VwGH Ra 2016/01/0320

VwGHRa 2016/01/032028.3.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek und die Hofräte Dr. Kleiser, Dr. Fasching und Mag. Brandl sowie die Hofrätin Mag. Liebhart-Mutzl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Strasser, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Oktober 2016, Zl. W123 2127625-1/9E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: J B in G), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §45 Abs3;
B-VG Art133 Abs6 Z2;
B-VG Art133 Abs9;
VwGG §28 Abs1 Z5;
VwGVG 2014 §18;
AVG §45 Abs3;
B-VG Art133 Abs6 Z2;
B-VG Art133 Abs9;
VwGG §28 Abs1 Z5;
VwGVG 2014 §18;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 17. November 2014 einen Antrag auf internationalen Schutz. Als Fluchtgrund gab er zusammengefasst an, dass er bei den vorletzten Präsidentschaftswahlen seine Stimme abgegeben habe. Seine Wohngegend, N, werde tagsüber von Regierungsbeamten kontrolliert, in der Nacht von den Taliban. Die Taliban hätten festgestellt, dass er gewählt habe, woraufhin sie ihn zusammengeschlagen und ihm den Zeigefinger abgetrennt hätten. Er sei darauf hin nach Kabul gezogen, nach ca. einem Jahr aber wieder nach N zurückgekehrt. Bei den Präsidentschaftswahlen 2014 habe er in einem Wahllokal als Wahlhelfer mitgeholfen. Auch dieses Mal hätten die Taliban davon Kenntnis erlangt und sein Haus aufgesucht und nach ihm gefragt. Sein Vater habe den Taliban gesagt, dass der Mitbeteiligte nicht zu Hause sei, worauf die Taliban erklärten, wiederkommen und den Mitbeteiligten mitnehmen zu wollen. Darauf hin seien sie weggegangen. Sein Vater habe dem Mitbeteiligten gesagt, dass die Taliban überall Spione hätten und dass sie wüssten, dass er Wahlhelfer sei, worauf er auf Empfehlung seines Vaters nach J zu einem Freund geflüchtet sei und sich dort drei Monate - bis zu seiner Ausreise - aufgehalten habe. Er werde in Afghanistan von den Taliban bedroht und habe im Fall seiner Rückkehr Angst, umgebracht zu werden.

2 Mit Bescheid vom 25. April 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß §§ 57, 55 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) wurde gegen den Mitbeteiligten eine Rückkehrentscheidung erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (III.) und gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine zweiwöchige Frist für die freiwillige Ausreise festgesetzt (IV.).

3 Begründend führte das BFA aus, dass der Mitbeteiligte keine gegen ihn gerichteten staatlichen Verfolgungen aus asylrelevanten Gründen vorgebracht habe. Die vorgebrachte Amputation des Fingers durch die Taliban habe ihn nicht daran gehindert, bis zum Jahr 2014 sicher in Afghanistan zu leben und einer geregelten Arbeit nachzugehen. Er sei seinen Angaben zufolge nicht direkt bedroht worden sondern lediglich sein Vater. Es sei diesbezüglich auch keine Anzeige bei der Polizei erstattet und daher kein staatlicher Schutz gesucht worden. Der Mitbeteiligte habe vor seiner Ausreise noch drei Monate in J leben und seinen Geschäften nachgehen können. Er habe die restliche Ware an seinem Kleiderbasar verkauft und sein Vater habe in dieser Zeit ein Grundstück verkauft, um das Geld für die Schlepper aufzubringen. In dieser Zeit habe es keine Bedrohung gegen ihn gegeben. Es bestünden keine Hinweise auf das Vorliegen eines Sachverhalts, der zur Gewährung von Asyl führen würde. Der Mitbeteiligte sei gesund und arbeitsfähig, er sei auch vor der Ausreise in der Lage gewesen, seine primären Lebensbedürfnisse zu befriedigen, eine wirtschaftliche oder finanzielle Notlage sei nicht zu Tage getreten, zumal er bereits vor seiner Ausreise in der Lage gewesen sei, sich eine Wohnung zu mieten. Es lägen beim Mitbeteiligten keine individuellen Umstände vor, wonach er im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan in eine im Sinne des Art. 3 EMRK relevante extreme Notlage geraten könnte. Subsidiärer Schutz sei daher nicht zu gewähren gewesen. Überwiegende Interessen an einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet seien nicht hervorgekommen.

