VwGH Ra 2015/22/0153

VwGHRa 2015/22/015319.4.2016

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, Hofrätin Mag.a Merl und die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag.a Lechner, über die Revision der Bundesministerin für Inneres gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom 30. Juni 2015,  VGW- 151/084/4073/2015-5, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien; mitbeteiligte Partei: I K in Wien, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6), zu Recht erkannt:

Normen

ASVG §293 idF 2014/II/288;
NAG 2005 §11 Abs2 Z4;
NAG 2005 §11 Abs5;
NAG 2005 §47 Abs2 idF 2013/I/068;
VwGG §42 Abs2 Z1;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2016:RA2015220153.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein nepalesischer Staatsangehöriger, stellte am 10. Oktober 2013 persönlich bei der belangten Behörde den Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels "Familienangehöriger", den er mit der Familienzusammenführung mit seiner in Österreich lebenden Ehefrau, einer österreichischen Staatsbürgerin, begründete. Darüber hinaus stellte er am 30. Mai 2014 Zusatzanträge gemäß § 19 Abs. 8 (Absehen von der Vorlage zwingend erforderlicher Unterlagen) und § 21 Abs. 3 (Zulassung der Inlandsantragstellung) Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG).

2 Die belangte Behörde wies mit Bescheid vom 11. Februar 2015 den Antrag vom 10. Oktober 2013 wegen unzulässiger Inlandsantragstellung sowie Nichtvorlage zwingend erforderlicher Unterlagen gemäß §§ 21 Abs. 1, 19 Abs. 3 NAG und § 13 Abs. 3 AVG ab.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Verwaltungsgericht - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - der Beschwerde statt und erteilte dem Mitbeteiligten gemäß § 47 Abs. 2 NAG einen Aufenthaltstitel "Familienangehöriger" für die Dauer von zwölf Monaten.

4 Das Verwaltungsgericht führte zunächst aus, der Mitbeteiligte sei schlepperunterstützt nach Österreich eingereist und verfüge über keinen Reisepass. Da die für Österreich zuständige nepalesische Botschaft ihren Sitz in Berlin habe und der Mitbeteiligte ohne Reisepass weder ein Visum für die Einreise nach Deutschland erlangen noch nach Nepal zurückreisen könne, sei es für ihn rechtlich und faktisch nicht möglich, die geforderten Dokumente (Reisepass, strafrechtliches Führungszeugnis und Beglaubigung seiner Geburtsurkunde) beizuschaffen. Aus diesem Grund hätte die belangte Behörde von der Vorlage bzw. Beglaubigung der Dokumente gemäß § 19 Abs. 8 NAG absehen müssen.

5 In Bezug auf die Zulassung zur Inlandsantragstellung führte das Verwaltungsgericht aus, der Mitbeteiligte sei seit 9. Oktober 2013 aufrecht mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet und lebe bereits seit Mai 2012 - also nunmehr seit über drei Jahren - mit ihr in einem gemeinsamen Haushalt. Er unterstütze sie im Alltag und habe für kurze Zeit selbständig im Gütertransportgewerbe gearbeitet, was ihm jedoch mangels eines Aufenthaltstitels untersagt worden sei. Seine Ehefrau bezahle die Beiträge für die Sozialversicherung der gewerblichen Wirtschaft, weshalb er bei Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels umgehend in diesem Gewerbe tätig sein könne. Der Mitbeteiligte habe auch ein Sprachdiplom auf A1-Niveau erworben. Aufgrund dieser Umstände sei davon auszugehen, dass wegen des schützenswerten Ehelebens die Antragstellung im Inland zuzulassen sei.

6 Bei der Prüfung - so das Verwaltungsgericht weiter -, ob ausreichende Unterhaltsmittel zur Verfügung stünden, sei nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine Prognose über die Erzielbarkeit ausreichender Mittel zu treffen. Dabei komme zwar grundsätzlich den Verhältnissen zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung und auch der Frage früherer Beschäftigungsverhältnisse Bedeutung zu. Ein Abstellen allein auf den Zeitpunkt der Bescheiderlassung verbiete sich aber völlig unzweifelhaft in Fällen, in denen in absehbarer Zeit mit einer Änderung der Einkommensverhältnisse zu rechnen sei (Hinweis auf das hg. Erkenntnis vom 31. Mai 2011, 2009/22/0278).

