AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §34 Abs3
AsylG 2005 §8
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
FPG §46
FPG §50
FPG §52
FPG §55 Abs2
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §27
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
VwGVG §28 Abs5
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2022:I403.2252991.1.00
Spruch:
I403 2252991-1/16EI403 2252993-1/12EI403 2252996-1/13E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin MMag. Birgit ERTL als Einzelrichterin über die Beschwerden von XXXX , geb. XXXX , des XXXX XXXX , geb. XXXX , und des XXXX XXXX , geb. XXXX , die XXXX Beschwerdeführer gesetzlich vertreten durch die Kindesmutter XXXX , alle Staatsangehörige von Tunesien und vertreten durch die "BBU GmbH", Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl jeweils vom 16.02.2022, Zl.en XXXX , XXXX und XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 02.05.2022 sowie am 31.05.2022 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide wird als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben. XXXX und XXXX wird gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005, XXXX gemäß §§ 8 Abs. 1 iVm 34 Abs. 3 AsylG 2005 der Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Tunesien zuerkannt. Ihnen wird gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte für die Dauer von einem Jahr erteilt.
III. Die Spruchpunkte III. bis VI. der angefochtenen Bescheide werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Die Verfahren von XXXX (Erstbeschwerdeführerin) und ihrer beiden XXXX Söhne XXXX (Zweitbeschwerdeführer) und XXXX (Drittbeschwerdeführer), alle Staatsangehörige von Tunesien, sind gemeinsam als Familienverfahren im Sinne des § 34 AsylG 2005 zu führen.
Die Erstbeschwerdeführerin reiste gemeinsam mit dem Zweit- und Drittbeschwerdeführer unter Umgehung der Grenzkontrollen in das Bundesgebiet ein und stellte sowohl für sich als auch für ihre beiden Söhne am 05.11.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz, welchen sie im Rahmen ihrer am darauffolgenden Tag stattfindenden Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie zweier niederschriftlicher Einvernahmen vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA / belangte Behörde) am 14.01.2022 sowie am 17.01.2022 im Wesentlichen mit Problemen mit ihrem gewalttätigen Ehemann begründete. Dieser habe die Erstbeschwerdeführerin wiederholt vergewaltigt und sowohl sie als auch die beiden Söhne, den Zweit- und Drittbeschwerdeführer, mehrfach geschlagen. Die tunesischen Behörden seien trotz einer Anzeige der Erstbeschwerdeführerin untätig geblieben und habe sie bereits versucht, mit den minderjährigen Beschwerdeführern in ein Hotel sowie zu einer Tante zu ziehen, jedoch habe der gewalttätige Ehemann ihren Aufenthaltsort stets herausgefunden, da dieser gute Kontakte zur Polizei habe. Nachdem die Erstbeschwerdeführerin ihrem Ehemann gegenüber angekündigt habe, sich scheiden lassen zu wollen, habe dieser sie mit dem Tod bedroht und überdies, nachdem er davon erfahren habe, dass sich die Erstbeschwerdeführerin hilfesuchend an die tunesischen Behörden gewandt habe, das eigene Haus mit Benzin anzünden wollen, wovon ihn die Erstbeschwerdeführerin jedoch noch abhalten habe können. Im Falle ihrer Rückkehr nach Tunesien befürchte die Erstbeschwerdeführerin, von ihrem Ehemann getötet zu werden. Als Beweismittel brachte sie ein Schreiben eines tunesischen Spitals sowie diverse Lichtbilder, welche etwa einen ihrer Söhne mit einem eingegipsten Arm, beschädigte Türen oder rote (vermutlich Bluts-)Tropfen auf einem Fliesenboden zeigen, in Vorlage.