4 Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Im Rahmen des Beschwerdeverfahrens legte der Mitbeteiligte (im Faxwege) eine Bestätigung seiner Heimatgemeinde ("Islamische Republik Afghanistan, Ministerium für Inneres, Provinz N, Distrikt K, Dorf A") mit folgendem (auszugsweisen) Inhalt vor:

"Herr J B ist der Sohn des N und war im Dorf A im Distrikt K der Provinz N wohnhaft. Am 29. Assad 1388 wurde er von den Ältesten des Volkes als Zuständigen für die Wahlen im Distrikt K bestimmt, seine Aufgabe bestand darin der Bevölkerung als Wahlhelfer behilflich zu sein. Am Wahltag ist er zum Wahllokal gegangen und hat dort seine Stimme abgegeben. Sein Finger wurde im Wahllokal mit Tinte markiert. Am nächsten Tag als er von der Stadt Richtung nachhause unterwegs war, wurde er von den Taliban angehalten und ordentlich geschlagen bzw. verprügelt, anschließend haben sie ihm den Finger abgeschnitten. Die Leute aus dem Dorf haben ihn zum Distriktkrankenhaus gebracht, wo er medizinisch versorgt wurde. Dieser Vorfall liegt einige Jahre zurück. Am 24. Jawza 1393 fanden wieder Wahlen statt. Die genannte Person war auch bei diesen Wahlen als Wahlhelfer aktiv. Er hat wieder seine Stimme abgegeben. Auf dem Heimweg wurde er erneut von den Taliban stark terrorisiert. Unter Gefahr gelang es ihm sein Dorf sowie Distrikt und Heimat zu verlassen."

5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 18. Oktober 2016 gab das Bundesverwaltungsgericht - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - der Beschwerde statt und erkannte dem Mitbeteiligten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 den Status des Asylberechtigten zu (A). Die Revision wurde nicht für zulässig erklärt (B).

6 Das Bundesverwaltungsgericht führte in seiner Begründung aus, dass die Aussagen des Mitbeteiligten, wonach er bereits 2009 in den Fokus der Taliban geraten und von diesen im Jahr 2014 abermals bedroht worden sei, von der Heimatgemeinde des Mitbeteiligten inhaltlich bestätigt worden seien. Somit sei seitens des Mitbeteiligten bescheinigt worden, dass er wegen seiner Tätigkeit als Wahlhelfer in den Blickpunkt der Taliban geraten und von diesen verfolgt worden sei bzw. noch immer werde. Der Mitbeteiligte habe damit eine asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen können. Auch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gehe im Rahmen seiner Beweiswürdigung nicht von der Unglaubwürdigkeit des Vorbringens des Mitbeteiligten aus. Es bemängle lediglich, dass er selbst noch drei Monate nach der behaupteten Bedrohung in J leben und seine Geschäfte abschließen habe können. Das ändere jedoch nichts an der Glaubwürdigkeit der Aussagen des Mitbeteiligten.

7 Das Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung begründete das Bundesverwaltungsgericht damit, dass den Verfahrensakten sämtliche entscheidungsrelevanten Grundlagen zu entnehmen seien und verwies auf die Einvernahmeprotokolle sowie die erwähnte Bestätigung des Ministeriums für Inneres. Daher ließen bereits die Akten erkennen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lasse.

8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision des BFA, in der als Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung geltend gemacht wird, das Verwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil es seiner Entscheidung ein relevantes Beweismittel (Bestätigung der Heimatgemeinde) zu Grunde gelegt habe, welches dem BFA nicht übermittelt worden und daher nicht bekannt gewesen sei. Gestützt auf dieses Beweismittel gehe das Verwaltungsgericht von den tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung ab und hätte daher eine mündliche Verhandlung durchführen müssen.

