Normen
AVG §45 Abs2;
AVG §52;
AVG §56;
StVO 1960 §5 Abs4 lita;
StVO 1960 §99 Abs1 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:1988:1988180210.X00
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Die Bundeshauptstadt (Land) Wien ist schuldig, dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 9.660,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Im Zuge eines Verkehrsunfalles mit Personen- und Sachschaden, der sich am 10. Mai 1985 um 18.36 Uhr in Wien 12, ereignet hatte, wurde beim Beschwerdeführer, einem der am Unfall beteiligten Fahrzeuglenker, eine Atemluftprobe vorgenommen, die ein positives Ergebnis (Überschreitung des Markierungsringes um ca. 3 mm) hatte. In der Folge erklärte sich der Beschwerdeführer gegenüber Sicherheitswachebeamten bereit, zum Polizeiwachzimmer mitzukommen, um sich dem Amtsarzt vorführen zu lassen. Der Beschwerdeführer langte in Begleitung von Sicherheitswachebeamten zu einer nicht näher festgestellten Zeit im Wachzimmer Wien 12, Hufelandgasse 4 ein, wartete dort längere Zeit auf das Eintreffen des Amtsarztes, erwähnte nichts über seine Zuckerkrankheit und entfernte sich zu einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt vom Wachzimmer.
Mit dem gemäß § 66 Abs. 4 AVG 1950 ergangenen Berufungsbescheid der Wiener Landesregierung vom 15. März 1988 wurde dem Beschwerdeführer im Instanzenzug (im zweiten Rechtsgang) zum Vorwurf gemacht, er habe sich am 10. Mai 1985 nach 18.36 Uhr in Wien 12, Hufelandgasse geweigert, sich dem Polizeiarzt zwecks Feststellung des Grades der Alkoholeinwirkung vorführen zu lassen, obwohl eine positiv verlaufene Atemluftprobe den Verdacht der Beeinträchtigung durch Alkohol ergeben habe, dies nach vorangegangenem Lenken eines Pkws. Er habe hiedurch eine Verwaltungsübertretung nach § 99 Abs. 1 lit. b in Verbindung mit § 5 Abs. 4 lit. a der Straßenverkehrsordnung 1960 (StVO) begangen; es wurde eine Geldstrafe von S 5.000,-- (Ersatzarreststrafe sieben Tage) verhängt. In der Begründung des erstinstanzlichen Straferkenntnisses war unter anderem ausgeführt worden, der Beschwerdeführer sei mit der Vorführung zum Amtsarzt zunächst einverstanden gewesen. Er sei mit den Sicherheitswachebeamten ins Wachzimmer gefahren, der Polizeiamtsarzt sei verständigt worden, der Beschwerdeführer habe vorerst auf dessen Eintreffen gewartet. Das Eintreffen des Arztes habe sich verzögert, der Beschwerdeführer habe bereits mehr als eine Stunde warten müssen, schließlich habe er sich ohne Angabe von Gründen aus dem Wachzimmer entfernt. An anderer Stelle der Begründung heißt es, die Wartezeit habe etwa eineinhalb Stunden betragen. Grundsätzlich sei einem Lenker, der im Verdacht der Alkoholisierung stehe, eine Wartezeit auf den Amtsarzt zumutbar, und zwar solange, als eine nachfolgende Untersuchung auf Alkoholisierung noch sinnvoll erscheine. Es stelle sich die Frage, ob einer zuckerkranken Person dieselben Wartezeiten zuzumuten seien, wie einer gesunden. Es sei allgemein bekannt, daß bei Zuckerkranken größere Aufregungen, längere Wartezeiten bei Einnahme von Nahrungsmitteln zu Veränderungen des Zustandes dieser Person führen könnten. Diesbezüglich sei daher die Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht notwendig gewesen. Es sei durchaus möglich, daß einer zuckerkranken Person eine kürzere Wartezeit zuzumuten sei, um negative gesundheitliche Auswirkungen abzuwenden. Nun stelle sich die Frage, inwieweit die Kenntnis von der Zuckerkrankheit zum Zeitpunkt der Vorführung bei der Beurteilung der Zumutbarkeit der Wartezeit relevant sei. Der Beschwerdeführer habe im Wachzimmer nichts von seiner Krankheit erwähnt. Wohl werde der Polizeiamtsarzt grundsätzlich in der Reihenfolge der Anforderung an den verschiedenen Einsatzstellen erscheinen, doch sei es möglich, Amtshandlungen von besonderem Gewicht vorzuziehen und den Amtsarzt außer der Reihe herbeizuholen. Hätte der Beschwerdeführer im Wachzimmer darauf hingewiesen, daß er schwer zuckerkrank sei, so hätte man die amtsärztliche Untersuchung vor anderen vorziehen können. Dann wäre der Amtsarzt in einer auch für den Beschwerdeführer zumutbaren Wartezeit gekommen. Der Beschwerdeführer habe aber jeden Hinweis auf seine Krankheit unterlassen. Daher sei auch die - ergänze: für einen Gesunden geltende - Wartezeit zumutbar gewesen.
Die Berufungsbehörde befragte schriftlich den Polizeichefarzt der Bundespolizeidirektion Wien, ob dem zuckerkranken Beschwerdeführer eine Wartezeit von mehr als eineinhalb Stunden, ohne Angabe einer konkreten tatsächlichen Dauer, auf den Polizeiamtsarzt zuzumuten gewesen sei oder nicht. Unter dem Datum des 24. Juli 1987 gab der Chefarzt der Bundespolizeidirektion folgende Äußerung ab:
"In Entsprechung des Auftrages der MA 70 vom 17.7.1987 wird festgestellt, daß bei einer eventuellen Wartezeit bis zum Eintreffen des Amtsarztes nicht von Bedeutung ist, ob der Wartende Diabetiker ist oder nicht. Dies gilt speziell für Fälle wie den vorliegenden, wo kein insulinpflichtiger Diabetes vorliegt."