Mit den gegenständlich angefochtenen Bescheiden jeweils vom 16.02.2022 wies die belangte Behörde die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Tunesien gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Zugleich wurde ihnen ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Tunesien zulässig ist (Spruchpunkt V.). Die Frist für ihre freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.). Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, Tunesien sei als sicherer Herkunftsstaat im Hinblick auf die seitens der Erstbeschwerdeführerin geltend gemachten Übergriffe durch ihren Ehemann schutzfähig und -willig, überdies garantiere die Verfassung den Schutz von Frauenrechten und sei es Frauen im Falle von häuslicher Gewalt möglich, ein Frauenhaus aufzusuchen. Auch könne die Erstbeschwerdeführerin im Lichte der einschlägigen Länderberichte eine einstweilige Verfügung gegen ihren Ehemann erwirken, die Scheidung einreichen oder gegebenenfalls auch neuerlich bei Angehörigen Unterkunft nehmen. Als unglaubhaft erachtete die belangte Behörde überdies das Vorbringen, die Beschwerdeführer seien ohne Wissen des Ehemannes und Kindesvaters legal in die Türkei ausgereist, da die Ausreise minderjähriger Kinder aus Tunesien der Zustimmung des Kindesvaters bedürfe.
Gegen die Bescheide wurde fristgerecht mit Schriftsatz vom 14.03.2022 vollumfänglich Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht erhoben und hierbei deren inhaltliche Rechtswidrigkeit und Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert.
Beschwerde und Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 18.03.2022 vorgelegt.
Mit Schriftsatz ihrer Rechtsvertretung vom 28.04.2022 übermittelte die Erstbeschwerdeführerin dem Bundesverwaltungsgericht im Vorfeld zu der für den 02.05.2022 anberaumten Beschwerdeverhandlung eine schriftliche Stellungnahme, in welcher im Wesentlichen ausgeführt wurde, dass die Erstbeschwerdeführerin homosexuell und aufgrund dessen in Tunesien der Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt sei, wobei sie erst jetzt – nach vielen Monaten klinisch- und gesundheitspsychologischer Beratungen – in der Lage sei, offen über ihre Homosexualität zu sprechen. Sie habe nie ein Interesse an Männern gehabt, sei jedoch bereits im Alter von 17 Jahren von ihrer Familie mit ihrem Mann zwangsverheiratet worden. Bei sexuellen Handlungen mit einer Frau, mit welcher die Erstbeschwerdeführerin eine Liebesbeziehung geführt habe, habe sie sich eine Art Narbe im Hals-/Schulterbereich zugezogen. Da ihr Mann nichts von ihrer sexuellen Orientierung gewusst habe, hätte er ihr unterstellt, ihn zu betrügen, sodass er am darauffolgenden Tag mit einem Kanister Benzin nach Hause gekommen sei und ihr gedroht habe, sie im Haus einzusperren und mit den gemeinsamen Kindern zu verbrennen. Aus Angst um ihr Leben und um das Leben ihrer Kinder habe die Erstbeschwerdeführerin beschlossen zu fliehen. Überdies sei der Ehemann auch den beiden Kindern gegenüber gewalttätig gewesen. Zudem wurde ausgeführt, dass dieses nunmehrige Vorbringen bezüglich der Homosexualität der Erstbeschwerdeführerin nicht dem Neuerungsverbot unterliege, und wurde aus allgemeinen Länderberichten bezüglich der Situation sexueller Minderheiten in Tunesien zitiert.
Am 02.05.2022 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung in Anwesenheit der Beschwerdeführer und ihrer Rechtsvertretung abgehalten und hierbei die gegenständliche Beschwerdesache erörtert. Im Zuge dieser Verhandlung brachte die Erstbeschwerdeführerin u.a. ein Bestätigungsschreiben des Vereins Queer Base sowie der in Österreich als Flüchtling anerkannten algerischen Staatsangehörigen D.G., welche die Erstbeschwerdeführerin in ihrer ersten Flüchtlingsunterkunft kennengelernt habe und welcher aufgrund ihrer Transsexualität der Status der Asylberechtigten zuerkannt wurde, in Vorlage. Überdies gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass D.G. die erste Person gewesen sei, welcher sie in Österreich ihre homosexuelle Orientierung offenbart habe.
Am 31.05.2022 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine weitere mündliche Beschwerdeverhandlung in Anwesenheit der Erstbeschwerdeführerin und ihrer Rechtsvertretung abgehalten und hierbei die gegenständliche Beschwerdesache erörtert. Überdies wurden im Rahmen dieser Verhandlung D.G. sowie Mag. B.B., eine klinische und Gesundheitspsychologin, bei welcher sich die Erstbeschwerdeführerin in Behandlung befindet, als Zeuginnen befragt.
