VwGH Ra 2016/20/0036

VwGHRa 2016/20/00368.9.2016

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Beck sowie den Hofrat Mag. Straßegger und die Hofrätin Dr. Leonhartsberger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Harrer, über die Revision des H in W, vertreten durch Mag. Albin Maric, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Lerchenfelder Straße 39, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 11. Jänner 2016, Zl. L519 2108982- 1/17E, betreffend eine Angelegenheit nach dem Asylgesetz 2005, zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §3 Abs1;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
AsylG 2005 §3 Abs1;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Pakistans und der Volksgruppe der Paschtunen zugehörig, brachte am 29. Mai 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) ein. Er begründete diesen Antrag im Wesentlichen damit, dass er Pakistan aus Angst vor den Taliban verlassen habe. Es habe ständig Anschläge gegeben und die Lebensbedingungen seien sehr schwer. Zudem habe er in Pakistan Angst, weil er Schiit sei.

2 Mit Bescheid vom 2. Juni 2015 wies das BFA den Antrag auf internationalen Schutz sowohl gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nach den §§ 57 und 55 AsylG 2005, erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Pakistan zulässig sei (Spruchpunkt III.).

3 Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde, in welcher er unter anderem vorbrachte, er sei Paschtune und Schiit aus den Stammesgebieten (FATA). Er komme aus Parachinar, der Hauptstadt der Kurram Agency. Die FATA-Region gelte als besonders gefährlich und es gebe eine signifikante Aktivität von paramilitärischen Gruppen, Drohnenangriffe durch das US-Militär und Angriffe auf die pakistanischen Streitkräfte.

4 In der Beschwerde verwies der Revisionswerber außerdem auf ein Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 7. Mai 2015. In diesem werde festgestellt, dass die Paschtunen Pakistans die ethnische Gruppe seien, welche am meisten unter dem seit sieben Jahren andauernden Kampf der Taliban gegen die Regierungskräfte und Zivilisten gelitten hätten. Diesem Konflikt seien mehr als 50.000 Menschen zum Opfer gefallen.

5 Die Beschwerde argumentiert auch, es liege ein Fall der Gruppenverfolgung vor, weil der Revisionswerber ein Schiit aus dem FATA-Gebiet sei.

6 Unter dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative führte der Revisionswerber in seiner Beschwerde aus, dass es praktisch gesehen für Personen aus den FATA-Gebieten sehr schwer sei, sich in anderen Regionen ein Leben aufzubauen, weil man sie immer wieder mit den Taliban in Verbindung bringe. Hierbei würden Paschtunen in Pakistan nicht allgemein diskriminiert, sondern ausschließlich jene, die aus den FATA-Gebieten stammten (Hinweis auf das bereits genannte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 7. Mai 2015). An anderer Stelle in der Beschwerde weist der Revisionswerber auch darauf hin, dass ihm außerhalb der FATA-Gebiete familiäre Anknüpfungspunkte fehlten.

7 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung die Beschwerde ab und erklärte die Revision an den Verwaltungsgerichtshof für nicht zulässig.

8 Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht in Bezug auf die in der Beschwerde relevierten Gesichtspunkte im Wesentlichen aus, dass es - soweit der Revisionswerber eine Verfolgung wegen seines Glaubens oder wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit in Pakistan in den Raum stelle - nur bei allgemeinen und vagen Behauptungen geblieben sei. Konkrete Verfolgungshandlungen seien ebenso nicht einmal ansatzweise behauptet worden.

9 Der Revisionswerber habe außerdem im Rahmen seiner Ausführungen zur Schutzfähigkeit nicht konkret und substantiiert den Unwillen und die Unfähigkeit des Staates bescheinigt, gerade in seinem Fall Schutz zu gewähren. Unter anderem traf es dazu Länderfeststellungen, dass die Polizei häufig scheitere, Minderheitenangehörige, wie Christen, Ahmadis und Schiiten vor Attacken zu schützen. Das häufige Versagen darin, Missbräuche zu bestrafen, trage zu einem Klima der Straflosigkeit bei.

10 Alternativ begründete das Bundesverwaltungsgericht seine Entscheidung mit dem Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative. Unter diesem Gesichtspunkt führt das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dem Revisionswerber sei es als jungem, gesunden und arbeitsfähigen Mann durchaus möglich und auch zumutbar, in einem anderen Landesteil wie dem Punjab oder einer der Großstädte wie beispielsweise Islamabad oder Lahore zu leben und dort seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

11 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diese Entscheidung erhobene außerordentliche Revision nach Vorlage derselben sowie der Verfahrensakten durch das Bundesverwaltungsgericht und nach Einleitung des Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

12 Der Revisionswerber bringt zur Zulässigkeit der Revision unter anderem vor, das Bundesverwaltungsgericht habe es in Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs unterlassen, sich mit dem vom Revisionswerber erstatteten Vorbringen bezüglich der regionalen und globalen Verfolgungsgefahr von Schiiten in Pakistan, verbunden mit dem Unvermögen des Staates, religiösen Minderheiten effektiven Schutz vor Gewalt und Verfolgung zu bieten und der daraus folgenden Asylrelevanz auseinanderzusetzen (Hinweis auf die hg. Erkenntnisse vom 24. Februar 2015, Ra 2014/18/0086, und vom 17. Dezember 2015, Ra 2015/20/0048).

