VwGH Ra 2015/01/0207

VwGHRa 2015/01/02076.7.2016

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek, den Hofrat Dr. Fasching und die Hofrätin Mag. Rossmeisel als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Berger, über die Revision des C O in G, vertreten durch Dr. Michael Maurer, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Mandellstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. September 2015, W211 1437202- 1/7E, betreffend eine Angelegenheit nach dem Asylgesetz 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §3 Abs1;
AsylG 2005 §8 Abs1;
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwGVG 2014 §24 Abs1;
AsylG 2005 §3 Abs1;
AsylG 2005 §8 Abs1;
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwGVG 2014 §24 Abs1;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein nigerianischer Staatsangehöriger, stellte am 12. März 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesen begründete er damit, dass sein Vater zwei Frauen gehabt hätte und die Familie des Revisionswerbers von der Stieffamilie schon immer massiv abgelehnt worden sei. Im August 2012 sei er von sieben unbekannten Männern angegriffen und verletzt worden, wobei einer der Männer seine Stiefbrüder erwähnt habe. Ende 2012 habe er der Polizei mitgeteilt, dass seine Stiefbrüder ihn töten wollten. Diese habe gemeint, dass dies ein familiäres Problem sei und sie nichts tun könne. Nachdem sein Vater im Dezember 2012 verstorben sei, hätten ihm die Stiefbrüder bei der Testamentseröffnung im Jänner 2013 gedroht, dass er im August 2012 "noch entkommen" sei, er solle sich "selbst umbringen oder weglaufen, da sie das Erbe nicht akzeptieren würden". Sie hätten 15 junge Männer gerufen, die ihn zusammengeschlagen hätten. Er sei mit Hilfe seiner Schwestern entkommen und habe am nächsten Tag das Haus seiner Familie verwüstet vorgefunden. Seine Mutter und seine Schwestern seien verschwunden gewesen. Mit Hilfe eines Freundes sei er nach Warri in eine Kirche geflüchtet, wo bereits nach wenigen Tagen nach ihm gesucht worden sei. Der Pastor habe ihn daraufhin bis zu seiner Ausreise in einer Hütte versteckt.

2 Mit Bescheid vom 31. Juli 2013 wies das Bundesasylamt den Antrag auf Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) und eines subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ab. Unter einem wurde der Revisionswerber gemäß § 10 Abs. 1 AsylG 2005 nach Nigeria ausgewiesen. Das Bundesasylamt stellte fest, dass der Revisionswerber in seiner Heimat in Erbstreitigkeiten involviert gewesen sei. Nicht festgestellt werden könne, dass er aus Konventionsgründen in Nigeria einer staatlichen bzw. asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt gewesen wäre. Beweiswürdigend führte das Bundesasylamt aus, dass das Vorbringen des Revisionswerbers zu den Streithandlungen infolge der Testamentsverlesung nicht glaubwürdig sei. Der Revisionswerber habe nur vage schildern können, wie er den Streithandlungen nach der Testamentsverlesung entkommen habe können. Es entbehre auch jeder Lebenserfahrung, dass jemand, der sein Haus verwüstet vorfinde und seine Schwestern und Mutter nicht mehr erreiche, nicht die Polizei verständige. Auch die schweren Verletzungen seien unglaubwürdig, da er am nächsten Tag aus eigener Kraft zum Haus zurückkehren habe können, keinen Arzt aufgesucht und nur Augentropfen benötigt habe. Rechtlich kam das Bundesasylamt zu dem Ergebnis, dass die Stiefbrüder aus einem rein privaten Motiv heraus versucht hätten, den Revisionswerber zum Verzicht auf sein Erbe zu zwingen und dies nicht unter die Tatbestände der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) zu subsumieren sei.

3 In seiner gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde an den Asylgerichtshof trat der Revisionswerber dieser Beweiswürdigung argumentativ entgegen und brachte zudem vor, auf Grund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie von seiner Stieffamilie verfolgt zu werden. Die Stieffamilie sei sehr reich und einflussreich, weshalb sie ihn überall in Nigeria finden könne. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde vom Revisionswerber nicht ausdrücklich beantragt.

4 Das beim Asylgerichtshof anhängige Verfahren wurde ab 1. Jänner 2014 vom Bundesverwaltungsgericht weitergeführt (§ 75 Abs. 19 AsylG 2005).

5 Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte dem Revisionswerber mit Schreiben vom 25. August 2015 Länderberichte zur Situation in Nigeria. Mit Schreiben vom 11. September 2015 nahm der Revisionswerber auf diese Bezug nehmend dahingehend Stellung, dass er sich im Fall seiner Rückkehr weiteren Übergriffen seiner Stieffamilie ausgesetzt sähe, ohne entsprechenden Schutz von Seiten der nigerianischen Behörden zu erhalten.