Mit Schriftsatz ihrer Rechtsvertretung vom 10.06.2022 übermittelten die Beschwerdeführer dem Bundesverwaltungsgericht eine psychologische Stellungnahme einer klinischen und Gesundheitspsychologin sowie ein Schreiben eines Ambulatoriums für Kinder und Jugendliche in Krisensituationen bezüglich der minderjährigen Beschwerdeführer, überdies eine Teilnahmebestätigung hinsichtlich des Besuchs eines Deutschkurses durch die Erstbeschwerdeführerin.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Die unter Punkt I. getroffenen Ausführungen werden als entscheidungswesentlicher Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende weitere Feststellungen getroffen:
1.1. Zu den Personen der Beschwerdeführer:
Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige von Tunesien. Es handelt sich bei ihnen um eine volljährige Frau (Erstbeschwerdeführerin) und ihre beiden minderjährigen Söhne (Zweit- und Drittbeschwerdeführer). Sie sind Angehörige der Volksgruppe der Araber und bekennen sich zum sunnitisch-moslemischen Glauben. Ihre Identitäten stehen nicht fest.
Die Beschwerdeführer stammen aus Soussa, wo sie bis zu ihrer Ausreise gelebt haben. Die Erstbeschwerdeführerin hat in ihrem Herkunftsstaat elf Jahre die Schule besucht und bis zu ihrer Ausreise als Verkäuferin in einem Bekleidungsgeschäft gearbeitet. Im Alter von 17 Jahren heiratete sie K.R., den Kindesvater des Zweit- und Drittbeschwerdeführers. Die Beschwerdeführer lebten gemeinsam mit ihm in dessen Eigentumswohnung. K.R. betreibt ein Autohaus; es ging der Familie wirtschaftlich gut, die Ehe zwischen der Erstbeschwerdeführerin und K.R. ist nach wie vor aufrecht. Der Vater der Erstbeschwerdeführerin ist bereits verstorben, ihre Mutter, drei Schwestern sowie vier Brüder leben hingegen nach wie vor in Soussa; die Erstbeschwerdeführerin steht in regelmäßigem Kontakt zu ihrer Mutter. Darüber hinaus leben noch Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen der Erstbeschwerdeführerin in Tunesien. Die Zweit- und Drittbeschwerdeführer haben in Tunesien bis zu ihrer Ausreise die Schule besucht und bei ihren Eltern gelebt, welche für ihren Lebensunterhalt aufkamen.
Ende September 2021 reisten die Beschwerdeführer auf dem Luftweg von Tunesien in die Türkei aus und von dort schlepperunterstützt über Serbien und Ungarn nach Österreich weiter, wo sie ihre verfahrensgegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz stellten. Seit (spätestens) 05.11.2021 halten sie sich im Bundesgebiet auf.
Die Beschwerdeführer leben gemeinsam in einer Flüchtlingsunterkunft. Ansonsten verfügen sie in Österreich sowie auf dem Gebiet der Mitgliedstaaten über keine weiteren familiären Anknüpfungspunkte.
Die Erstbeschwerdeführerin ging in Österreich zu keinem Zeitpunkt einer angemeldeten Erwerbstätigkeit nach und bestreiten die Beschwerdeführer ihren Lebensunterhalt seit ihren verfahrensgegenständlichen Asylantragstellungen über die staatliche Grundversorgung.
Die Erstbeschwerdeführerin besuchte von 06.12.2021 bis 31.03.2022 einen Deutschkurs für das Sprachniveau A1.1 sowie zum Entscheidungszeitpunkt seit 05.04.2022 einen bis zum 19.07.2022 anberaumten Deutschkurs für das Sprachniveau A1.2, jeweils im Ausmaß von 200 Unterrichtseinheiten, hat bislang jedoch keinen Nachweis über eine erfolgreich abgelegte Sprachprüfung erbracht. Die Zweit- und Drittbeschwerdeführer besuchen gegenwärtig die dritte Klasse einer Neuen Mittelschule, haben sich die deutsche Sprache recht gut angeeignet, sind in der Schule und in Sportvereinen gut integriert und haben auch in ihrer Wohnumgebung Freundschaften geknüpft. Der Drittbeschwerdeführer trainiert mehrmals wöchentlich Kickboxen im Rahmen eines von einem Kampfsportverein organisierten Projekts, der Zweitbeschwerdeführer spielt Fußball und die Erstbeschwerdeführerin hat eine Freundschaft mit der Zeugin D.G. (IFA-Zl. XXXX ), einer algerischen Staatsangehörigen, welcher mit Bescheid des BFA vom 03.03.2022 aufgrund ihrer Transsexualität der Status der Asylberechtigten zuerkannt wurde, geschlossen.