7 Der Ausgleichszulagenrichtsatz gemäß § 293 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG) für das Jahr 2015 betrage für Ehepaare im gemeinsamen Haushalt EUR 1.307,89. Dieses gemeinsame Einkommen sei vom Mitbeteiligten für die Zeit nach der Erteilung des Aufenthaltstitels nachzuweisen. Aufgrund der vorgelegten Gehaltsbestätigungen (September 2014 bis Februar 2015) verdiene die Ehefrau des Mitbeteiligten monatlich durchschnittlich ca. EUR 2.264,57. Für die Wohnung bezahle sie monatlich EUR 511,64 und für die Leasing- und Kreditraten monatlich ca. EUR 793,98 (davon EUR 141,14  für das Leasingauto des Mitbeteiligten). Unter Berücksichtigung des Wertes der freien Station (in der Höhe von EUR 278,72) beliefen sich die monatlichen Aufwendungen des Ehepaares auf EUR "1.026,9". Damit verblieben dem Ehepaar EUR 1.237,67 pro Monat. Dieser Wert liege knapp unter dem Ausgleichszulagenrichtsatz für Ehepaare. Sobald der Mitbeteiligte den beantragten Aufenthaltstitel erhalte, könne er das von ihm angemeldete Gewerbe der Güterbeförderung mit Kfz bis zu 3,5t ausüben und entsprechend zum ehelichen Einkommen beitragen. Auch für den Fall, dass der Mitbeteiligte dieses Gewerbe nicht weiter ausübe, könne die Zahlung der Leasingraten für das Auto des Mitbeteiligten eingestellt und das Auto an die Leasingfirma zurückgegeben werden. Ohne die Leasingrate würde das Einkommen des Ehepaares abzüglich der Aufwendungen auch den Ausgleichszulagenrichtsatz übersteigen. Es sei daher davon auszugehen, dass der Aufenthalt des Mitbeteiligten in Österreich zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen werde.

8 Die ordentliche Revision wurde für nicht zulässig erklärt. 9 Gegen dieses Erkenntnis erhob die Bundesministerin für

Inneres die vorliegende außerordentliche Revision. Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

10 Die Revisionswerberin führt zur Zulässigkeit ihrer außerordentlichen Revision begründend aus, es fehle eine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, ob bei selbständig Erwerbstätigen die Sozialversicherungsbeiträge im Sinn des § 11 Abs. 5 NAG (Prüfung ausreichender Unterhaltsmittel) in Abzug zu bringen seien.

11 Die Revision erweist sich als zulässig und auch berechtigt. 12 Gemäß § 47 Abs. 2 NAG, BGBl. I Nr. 100/2005, idF

BGBl. I Nr. 68/2013, ist Drittstaatsangehörigen, die Familienangehörige von Zusammenführenden (gemäß § 47 Abs. 1 NAG) sind, ein Aufenthaltstitel "Familienangehöriger" zu erteilen, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen.

13 Der - im 1. Teil des NAG enthaltene - § 11 NAG, BGBl. I Nr. 100/2005, idF BGBl. I Nr. 68/2013, lautet auszugsweise:

"Allgemeine Voraussetzungen

Allgemeine Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel

§ 11. (1) ...

(2) Aufenthaltstitel dürfen einem Fremden nur erteilt werden, wenn

  1. 1. ...
  2. 4. der Aufenthalt des Fremden zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte;

    5. ...

(5) Der Aufenthalt eines Fremden führt zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft (Abs. 2 Z 4), wenn der Fremde feste und regelmäßige eigene Einkünfte hat, die ihm eine Lebensführung ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen der Gebietskörperschaften ermöglichen und der Höhe nach den Richtsätzen des § 293 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955, entsprechen. Feste und regelmäßige eigene Einkünfte werden durch regelmäßige Aufwendungen geschmälert, insbesondere durch Mietbelastungen, Kreditbelastungen, Pfändungen und Unterhaltszahlungen an Dritte nicht im gemeinsamen Haushalt lebende Personen. Dabei bleibt einmalig ein Betrag bis zu der in § 292 Abs. 3 zweiter Satz ASVG festgelegten Höhe unberücksichtigt und führt zu keiner Erhöhung der notwendigen Einkünfte im Sinne des ersten Satzes. ...

(6) ..."

14 Gemäß §§ 292, 293 ASVG, BGBl. Nr. 189/1955, idF BGBl. II Nr. 288/2014, beträgt der Wert der freien Station EUR 278,72 und der Richtsatz für im gemeinsamen Haushalt lebende Ehegatten EUR 1.307,89.