6 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 3 Abs. 1 und § 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet ab; das Verfahren zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung verwies es gemäß § 75 Abs. 20 AsylG 2005 an das (nunmehr:) Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurück. Die Revision erklärte das Bundesverwaltungsgericht gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

7 Das Bundesverwaltungsgericht traf umfangreiche Feststellungen zum Herkunftsstaat des Revisionswerbers, stellte fest, dass der Revisionswerber in Nigeria in Erbstreitigkeiten involviert gewesen sei und dass ihm - wenn er die Hilfe der nigerianischen Sicherheitsbehörden nicht in Anspruch nehmen wollte oder könnte - eine innerstaatliche Fluchtalternative in einen anderen Landesteil, wie etwa nach Lagos, offen stehen würde. Es habe nicht festgestellt werden können, dass die Stieffamilie des Revisionswerbers derart einflussreich sei und solch gute Verbindungen habe, dass er auch an anderen Orten Nigerias gefunden werden würde.

8 Als wahr unterstellte das Bundesverwaltungsgericht, dass der Revisionswerber am 3. August 2012 von sieben jungen Männern, die er nicht gekannt habe, angegriffen und am Tag der Testamentseröffnung am 5. Jänner 2013 von seinen Stiefbrüdern und 15 anderen Männern zusammengeschlagen worden sei. Am nächsten Tag sei das Haus zerstört und seine Mutter und Schwestern verschwunden gewesen. Der Revisionswerber sei schließlich mit Hilfe eines Freundes über Warri ausgereist, wobei er für die Reise nichts bezahlt habe.

9 Beweiswürdigend hielt das Bundesverwaltungsgericht fest, es teile die wesentlichen Erwägungen der belangten Behörde in ihrer Beweiswürdigung. Insbesondere seien Teile des Vorbringens betreffend die beiden Angriffe auf den Revisionswerber unkonkret und wenig differenziert. Ergänzend hob das Bundesverwaltungsgericht hervor, dass es von der Aussage, die Stieffamilie sei besonders einflussreich und habe außergewöhnlich gute Verbindungen, weshalb sie den Revisionswerber in Warri gefunden habe und auch in Zukunft würde finden können, nicht überzeugt sei. Der Revisionswerber bleibe dazu zu vage, was sich auch daran zeige, dass er diese "guten Verbindungen" nicht weiter konkretisieren habe können.

10 In seiner rechtlichen Beurteilung führte das Bundesverwaltungsgericht - unter expliziter Bezugnahme auf die beiden als wahr unterstellten Angriffe vom August 2012 und Jänner 2013 - aus, dass der Revisionswerber im Rahmen des von ihm Erzählten ein potentielles Opfer seiner Stieffamilie sei, die eine Erbschaft nach dem Vater unter Umständen mit Gewaltanwendung verhindern wolle. Damit erfülle er die Merkmale einer "sozialen Gruppe" nicht. Eine Verfolgung aus rein kriminellen Motiven bedeute keine Verfolgung im Sinne der GFK. Doch selbst wenn man eine maßgebliche, wahrscheinliche und aktuelle Verfolgungsgefahr aus einem der Gründe der GFK annähme und weiters unterstelle, dass der Revisionswerber tatsächlich nicht von der Schutzfähigkeit und - willigkeit durch die nigerianischen Sicherheitsbehörden ausgehen könnte, so müsse dennoch das Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative bejaht werden. Der Revisionswerber könnte sich also in einem anderen Landesteil, so z.B. auch in einer anderen nigerianischen Großstadt, niederlassen und so vor seiner Stieffamilie untertauchen. Dass die Stieffamilie ihn z.B. in Lagos finden würde, sei seitens des Revisionswerbers nicht ausreichend begründet worden.

11 Des Weiteren führte das Bundesverwaltungsgericht aus, das Bundesasylamt habe den Sachverhalt in einem ordnungsgemäßen Verfahren erhoben und teile das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung. Aber auch bei Unterstellung jener Teile des Vorbringens als wahr, die der Revisionswerber im Laufe des Verfahrens und in der Beschwerde vorgebracht habe und die teilweise seitens der belangten Behörde in ihrer Beweiswürdigung als nicht glaubhaft qualifiziert worden seien, sei die Beschwerde abzuweisen gewesen. In Hinblick darauf, dass im gegenständlichen Fall für das Bundesverwaltungsgericht der Sachverhalt aus der aktualisierten Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt scheine, sich für das Bundesverwaltungsgericht in Bezug auf seine rechtliche Beurteilung keine weiteren Ermittlungserfordernisse ergeben hätten, und der Revisionswerber schließlich die Abhaltung einer mündlichen Verhandlung nicht beantragt habe, habe eine mündliche Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG unterbleiben können.