Die Beschwerdeführer sind strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Zum Gesundheitszustand der Beschwerdeführer:
Die Beschwerdeführer sind körperlich gesund und gehören keiner COVID-19-Risikogruppe an, die Erstbeschwerdeführerin befindet sich überdies in einem erwerbsfähigen Alter. Allerdings wurden sie in Tunesien Opfer von häuslicher Gewalt und hatten über einen längeren Zeitraum unter dem gewalttätigen Ehemann bzw. Familienvater K.R. zu leiden.
Seit 28.12.2021 befindet sich die Erstbeschwerdeführerin in regelmäßiger klinisch- und gesundheitspsychologischer Behandlung bei der Zeugin Mag. B.B. und überdies seit 01.02.2022 in regelmäßiger Betreuung und Behandlung bei den Psychosozialen Diensten XXXX , wo an ihr fachärztlich eine posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10-Code: F43.1), eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode (ICD-10-Code: F33.1), eine generalisierte Angststörung (ICD-10-Code: F41.1), Alpträume/Angstträume (ICD-10-Code: F51.5) sowie eine nichtorganische Insomnie (ICD-10-Code: F51.0) diagnostiziert wurden und ihr hierfür das Medikament Trittico retard 150 mg (Wirkstoff: Trazodon) verschrieben wurde, welches sie nach wie vor regelmäßig einnimmt und ihre psychischen Beschwerden auch lindert.
Der Zweit- und Drittbeschwerdeführer stehen in ihrer Flüchtlingsunterkunft in regelmäßigem Kontakt mit einer Psychotherapeutin und befinden sich seit März 2022 überdies in psychotherapeutischer Behandlung in einem Ambulatorium für Kinder und Jugendliche in Krisensituationen, wobei künftig die Behandlung einer posttraumatischen Belastungsstörung geplant ist. Die Betreuungskontakte mit der Psychotherapeutin ihrer Flüchtlingsunterkunft erfolgen in Form von mehrmals wöchentlichen Einzelgesprächen und 14-tägigen Gruppenaktivitäten. Die minderjährigen Beschwerdeführer weisen beide eindeutige Symptome einer Traumafolgestörung (PTBS) auf, welche sich in Form von körperlicher Unruhe, geringer Frustrationstoleranz, sozialem Rückzug und großer Schreckhaftigkeit manifestiert. Das Symptom des sozialen Rückzugs ist beim Zweitbeschwerdeführer noch mehr zu beobachten, während beim Drittbeschwerdeführer neben der psychischen Symptomatik die in der Heimat erlebte Gewalt auch körperlich sichtbar ist, da diesem im Oberkiefer zwei Zähne fehlen. Die Zweit- und Drittbeschwerdeführer sind im Hinblick auf ihren psychischen Gesundheitszustand noch sehr instabil und verspüren eine große Unsicherheit, was ihre Zukunft betrifft, was sich darin äußert, dass sie ständig damit rechnen, wieder ihrer vertrauten Umgebung entrissen zu werden. Erst wenn ihnen endgültig ein gesicherter Aufenthalt in Österreich zukommt, wird es den minderjährigen Beschwerdeführern möglich sein, die traumatischen Erlebnisse in ihrer Vergangenheit therapeutisch aufzuarbeiten und hinter sich zu lassen.
1.3. Zum Fluchtvorbringen und einer Rückkehrgefährdung der Beschwerdeführer:
Dass die Beschwerdeführer Tunesien aufgrund von häuslicher Gewalt, ausgeübt durch den Ehemann der Erstbeschwerdeführerin bzw. den Kindesvater des Zweit- und Drittbeschwerdeführers, verlassen haben ist zwar glaubhaft, in Anbetracht einer grundsätzlich anzunehmenden staatlichen Schutzfähigkeit und -willigkeit jedoch nicht asylrelevant.
