Normen
32003R0343 Dublin-II Art19 Abs4;
32003R0343 Dublin-II Art20 Abs2;
32013R0604 Dublin-III Art29 Abs2;
AsylG 2005 §5 Abs1;
EURallg;
32003R0343 Dublin-II Art19 Abs4;
32003R0343 Dublin-II Art20 Abs2;
32013R0604 Dublin-III Art29 Abs2;
AsylG 2005 §5 Abs1;
EURallg;
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Begründung
1 Die mitbeteiligte Partei, ein irakischer Staatsangehöriger, stellte - laut Verfahrensakten - am 14. Jänner 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet. Aufgrund eines Eurodac-Treffers zu Bulgarien richtete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) am 24. Jänner 2015 ein auf Art. 13 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin III-Verordnung) gestütztes Wiederaufnahmeersuchen an Bulgarien, dem die bulgarischen Behörden mit Schreiben vom 24. März 2015 zustimmten.
2 Mit Bescheid vom 29. Juli 2015 wies das BFA den Antrag auf internationalen Schutz der mitbeteiligten Partei gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück. Es sprach aus, dass gemäß Art. 13 Abs. 1 Dublin III-Verordnung Bulgarien für die Prüfung des Antrages zuständig sei, ordnete gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) die Außerlandesbringung an und stellte fest, dass demzufolge die Abschiebung nach Bulgarien gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei.
3 Gegen diesen Bescheid erhob die mitbeteiligte Partei Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) und stellte gleichzeitig den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
4 Mangels Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung durch das BVwG erließ das BFA am 15. September 2015 einen Festnahmeauftrag für eine geplante Abschiebung der mitbeteiligten Partei am 23. September 2015.
5 Mit Bericht vom 22. September 2015 teilte die Landespolizeidirektion Vorarlberg, Polizeiinspektion L, dem BFA mit, dass dem Festnahmeauftrag "trotz intensivster Anstrengungen nicht entsprochen werden konnte". Am 21. September 2015 hätten Beamte der Sektorenstreife L sowie der Polizeiinspektion B um 06:15 Uhr die Unterkunft der mitbeteiligten Partei - einen Pfarrhof - aufgesucht. Es hätte sich aber trotz intensiven Läutens niemand gemeldet. Aus diesem Grund sei eine Standobservation im Nahebereich des Gebäudes bis gegen 07:00 Uhr durchgeführt worden. Weiters sei Kontakt mit einer Bediensteten der Sozialabteilung der Gemeinde aufgenommen worden. Erhebungen hinsichtlich des Aufenthaltsortes des unterkunftgebenden Pfarrers hätten ergeben, dass dieser verreist gewesen sei. Die Pfarrsekretärin habe keine Angaben zu dem Aufenthaltsort der mitbeteiligten Partei machen können. Eine Überprüfung beim ehemaligen Wohnort der mitbeteiligten Partei sowie im Laufe des Tages durchgeführte Kontrollen beim aktuellen Wohnort seien jeweils negativ verlaufen. Am 22. September 2015 sei der Wohnort der mitbeteiligten Partei um 06:15 Uhr aufgesucht worden. Der angetroffene Pfarrer habe angegeben, dass sich die mitbeteiligte Partei nicht im Pfarrhof aufhalte; den Aufenthaltsort wisse er nicht. Eine Observation des Gebäudes bis 06:45 Uhr habe ebenso wie eine Sicherheitspatrouille zwischen 07:15 und 08:00 Uhr keine weiteren Ergebnisse erbracht.
6 Mit Eingabe vom 23. September 2015 teilte die mitbeteiligte Partei durch ihre Rechtsvertretung dem BVwG unter anderem mit, das BFA habe an die Polizeiinspektion L einen Festnahmeauftrag gegen die mitbeteiligte Partei übermittelt. Unter Verweis auf die sich verschlechternde Lage in den Balkanstaaten, beantragte die mitbeteiligte Partei wiederum, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
7 Mit Schreiben vom 24. September 2015 teilte das BFA den bulgarischen Behörden mit, dass die Überstellung verschoben habe werden müssen, weil die mitbeteiligte Partei flüchtig sei, weshalb um Verlängerung der Überstellungsfrist auf 18 Monate gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-Verordnung ersucht werde.
8 Mit Schriftsatz vom 15. Oktober 2015 brachte die mitbeteiligte Partei vor dem BVwG vor, dass gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-Verordnung die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat übergehe, wenn die Überstellung nicht innerhalb einer Frist von sechs Monaten durchgeführt werde. Die Sechsmonatsfrist sei im Fall der mitbeteiligten Partei am 24. September 2015 abgelaufen und Österreich sohin für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig. Die mit dem Bescheid des BFA angeordnete Außerlandesbringung sei wegen Ablaufs der Sechsmonatsfrist nicht mehr zulässig.