15 Nach den Feststellungen im angefochtenen Erkenntnis, beläuft sich das frei verfügbare Einkommen des Mitbeteiligten und seiner Ehefrau auf EUR 1.237,67 pro Monat. Aus dem Protokoll der vor dem Verwaltungsgericht durchgeführten mündlichen Verhandlung ergibt sich, dass die Ehefrau die Beiträge des Mitbeteiligten zur Sozialversicherung der gewerblichen Wirtschaft in der Höhe von monatlich EUR 631,63 bezahlt und von ihrem Konto abbuchen lässt. Es handelt sich dabei also um regelmäßige Aufwendungen gemäß § 11 Abs. 5 NAG, die das Einkommen schmälern und daher vom (Netto‑)Haushaltseinkommen abzuziehen sind (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 15. Dezember 2011, 2010/21/0303). Wird von dem noch verbleibenden Betrag in der Höhe von EUR 1.237,67 der Sozialversicherungsbeitrag von EUR 631,63 in Abzug gebracht, so liegt das verfügbare Einkommen weit unter der nach § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG maßgeblichen Richtsatzhöhe für Ehepaare gemäß § 293 ASVG von EUR 1.307,89.

16 Das Verwaltungsgericht führte jedoch auch ins Treffen, dass der Mitbeteiligte bei Erteilung des Aufenthaltstitels das von ihm angemeldete Gewerbe der Güterbeförderung ausüben und entsprechend zum ehelichen Einkommen beitragen könne.

17 Dem Verwaltungsgericht ist insoweit zuzustimmen, als bei der Prüfung, ob ausreichende Unterhaltsmittel zur Verfügung stehen, eine Prognose über die Erzielbarkeit ausreichender Mittel zu treffen ist. Ein Abstellen allein auf den Zeitpunkt der Erlassung der Entscheidung verbietet sich dann, wenn in absehbarer Zeit mit einer Änderung der Einkommensverhältnisse zu rechnen ist. Es genügt für den Nachweis ausreichender Unterhaltsmittel, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, dass im Fall der Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels eine konkretisierte Erwerbstätigkeit aufgenommen und damit das notwendige Ausmaß an Einkommen erwirtschaftet werden könnte (vgl. das hg. Erkenntnis vom 15. Dezember 2015, Ra 2015/22/0024, mwN).

18 Vor diesem Hintergrund erweist sich die positive Prognoseentscheidung des Verwaltungsgerichtes bezüglich des zu erwartenden Erwerbseinkommens des Mitbeteiligten allerdings als nicht nachvollziehbar. Aufgrund der früheren Beschäftigung des Mitbeteiligten und der regelmäßigen Zahlungen der Sozialversicherungsbeiträge durch seine Ehefrau besteht zwar eine konkrete Aussicht auf Erwerbstätigkeit bei Erteilung des Aufenthaltstitels. Dem angefochtenen Erkenntnis ist jedoch nicht zu entnehmen, ob der Mitbeteiligte im Fall der Ausübung des von ihm angemeldeten Gewerbes - nach Abzug des Sozialversicherungsbeitrages - zum ehelichen Einkommen in einem solchen Ausmaß (fallbezogen: über EUR 700,--) wird beitragen können, sodass das Haushaltseinkommen den Ausgleichszulagenrichtsatz für Ehepaare erreichen und der Aufenthalt des Mitbeteiligten in Österreich zu keiner finanziellen Belastung der Gebietskörperschaft führen werde.

19 Das Vorbringen des Rechtsvertreters des Mitbeteiligten in seiner Revisionsbeantwortung, die Frage der Berücksichtigung der Sozialversicherungsbeiträge könne dahingestellt bleiben, weil die Ehefrau im relevanten Zeitraum über Ersparnisse von zumindest EUR 7.000,-- verfüge, welche bei der Berechnung des Einkommens zu berücksichtigen seien, und der Mitbeteiligte bei Erteilung des Aufenthaltstitels aus eigener "unselbständiger" (gemeint wohl: selbständiger) Erwerbstätigkeit EUR 2.000,-- verdienen könne, ist wegen des im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof zu berücksichtigenden Neuerungsverbotes unbeachtlich.

20 Dadurch, dass das Verwaltungsgericht in Verkennung der Rechtslage bei der Berechnung der erforderlichen Unterhaltsmittel die von der Ehefrau bezahlten Sozialversicherungsbeiträge nicht berücksichtigte und keine Feststellungen über die Höhe des zu erwartenden Einkommens des Mitbeteiligten aus selbständiger Erwerbstätigkeit traf, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.

21 Darüber hinaus zeigt die Revision zutreffend auf, dass die Interessenabwägung gemäß Art. 8 EMRK nicht mit der hg. Rechtsprechung im Einklang steht.

22 Bei diesem Ergebnis sind dem Mitbeteiligten keine Kosten zuzusprechen (§ 47 Abs. 3 VwGG).

Wien, am 19. April 2016

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