Dem im Beschwerdeverfahren ergänzend erstatteten Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin, wonach sie in Tunesien überdies aufgrund ihrer Homosexualität der Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt sei, war hingegen jegliche Glaubhaftigkeit zu versagen, da die Erstbeschwerdeführerin nicht homosexuell ist.
Die Beschwerdeführer werden somit im Falle ihrer Rückkehr nach Tunesien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner aktuellen sowie unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung, welche ihre Ursache in einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe hätte, ausgesetzt sein.
Für die Beschwerdeführer besteht im Falle ihrer Rückkehr nach Tunesien auch nicht die reale Gefahr einer ernsthaften Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes.
Jedoch besteht das reale Risiko, dass den minderjährigen Beschwerdeführern in ihrem Herkunftsstaat keine adäquate Versorgung sowie medizinische Behandlung zuteilwürde und besteht insoweit die reale Gefahr, dass sie im Falle ihrer Rückführung nach Tunesien in eine existenzbedrohende Notlage geraten bzw. schwer retraumatisiert würden.
1.4. Zur Lage in Tunesien:
Gemäß § 1 Z 11 HStV (Herkunftsstaaten-Verordnung, BGBl. II Nr. 177/2009 idF BGBl. II Nr. 145/2019) gilt Tunesien als sicherer Herkunftsstaat.
Zur aktuellen Lage in Tunesien werden folgende Feststellungen getroffen:
COVID-19
Letzte Änderung: 21.10.2021
Tunesien war bis vor kurzem besonders stark von der COVID-Pandemie betroffen und das Infektionsrisiko stieg laufend, zudem zählte Tunesien weltweit zu den Ländern mit den höchsten COVID-Todesraten (BMEIA 20.10.2021; vgl. WKO 16.9.2021); mit bisher über 24.000 Todesfälle, ca. 2.000 Neuinfizierte und etwa 80 Tote täglich waren eine traurige Bilanz. Momentan durchlebt das Land die 5. Pandemiewelle, die von der Delta-Variante geprägt ist (WKO 16.9.2021).
Aktuell kommt es mit 16.10.2021 zur Neuerung innerstaatlicher Maßnahmen in Bezug auf die COVID-19 Infektion. Vollständig Geimpfte (seit mindestens 14 Tagen) benötigen bei Einreise keinen PCR-Test mehr und für nicht-Geimpfte gilt weiterhin sieben Tage Hotelquarantäne zulasten des Reisenden. Seit Beginn Oktober 2021 ist ein starker Rückgang von Infektionsfällen, Hospitalisierungen und Todesfällen zu verzeichnen. Aktuell kommt es auch zu keiner Überbelastung des Gesundheitssektors (ÖB 20.10.2021).
Am 16.10.2021 wurde auch die Ausgangssperre aufgehoben und eine uneingeschränkte Wiederaufnahme des Arbeitsbetriebs im öffentlichen Dienst und des vollständigen Präsenzunterrichts in sämtlichen Bildungseinrichtungen. Weiters sind auch alle Aktivitäten und öffentliche und private Versammlungen im offenen Raum für nachweislich vollständig Geimpfte wieder zulässig. Mit dem Beginn der Impfkampagne mit einer 3. Dosis für über 75-Jährige und chronisch Erkrankte, verzeichnet Tunesien allerdings auch ein Abnehmen der Impfbereitschaft, bzw. eine Impfmüdigkeit. Dem aktuellen Bericht der ÖB ist zu entnehmen, dass die Impfquote der vollständig geimpften bei 35,24 % liegt, sprich 3,2 Mio. (ÖB 20.10.2021).
Die Situation bezüglich Bewegungsfreiheit hat sich seit 2011 substantiell verbessert. Allerdings können die Behörden unter dem breiten Mandat des Ausnahmezustands die Bewegungsfreiheit einzelner Personen beschränken. Davon waren tausende Menschen betroffen. Die Bewegungsfreiheit wurde auch durch COVID-19-bezogene Maßnahmen beeinträchtigt (FH 3.3.2021).