9 Unter Bezugnahme auf das Vorbringen der mitbeteiligten Partei, wonach die Überstellungsfrist bereits abgelaufen sei, ersuchte das BVwG am 21. Oktober 2015 das BFA um Bekanntgabe, ob die Überstellungsfrist im Verfahren der mitbeteiligten Partei "ausgesetzt" worden sei. Am folgenden Tag, dem 22. Oktober 2015, gab das BFA in Beantwortung der Anfrage per E-Mail bekannt, dass im Verfahren der mitbeteiligten Partei eine "Aussetzung" vorgenommen worden sei.
10 Mit Erkenntnis vom 23. Oktober 2015 gab das BVwG der Beschwerde der mitbeteiligten Partei gemäß § 21 Abs. 3 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) statt, ließ den Asylantrag zu und behob den bekämpften Bescheid.
In seinen Erwägungen stellte das BVwG zunächst Folgendes fest:
"1. Feststellungen:
Der Antragsteller ist syrischer Staatsangehöriger und beantragte am 10.05.2015 nach illegaler Einreise die Gewährung internationalen Schutzes. Der Antragsteller hat am 06.05.2015 in Bulgarien die Gewährung internationalen Schutzes beantragt. Das BFA richtete am 13.05.2015 ein Wiederaufnahmeersuchen an Bulgarien, welchem Bulgarien mit Schreiben vom 26.05.2015 ausdrücklich zustimmte.
Eine Überstellung der Partei nach Bulgarien ist nach der Aktenlage bis zum Entscheidungszeitpunkt nicht erfolgt."
In der rechtlichen Beurteilung führte das BVwG auszugsweise Folgendes aus:
"...
Im gegenständlichen Fall ergibt sich aus den oa. Ausführungen, dass nunmehr nach Ablauf von jedenfalls mehr als 6 Monaten nach Annahme des Aufnahmeantrages durch Schweden am 19.12.2013 aufgrund der nicht erfolgten fristgerechten Überstellung gem. § 5 AsylG iVm Art. 19 Abs. 3 und 4 Dublin II-VO Österreich spätestens mit Ablauf des 19.06.2014 für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz zuständig geworden ist.
...
Das den Antrag des vormaligen Beschwerdeführers auf internationalen Schutz rechtskräftig zurückweisende Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes war daher aufzuheben.
Durch die erfolgte Aufhebung des Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 30.04.2014 ist das Verfahren der Partei wieder in das Stadium der Beschwerdeanhängigkeit zurückgetreten, sodass das Bundesverwaltungsgericht nunmehr über die Beschwerde gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.04.2014 abzusprechen hat. Wie sich aus der dargestellten Faktenlage ergibt, ist die vormals bestehende Zuständigkeit Schwedens zur Prüfung des Asylantrages des Beschwerdeführers durch Fristablauf erloschen, sodass der angefochtene Bescheid des Bundesasylamtes, mit welchem der Antrag gem. § 5 AsylG als unzulässig zurückgewiesen wurde, keinen Bestand mehr haben kann und folglich der Beschwerde gem. § 21 Abs. 3 BFA-VG stattzugeben war.
Die hier maßgeblichen Bestimmungen der Verordnung (EG)
Nr. 343/2003 des Rates (Dublin II-VO) lauten:
...
Angesichts dessen, dass Bulgarien mit Schreiben vom 24.03.2015 der Aufnahme der Beschwerde führenden Partei zugestimmt hat, und im vorliegenden Fall der Beschwerde aufschiebende Wirkung weder zukommt noch zuerkannt worden ist, endete die Frist zur Überstellung des Beschwerdeführers nach Bulgarien gem. Art 19 Abs. 3 leg.cit. nach 6 Monaten mit Ablauf des 24.09.2015. Hinweise dafür, dass die Beschwerde führende Partei seit ihrer Einreise ins Bundesgebiet inhaftiert oder flüchtig gewesen wäre, sodass die Überstellung aus diesem Grund nicht erfolgt wäre und sich die Überstellungsfrist gem. Art. 19 Abs. 4, der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates verlängert hätte, sind nicht ersichtlich.
