände, die individuell und konkret den Beschwerdeführer betreffen und auf eine konkrete Verfolgung des Beschwerdeführers hindeuten könnten, konnten nicht festgestellt werden.

(...)

Allein aus den Feststellungen zur allgemeinen Lage in Afghanistan kann daher nicht darauf geschlossen werden, dass gleichsam jede dort aufhältige Person, oder jene, die nach Afghanistan zurückkehrt, dort in asylrechtlich relevanter Weise Verfolgung zu gewärtigen hätte. Dies gilt auch für Angehörige sog. Minderheitenstämme (...)."

10 Die ordentliche Revision sei gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung abhänge.

11 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, in der zur Zulässigkeit und in der Sache im Wesentlichen vorgebracht wird, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, indem es keinerlei Feststellung zu dem asylrechtlich relevanten Umstand einer möglichen Gruppenverfolgung der Hazara in der Heimatregion des Revisionwerbers getroffen habe. Darüber hinaus habe das BVwG die Minderjährigkeit des Revisionswerbers bei Erleben der Fluchtgründe in keiner Weise gewürdigt und damit gegen die Grundsätze einer ordnungsgemäßen Beweiswürdigung verstoßen.

12 Das BFA erstattete keine Revisionsbeantwortung.

 

13 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

14 Die Revision ist zulässig, sie ist auch begründet. 15 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhaltes, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. zum Ganzen VwGH vom 21. Oktober 2014, Ro 2014/03/0076; daran anschließend etwa VwGH vom 28. Jänner 2015, Ra 2014/18/0097, sowie vom 1. März 2016, Ra 2015/18/0283).

16 Das Verwaltungsgericht hat neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. etwa VwGH vom 20. Oktober 2015, Ra 2014/09/0028, mwN).

17 Die Gefahr der Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 in Verbindung mit Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK kann nicht nur ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Sie kann auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende "Gruppenverfolgung", hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (vgl. VwGH vom 8. September 2016, Ra 2016/20/0036, mwN).

18 Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das BVwG mit dem angefochtenen Erkenntnis gegen die ihm obliegende Begründungspflicht verstoßen:

19 Der Revisionswerber hat sowohl in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 13. April 2016 sowie in der schriftlichen Stellungnahme vom 21. April 2016 konkret und unter Verweis auf einen Bericht vom US State Department eine Gruppenverfolgung der Hazara u.a. in der Provinz Ghazni behauptet. Mit diesem Vorbringen hat sich das Bundesverwaltungsgericht nicht auseinander gesetzt. Es hat weder festgestellt, dass bzw. ob der Revisionswerber überhaupt aus der Provinz Ghaznis stammt, ob es dort - wie behauptet - zu Verfolgungshandlungen durch die Taliban gegen Hazara gekommen ist, die als Gruppenverfolgung im Sinne der dargestellten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes anzuerkennen wäre, und ob dem Revisionswerber auch bei Rückkehr in seinen Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine solche Gruppenverfolgung drohen könne. Schon deshalb kann das angefochtene Erkenntnis keinen Bestand haben.

20 Hinzu kommt, dass das Bundesverwaltungsgericht - wie die Revision zurecht aufzeigt - in seiner Beweiswürdigung zum individuellen Fluchtvorbringen des Revisionswerbers dem Umstand der Minderjährigkeit beim Erleben der Fluchtgründe abweichend von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshof (vgl. etwa VwGH vom 16. April 2002, 2000/20/200, und vom 24. September 2014, Ra 2014/19/0020) keine erkennbare Beachtung geschenkt hat. Auch dieser Begründungsmangel wird im fortgesetzten Verfahren zu beheben sein.

21 Aus den dargelegten Erwägungen war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

22 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 21. Februar 2017

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