Waren die Herausforderungen in wirtschaftlicher, sozialer, moralischer und kultureller Hinsicht bereits bisher enorm, sind sie nun seit Ausbruch der Covid-19 Krise Mitte März 2020 nochmals um ein Vielfaches verschärft: die Arbeitslosigkeit, seit Jahren gemäß offiziellen Statistiken 15,6%, ist auf 18% gestiegen und dürfte weiter auf 20% bis Jahresende steigen (ÖB 1.10.2020).
Aktuell ist die medizinische Versorgung aufgrund der Covid-19-Pandemie nicht gewährleistet, da die Krankenhäuser ihre Kapazitätsgrenzen erreicht haben (BMEIA 20.10.2021). Gerade die Covid-19-Pandemie hat starke Defizite aufgezeigt (ÖB 1.10.2020).
Quellen:
BMEIA - Bundesministerium Europäische und Internationale Angelegenheiten [Österreich] (20.10.2021): Reiseinformationen Tunesien, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tunesien/ , Zugriff 20.10.2021
FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 - Tunisia, https://www.ecoi.net/en/document/2046543.html , Zugriff 7.10.2021
ÖB - Österreichische Botschaften [Österreich] (20.10.2021): Tunesien, SARS-COV-2_Fact_Sheet, übermittelt via Mail
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (1.10.2020): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042211/TUNESIEN_ALB_2020_-Finale_Fassung.pdf , Zugriff 7.10.2021
WKO - Wirtschaftskammer Österreich (16.9.2021): Die tunesische Wirtschaft, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/die-tunesische-wirtschaft.html , Zugriff 15.10.2021
Politische Lage
Letzte Änderung: 21.10.2021
Tunesien ist gemäß der Verfassung von 2014 ein freier, unabhängiger und souveräner Staat, dessen Religion der Islam, dessen Sprache das Arabische und dessen Regierungsform die Republik ist. Die erste Phase nach der Flucht des Präsidenten Ben Ali am 14.1.2011 prägten Übergangsregierungen, unterstützt von der "Hohen Instanz zur Verwirklichung der Ziele der Revolution" als Ersatzparlament. Die Verfassung betont den zivilen und rechtsstaatlichen Charakter des Regierungssystems. Sie sieht ein gemischtes Regierungssystem vor, in dem sowohl der Präsident als auch das Parlament direkt vom Volk gewählt werden. Der Premierminister bestimmt die Richtlinien der Politik - mit Ausnahme der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die in die Zuständigkeit des Staatspräsidenten fallen (ÖB 1.10.2020; vgl. AA 19.2.2021). Die Verfassung garantiert durch eine stärkere Gewaltenteilung und die Einrichtung eines Verfassungsgerichtshofs eine bessere Kontrolle der verschiedenen Gewalten. Außerdem wurde die Gleichstellung von Frauen festgeschrieben. Bezüglich der Rolle der Religion einigten sich die Abgeordneten auf einen zwiespältigen Text, der sowohl den zivilen Charakter des Staates sowie Glaubens- und Gewissensfreiheit garantiert, als auch den Schutz des Sakralen festschreibt (GIZ 11.2020a).
Tunesien hatte nach dem sogenannten Arabischen Frühling vor zehn Jahren zwar tiefgreifende demokratische Reformen eingeleitet, diese erbrachten allerdings nur teilweise die erhofften strukturellen Reformen und Veränderungen. Das Land kämpft mit großen wirtschaftlichen Problemen und hoher Arbeitslosigkeit. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung ist groß (BAMF 25.1.2021; vgl. ÖB 1.10.2020). Dies gilt vor allem für jene Bevölkerungsschicht, die sich von den Regierungen nach der Revolution eine Verbesserung der Lebensqualität erwartet hatten, indem Ungleichheiten und Benachteiligungen behoben werden. Diese Menschen sehen sich als marginalisiert (Merip.org 16.3.2021).