Somit ist mit Ablauf der Frist die Zuständigkeit zur Durchführung des Asylverfahrens auf Österreich (vgl. hierzu Filzwieser/Sprung, Dublin II-Verordnung3, 2009, K12 zu Art. 20, Seite 173f.), ex lege übergegangen, sodass die erstinstanzlichen Bescheide zu beheben und die Verfahren zuzulassen waren."
11 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision des BFA.
Zur Zulässigkeit bringt diese vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Anforderungen an die Begründung einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung und zur maßgeblichen Sach- und Rechtslage abgewichen. Das BVwG habe sich etwa in seiner gesamten rechtlichen Beurteilung auf die Dublin II-Verordnung bezogen; da die Antragstellung der mitbeteiligten Partei jedoch am 14. Jänner 2015 erfolgt sei, sei gemäß Art. 49 Satz 2 Dublin III-Verordnung diese Verordnung anwendbar.
Indem das BVwG ignoriert habe, dass die mitbeteiligte Partei am 21. September 2015 im Zuge der geplanten Festnahme aus von ihr vertretbaren Gründen für die Behörde nicht auffindbar gewesen sei und das BVwG auch nicht auf die ihm bekanntgegebene Verlängerung der Überstellungsfrist eingegangen sei, weiche die Entscheidung zudem von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (Dublin II-VO) - welche nach Ansicht des BFA auch auf den nunmehr geltenden Art. 29 Abs. 2 Dublin III-Verordnung übertragbar sei - ab, wonach unter "flüchtig" alle Sachverhalte zu subsumieren seien, in denen der Asylwerber aus von diesem zu vertretenden Gründen für die Behörden des ersuchenden Staates nicht auffindbar sei.
Die mitbeteiligte Partei erstattete eine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
Die Revision ist zulässig, sie ist auch begründet.
12 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben.
Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. zum Ganzen VwGH vom 21. Oktober 2014, Ro 2014/03/0076; daran anschließend etwa VwGH vom 28. Jänner 2015, Ra 2014/18/0097).
13 Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis gegen die ihm obliegende Begründungspflicht verstoßen:
Abgesehen davon, dass das angefochtene Erkenntnis von einer falschen Staatsangehörigkeit der mitbeteiligten Partei ausgeht, es offensichtlich Textbausteine enthält, die keinen Bezug zum vorliegenden Fall haben (erwähnt wird ein Dublin-Verfahren mit Schweden in den Jahren 2013/2014, das in den Akten keine Deckung findet) und das BVwG - zu Unrecht - die Dublin II-Verordnung, statt richtig die Dublin III-Verordnung anwendet, lässt sich weder dem Verfahrensgang noch den Erwägungen des angefochtenen Erkenntnisses entnehmen, dass sich das BVwG mit den entscheidungsrelevanten Umständen auseinandergesetzt hätte. Im Zusammenhang mit einer allfälligen Verlängerung der Überstellungsfrist auf 18 Monate findet sich in der Entscheidung bloß die allgemeine Aussage, es seien keine Hinweise dafür ersichtlich, dass die mitbeteiligte Partei seit ihrer Einreise ins Bundesgebiet inhaftiert oder flüchtig gewesen wäre.
Die Revision weist in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, dass der Verwaltungsgerichtshof zu Art. 19 Abs. 4 bzw. Art. 20 Abs. 2 Dublin II-Verordnung bereits ausgesprochen hat, dass unter "flüchtig" im Sinne dieser Bestimmungen alle Sachverhalte zu subsumieren sind, in denen der Asylwerber aus von diesem zu vertretenden Gründen für die Behörden des die Überstellung durchführen wollenden Staates nicht auffindbar ist (vgl. VwGH vom 19. Juni 2008, 2007/21/0509, mwN). Diese Rechtsprechung hat auch im Anwendungsbereich der Dublin III-Verordnung, dessen Art. 29 Abs. 2 - sofern hier wesentlich - den Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 2 Dublin II-Verordnung entspricht, weiterhin Gültigkeit.
Vor diesem Hintergrund wäre das BVwG jedenfalls gehalten gewesen, sich mit dem laut Verfahrensakten am 8. Oktober 2015 beim BVwG eingelangten Bericht der Polizeiinspektion L betreffend die versuchte Festnahme der mitbeteiligten Partei zum Zweck der Überstellung nach Bulgarien und der Mitteilung des BFA, dass im Verfahren der mitbeteiligten Partei eine "Aussetzung" vorgenommen worden sei, auseinanderzusetzen, nachvollziehbare Feststellungen dazu zu treffen und diese einer rechtlichen Beurteilung zu unterziehen.
14 Schon aus diesen Erwägungen war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
Wien, am 1. März 2016
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