 

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Vorlage der Verwaltungsakten durch das Bundesverwaltungsgericht und Einleitung eines Vorverfahrens - der Mitbeteiligte erstattete keine Revisionsbeantwortung - erwogen:

10 Die Revision ist zulässig. Sie ist auch berechtigt. 11 Gemäß § 18 VwGVG kommt der Verwaltungsbehörde

Parteistellung im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht und sohin auch das Recht auf Parteigehör zu (vgl. Brandstetter/Larcher/Zeinhofer, Die belangte Behörde (2015) S. 47 f).

12 Der Verwaltungsgerichtshof hat sich mit der Rechtsstellung der vor dem Verwaltungsgericht belangten Behörde umfassend in seinem Beschluss vom 6. April 2016, Fr 2015/03/0011, auf dessen nähere Begründung gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, beschäftigt:

13 Demnach besteht mit der Legitimation zur Erhebung einer Amtsrevision gemäß Art. 133 Abs. 6 Z 2 und Abs. 9 B-VG eine verfassungsrechtliche Zuständigkeit der belangten Behörde vor einem Verwaltungsgericht, die Rechtmäßigkeit des aufgrund einer Beschwerde gegen den von dieser Verwaltungsbehörde erlassenen Bescheid ergangenen Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtes durch den Verwaltungsgerichtshof überprüfen zu lassen.

14 Es steht der belangten Behörde offen, Revisionsgründe sowohl hinsichtlich der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts als auch bezüglich des Inhalts und bezüglich des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, das der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung zu Grunde liegt, geltend zu machen.

15 Die Verpflichtung des Verwaltungsgerichts zu einer rechtsrichtigen Entscheidung einschließlich der rechtsrichtigen Verfahrensführung kommt dem Verwaltungsgericht auch gegenüber der belangten Behörde zu und kann von dieser im Revisionsweg geltend gemacht werden. Im Ergebnis bedeutet dies, dass der belangten Behörde hinsichtlich des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht betreffend den von ihr erlassenen Bescheid eine eigene Interessensphäre zukommt, die einerseits im Sinne des kontradiktorischen Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht derjenigen der beschwerdeführenden Partei vor dem Verwaltungsgericht gegenüber steht, die andererseits aber auch im Verhältnis zum Verwaltungsgericht gegeben ist.

16 Im vorliegenden Fall hat das Verwaltungsgericht ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - bzw. ohne der belangten Behörde überhaupt Parteiengehör zu gewähren - der Beschwerde stattgegeben und sich in seiner Beweiswürdigung tragend auf die erwähnte Bestätigung gestützt.

17 Das Bundesverwaltungsgericht hat damit die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung nicht bloß unwesentlich ergänzt. Eine solche Beweiswürdigung hat regelmäßig erst nach einer mündlichen Verhandlung zu erfolgen (vgl. aus der ständigen Rechtsprechung etwa das hg. Erkenntnis vom 6. Juli 2016, Ra 2015/01/0207, mwN).

18 Die Kriterien für die Abstandnahme von der Durchführung einer Verhandlung nach Maßgabe des § 21 Abs. 7 BFA-VG lagen demnach nicht vor.

19 Die angefochtene Entscheidung war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben, ohne dass auf das weitere Revisionsvorbringen einzugehen war.

20 Ausgehend von den Ergebnissen der mündlichen Verhandlung wird sich das Verwaltungsgericht im fortgesetzten Verfahren - worauf die Revision zutreffend hinweist - beweiswürdigend zunächst mit der Echtheit der gegenständlichen Urkunde, die weder vom Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten noch von einer österreichischen Vertretungsbehörde beglaubigt wurde, auseinanderzusetzen haben (vgl. das hg. Erkenntnis vom 16. April 1999, 96/18/0438; vgl. zu einer echten, aber inhaltlich unwahren Urkunde das hg. Erkenntnis vom 3. Juli 2003, 2003/20/0082). Gegebenenfalls wird das Verwaltungsgericht bei seiner Entscheidung insbesondere die Frage, inwieweit aus dem Inhalt des Dokuments tatsächlich hinreichend konkrete Anhaltspunkte für eine asylrelevante Verfolgung des Mitbeteiligten zu gewinnen sind, neuerlich zu beurteilen und sich jedenfalls auch mit den unter Rz 3 wiedergegebenen Erwägungen des verwaltungsbehördlichen Bescheides auseinanderzusetzen haben.

Wien, am 28. März 2017

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