Im Herbst 2019 fanden zum dritten Mal in Folge freie Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt (AA 16.12.2020a). Die Wahlen verliefen grundsätzlich frei und fair (AA 19.2.2021). Der neue Präsident Kaïes Saïed gilt als unbestechlich und politisch unerfahren. Den Tunesiern verspricht er neben der Bekämpfung der Korruption eine rigorose Überarbeitung der Verfassung und des Wahlsystems sowie mehr Demokratie auf lokaler Ebene. Saïed ist zudem für seine sehr konservativen Ansichten in gesellschaftlichen Fragen bekannt (BAMF 21.10.2019). Bei den Parlamentswahlen wurden die traditionellen Parteien abgestraft und viele unabhängige Kandidaten gewählt, was zu einer weiteren Zersplitterung des Parlaments geführt hat. Die muslimisch-konservative Ennahdha-Partei bleibt zwar stärkste Partei, stellt aber nur rund ein Viertel der 217 Abgeordneten im neuen Parlament. Zweitstärkste Kraft ist die Partei Qalb Tounes (Das Herz Tunesiens) des Medienmoguls und Präsidentschaftskandidaten Nabil Karoui (GIZ 11.2020a) mit 30 Sitzen (ÖB 1.10.2020).
Seit Jahresbeginn 2021 kommt es regelmäßig zu Protesten und Demonstrationen. Im Jänner 2021 kam es trotz Pandemie-bedingter Ausgangssperren und Versammlungsverbot zu landesweiten Protesten und gewaltsamen Unruhen gegen die Regierung. Dabei kam es auch zu gewaltsamen Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften (BAMF 25.1.2021). Im Feber 2021 protestierten Hunderte Menschen gegen die Polizeigewalt (BAMF 8.2.2021) und am 27.2.2021 kam es zu Demonstrationen Tausender Unterstützer der regierenden Partei Ennahdha (BAMF 1.3.2021; vgl. DW 27.2.2021).
Präsident Saïed und die Ennahda-Partei, zu der Regierungschef Mechichi und Parlamentspräsident Rached Ghannouchi gehören, lieferten sich einen Machtkampf. Es ging u. a. um die Verteilung der Macht zwischen Präsident, Regierung und Parlament (Tagesschau 27.7.2021; vgl. SZ 26.7.2021). Saïed hatte bei seinem Amtsantritt 2019 geschworen, das komplexe und von Korruption geprägte System zu reformieren (FAZ 26.7.2021b). Am Abend des 25.7.2021, nach einem Krisentreffen mit Vertretern von Militär und Sicherheitsbehörden, hat Staatspräsident Kaïs Saïed, den Ministerpräsident Hichem Mechichi seines Amtes enthoben und die Arbeit des Parlaments vorerst ausgesetzt (ÖB 23.9.2021). Um Mitternacht des 24.8.2021 wurde per Twitter ein präsidentielles Dekret verkündet, wonach die Verlängerung der Maßnahmen vom 25.7.2021, die Aussetzung der parlamentarischen Arbeit sowie die Aufhebung der Immunität aller Abgeordneten "bis auf weiteres" in Kraft bleiben (ÖB 24.8.2021).
Am 25.7.2021 haben tausende Menschen in Tunis und anderen Städten, gegen die Corona-Politik der Regierung und die anhaltende Wirtschaftskrise im Land protestiert; sie forderten u.a. den Rücktritt des Kabinetts und die Auflösung des Parlaments (BAMF 26.7.2021; vgl. FAZ 26.7.2021a). Zu den Protesten am 64. Jahrestag der Unabhängigkeit Tunesiens hatte eine neue Gruppe namens "Bewegung des 25. Juli" aufgerufen. Die Demonstranten warfen Mechichi und der Ennahda vor allem Versagen im Kampf gegen die Corona-Pandemie vor (DW 26.7.2021). Zudem verhängte Präsident Saïed noch am selben Abend eine nächtliche Ausgangssperre und jede öffentliche Versammlung von mehr als drei Personen wurde untersagt (SZ 26.7.2021). Tunesien erlebt derzeit einen starken Anstieg der Corona-Fallzahlen (FAZ 26.7.2021b; DW 26.7.2021). Nach dieser Verkündigung, begannen trotz der Ausgangssperre neue Demonstrationen - dieses Mal aus Freude (FAZ 26.7.2021a; vgl. SZ 26.7.2021). Islamisten sprachen vom „Verrat an allen Tunesiern“ (FAZ 26.7.2021a).