12 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen dieses Erkenntnis erhobene außerordentliche Revision - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

13 Der Revisionswerber führt zur Zulässigkeit der Revision im Wesentlichen aus, dass das Bundesverwaltungsgericht trotz substantiierter Bestreitung der behördlichen Feststellungen sowie der Beweiswürdigung, von der - näher dargestellten - Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht abgewichen sei.

14 Die Revision erweist sich als zulässig. Sie ist auch begründet.

15 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung bereits festgehalten, dass das Verwaltungsgericht gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG auch ohne Antrag von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen hat, wenn es dies für erforderlich hält, wobei die Durchführung einer mündlichen Verhandlung ohne Parteiantrag nicht im Belieben, sondern im pflichtgemäßen Ermessen des Verwaltungsgerichtes steht (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 9. September 2014, Ro 2014/09/0049, vom 27. Jänner 2015, Ra 2014/19/0085, und vom 22. Jänner 2015, Ra 2014/21/0019). Dies ist nach der Rechtsprechung etwa dann anzunehmen, wenn die Beweiswürdigung der Verwaltungsbehörde substantiiert bekämpft und/oder ein konkretes sachverhaltsbezogenes Vorbringen erstattet wird (vgl. nochmals das erwähnte Erkenntnis vom 27. Jänner 2015, mwN).

16 Dies trifft auf das in der Beschwerde enthaltene Vorbringen des Revisionswerbers zu. Der Revisionswerber richtet sich damit nämlich nicht bloß unsubstantiiert gegen die verwaltungsbehördliche Beweiswürdigung, sondern versucht, sowohl in der Beschwerde als auch in der Stellungnahme vom 9. September 2015 die ihm vorgeworfenen Widersprüche durch konkrete Argumente zu entkräften. Das Bundesverwaltungsgericht hatte demnach gemäß § 24 Abs. 1 zweiter Fall VwGVG auch ohne ausdrücklichen Antrag des Revisionswerbers eine Verhandlung von Amts wegen durchzuführen, es sei denn, andere gesetzliche Bestimmungen hätten es ermächtigt, davon Abstand zu nehmen. Fallbezogen kam dafür nur der in § 21 Abs. 7 BFA-VG enthaltene erste Tatbestand in Betracht. Demnach kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint.

17 Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in nunmehr ständiger Rechtsprechung, dass für die Auslegung der in § 21 Abs. 7 BFA-VG enthaltenen Wendung "wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint" folgende Kriterien beachtlich sind:

Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. etwa das Erkenntnis vom 8. September 2015, Ra 2014/01/0200, mwN).

18 Das Bundesverwaltungsgericht hat sich zwar der Beurteilung der Verwaltungsbehörde, das Vorbringen des Revisionswerbers sei - großteils - nicht glaubwürdig, angeschlossen, diese Annahme aber mit dem Aufzeigen weiterer, von der Verwaltungsbehörde nicht aufgegriffener und somit erstmals thematisierter Aspekte untermauert. Dies betrifft insbesondere die Ausführungen zur Stieffamilie. Das Bundesverwaltungsgericht hat damit die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung nicht bloß unwesentlich ergänzt. Eine solche Beweiswürdigung hat regelmäßig erst nach einer mündlichen Verhandlung, in der auch ein persönlicher Eindruck vom Asylwerber gewonnen werden konnte, zu erfolgen (vgl. auch dazu das bereits genannte hg. Erkenntnis vom 8. September 2015, Ra 2014/01/0200, mwN).

19 Auch hat das Bundesverwaltungsgericht es selbst für erforderlich erachtet, die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat des Revisionswerbers anhand von neu ins Verfahren eingeführten Beweismitteln zu aktualisieren. Die im Beschwerdeverfahren eingeräumte Möglichkeit, zum Inhalt aktueller Länderberichte schriftlich Stellung zu nehmen, kann allerdings die Durchführung einer mündlichen Verhandlung in einem Fall, wie dem vorliegenden, nicht ersetzen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 15. März 2016, Ra 2014/01/0186, mwN).

20 Ausgehend davon lagen die Kriterien für die Abstandnahme von der Durchführung einer Verhandlung nicht vor.

21 Die angefochtene Entscheidung war daher - infolge der aufeinander aufbauenden Spruchpunkte zur Gänze - gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben, ohne dass auf das weitere Revisionsvorbringen einzugehen war.

22 Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil mit dem Pauschalbetrag für Schriftsatzaufwand auch die Umsatzsteuer abgegolten wird.

Wien, am 6. Juli 2016

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