Nach Gewährung von Parteiengehör bestätigte die Wiener Landesregierung das erstinstanzliche Straferkenntnis und führte in ihrer Begründung unter anderem aus, die Berufungsbehörde folge den Ausführungen des Polizeichefarztes. Die Stellungnahme des Beschwerdeführers vom 15. Oktober 1987 erschöpfe sich in der Wiederholung seiner bisherigen Standpunkte. Die "vom Berufungswerber geforderte Wartezeit auf den Amtsarzt" sei durchaus zumutbar gewesen. Daher sei die Tat als erwiesen anzunehmen gewesen.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, wegen "unrichtiger Rechtsansicht" und "mangelnder Feststellungen" erhobene Beschwerde.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Die Berufungsbehörde hat die unrichtige Rechtsansicht der Verwaltungsstrafbehörde erster Instanz, auf die behauptete Krankheit des Beschwerdeführers sei deshalb nicht einzugehen, weil er diese im Wachzimmer Hufelandgasse nicht erwähnt habe (vgl. hiezu Erkenntnis vom 16. September 1981, Zl. 81/03/0045) nicht mehr aufrecht erhalten. Der Berufungsbehörde sind aber zwei wesentliche Verfahrensmängel unterlaufen:
Es findet sich in der Begründung des erstinstanzlichen und des Berufungsbescheides keine Feststellung darüber, welchen Zeitraum die Sicherheitswachebeamten dem Beschwerdeführer im Wachzimmer bis zum erwarteten Eintreffen des Amtsarztes in Aussicht stellten. Sollte dem Beschwerdeführer das Eintreffen des Amtsarztes zu einer ganz unbestimmten Zeit in Aussicht gestellt worden sein, so hätte für ihn keine Rechtspflicht bestanden, auf den Amtsarzt zu warten (so das Erkenntnis vom 19. Februar 1987, Zl. 86/02/0139). Eine solche Behauptung hat der Beschwerdeführer in seinem Schriftsatz vom 24. Juli 1985, dort Seite 12, aufgestellt. Auch aus der Zeugenaussage des SWB S vom 18. März 1987 ergeben sich diesbezüglich Anhaltspunkte, wonach der Zeuge "heute" nicht mehr sagen konnte, ob der Beschwerdeführer gefragt habe, wie lange es noch dauern könne, bis der Amtsarzt eintreffe, und ob ihm diesbezüglich eine Auskunft gegeben worden sei. Feststellungen über diese Tatumstände, die im Lichte des zitierten Erkenntnisses entscheidungswesentlich sein können, fehlen.
Ferner hat die Berufungsbehörde zu Unrecht der Äußerung des Chefarztes der Bundespolizeidirektion Wien vom 24. Juli 1987 die Eigenschaft eines Gutachtens im Sinne des § 52 AVG 1950 zugebilligt. Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 9. Dezember 1983, Zl. 82/02/0027, auch unter Hinweis auf weitere Judikatur, ausgeführt hat, steht eine "Äußerung" des Polizeichefarztes, die weder eine Befundaufnahme noch eine Begutachtung enthält, nicht auf der Ebene eines Sachverständigengutachtens im Sinne des § 52 AVG 1950. Daß ein Gutachten aus einer sachverständigen Tatsachenfeststellung - der sogenannten Befundaufnahme - und aus sachverständigen Schlußfolgerungen unter Anwendung der jeweiligen Kunst oder Wissenschaft aus den eben festgestellten Tatsachen - dem Gutachten im engeren Sinn - besteht, hat der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis vom 2. Juni 1982, Zl. 81/03/0151, dargetan. Ein solches Gutachten hat der Chefarzt der Bundespolizeidirektion Wien im vorliegenden Fall nicht abgegeben. Im Erkenntnis vom 9. Juli 1987, Zl. 87/02/0046, hat der Verwaltungsgerichtshof ausgeführt, eine sachverständige Äußerung, die sich in der Abgabe eines Urteiles erschöpft, aber weder die Tatsachen, auf die sich dieses Urteil gründet, noch die Art, wie diese Tatsachen beschafft wurden, erkennen läßt, sei mit einem wesentlichen Mangel behaftet und als Beweismittel unbrauchbar. Die Behörde, die eine so geartete Äußerung ihrer Entscheidung zugrundelege, werde ihrer Pflicht zur Erhebung und Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes nicht gerecht.
Durch die Unterlassung der Klärung der Frage, ob man dem Beschwerdeführer im Wachzimmer überhaupt irgendeinen Zeitraum, in dem er auf den Amtsarzt zu warten habe, mitgeteilt habe, blieb der Sachverhalt in einem wesentlichen Punkt ergänzungsbedürftig. Durch die Übernahme der bloßen Äußerung des Chefarztes der Bundespolizeidirektion Wien, die nicht den Charakter eines Gutachtens hat, wurden Verfahrensvorschriften außer acht gelassen, bei deren Einhaltung die belangte Behörde zu einem anderen Bescheid hätte kommen können. Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff insbesondere 59 Abs. 3 letzter Satz VwGG in Verbindung mit der Verordnung des Bundeskanzlers vom 30. Mai 1985, BGBl. Nr. 243.
Wien, am 7. September 1988
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