13 Die Revision erweist sich als zulässig. Sie ist auch begründet.

14 Die Gefahr der Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK kann nicht nur ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Sie kann auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende "Gruppenverfolgung", hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (vgl. das bereits zitierte hg. Erkenntnis vom 17. Dezember 2015, Ra 2015/20/0048, mwN).

15 In seiner Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht berief sich der Revisionswerber ausdrücklich auf das Vorliegen einer Gruppenverfolgung, weil er Schiit sei und aus dem FATA-Gebiet komme. Er verweist auch auf Feststellungen aus dem schon genannten Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 7. Mai 2015, wonach die Paschtunen Pakistans die ethnische Gruppe seien, welche am meisten unter dem seit sieben Jahren andauernden Kampf der Taliban gegen die Regierungskräfte und Zivilisten gelitten hätten. Diesem Konflikt seien mehr als 50.000 Menschen zum Opfer gefallen.

16 Ausgehend von diesem Vorbringen in der Beschwerde hätte sich das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich der Frage des Vorliegens von asylrelevanter Verfolgungsgefahr nicht auf die Argumentation zurückziehen dürfen, dass der Revisionswerber zu einer Verfolgung wegen seines Glaubens oder wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit in Pakistan nur allgemeine und vage Behauptungen aufgestellt und konkrete Verfolgungshandlungen nicht einmal ansatzweise behauptet habe.

17 Vielmehr hätte das Bundesverwaltungsgericht in seiner rechtlichen Beurteilung auf das Thema Gruppenverfolgung von Paschtunen schiitischen Glaubens mit Herkunft aus dem FATA-Gebiet eingehen müssen. Erforderlichenfalls wird das Bundesverwaltungsgericht im fortgesetzten Verfahren auch weitere Feststellungen zu dieser Frage zu treffen haben.

18 Abgesehen von der Frage einer etwaig anzunehmenden Gruppenverfolgung ist dem Bundesverwaltungsgericht als weiterer Verfahrensfehler anzulasten, dass es die vom Revisionswerber in seiner Beschwerde dargestellte Konfliktlage nicht in seine Erwägungen in Bezug auf die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten einbezogen hat.

19 Es ist zudem darauf hinzuweisen, dass der Revisionswerber die etwaige Annahme der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in seiner Beschwerde ausdrücklich bestritt. So führte er dort aus, dass es praktisch gesehen für Personen aus den FATA-Gebieten sehr schwer sei, sich in anderen Regionen ein Leben aufzubauen, weil man sie immer wieder mit den Taliban in Verbindung bringe. Hierbei würden Paschtunen in Pakistan nicht allgemein diskriminiert, sondern ausschließlich jene, die aus den FATA-Gebieten stammten. Es fehlten ihm auch familiäre Anknüpfungspunkte außerhalb von den FATA-Gebieten. Die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative als Alternativbegründung durch das Bundesverwaltungsgericht erweist sich daher schon allein deshalb nicht als tragfähig, weil eine Auseinandersetzung mit diesem Vorbringen des Revisionswerbers in der Beschwerde unterlassen wurde.

20 Auch die weitere, auf die Schutzfähigkeit der pakistanischen Behörden gestützte Alternativbegründung des Bundesverwaltungsgerichtes vermag das angefochtene Erkenntnis nicht zu tragen, weil unklar bleibt, ob aufgrund der Konfliktlage im Herkunftsort des Revisionswerbers überhaupt von einer funktionierenden Staatsgewalt auszugehen ist. So weist der Revisionswerber zutreffend auf die Länderfeststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes hin, nach denen die Polizei häufig dabei versage, Minderheitenangehörige, wie Christen, Ahmadis und Schiiten vor Attacken zu schützen. Das häufige Versagen darin, Missbräuche zu bestrafen, trage zu einem Klima der Straflosigkeit bei. Auch in seiner Beschwerde bestritt der Revisionswerber die staatliche Schutzfähigkeit der pakistanischen Behörden, worauf das Bundesverwaltungsgericht nicht eingeht.

21 Das angefochtene Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben, weil nach dem Gesagten nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Bundesverwaltungsgericht bei Einhaltung der Verfahrensvorschriften zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können.

22 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 8. September 2016

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