Bei gewaltsamem Widerstand drohte der Präsident mit einem Einsatz der Armee. Am 26.7.2021 entließ der Präsident auch Verteidigungsminister Ibrahim Bartaji und die amtierende Justizministerin Hasna Ben Slimane (DW 26.7.2021; vgl. ÖB 23.9.2021). Das Parlamentsgebäude in Tunis wurde noch am Abend [des 25.7.2021] geschlossen und von Sicherheitskräften umstellt und hielten in der Nacht auch Parlamentspräsident Ghannouchi davon ab, das Gebäude zu betreten. Aufgebrachte Demonstranten und Ennahda-Anhänger forderten Zugang und eine "Umkehrung des Staatsstreichs". Laut Augenzeugen kam es auch zu Rangeleien zwischen Demonstranten und Unterstützern Saïeds. Teils gab es Berichte über Angriffe auf Parteibüros der Ennahda (SZ 26.7.2021). Vereinzelt kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Protestierenden; zahlreiche Demonstrierende wurden verhaftet (BAMF 26.7.2021).
Am 29.7.2021 wurde der ehemalige Berater des Staatspräsidenten, Ridha Gharsallaoui, als vorübergehender Innenminister nominiert (ÖB 23.9.2021).
Der tunesische Präsident Kaïs Saïed bestimmte mit Präsidialdekret vom 22.9.2021, dass nur mehr Artikel 1 und 2 der Verfassung 2014 Geltung haben (arabisch, islamisch, rechtsstaatlich, republikanisch, Volkswille) und legte in 23 Artikel und 4 Kapiteln seine nunmehrigen sehr weitreichenden Befugnisse fest, sowie mit allen verfassungsrechtlichen Bestimmungen, die nicht im Widerspruch zu den Ausnahmeregelungen stehen. Damit formalisiert und festigte er seine de facto bereits seit dem 25.7.2021 bestehenden Prärogativen. Weiters bleibt das Parlament suspendiert und die Aufhebung der parlamentarischen Immunität. Ferner gilt die ausschließliche Gesetzgebung durch Präsidialdekrete ohne Einspruchsmöglichkeit oder verfassungsmäßige Kontrolle, wie auch die Abschaffung der Befugnis der Kommission zur Überwachung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen. Auch die Exekutivgewalt wird vom Präsidenten ausgeübt. Die Regierung steht dem Präsidenten zur Seite und ist ausschließlich dem Staatspräsidenten gegenüber verantwortlich. Der Präsident wird mit einer von ihm einberufenen Kommission eine Verfassungsänderung erarbeiten und darüber eine Volksabstimmung abhalten (ÖB 24.9.2021). Nach dem neuen Dekret ist das Handeln des Regierungschefs vollständig von den Entscheidungen des Präsidiums abhängig, was einen radikalen Bruch mit dem halbparlamentarischen System darstellt, das in der Verfassung von 2014 verankert ist (LM 24.9.2021).
Saïed betont, dass sein Handeln im Interesse der nationalen Sicherheit liege und die Maßnahmen im Einklang mit der Verfassung stünden und darauf abzielten, die Rechte der Tunesier zu wahren. Politische Gegner bezeichnen den Schritt als "Putsch" (DW 22.9.2021). Die Entmachtung der Regierung und die Suspendierung des Parlaments stürzten das Land in eine Verfassungskrise (ZO 29.9.2021). Im Dekret selbst festgehaltenes Ziel dieser Maßnahmen ist die Schaffung einer „wahrhaften Demokratie“, die vom Volk ausgeht, die Gewaltenteilung und die Menschen- und Freiheitsrechte garantiert und die Ziele der Revolution von 2010 verwirklicht (ÖB 24.9.2021). Die größte politische Partei Tunesiens, die gemäßigte Ennahdha-Partei, bezeichnete Saïeds Vorgehen als "eklatanten Putsch gegen die demokratische Legitimität" und rief die Menschen dazu auf, sich zusammenzuschließen und die Demokratie in einem "unermüdlichen friedlichen Kampf" zu verteidigen (Daily Sabah 26.9.2021).
Nachdem es erstaunlicher Weise erst nur Stellungnahmen von Seiten der islamistischen Ennahda und ihres Koalitionspartners Qalb Tunes sowie einiger sehr kleiner Parteien, nicht jedoch von anderen Parteien oder den Gewerkschaften gab (ÖB 24.9.2021), hat die mächtige Gewerkschaft UGTT das Vorgehen am 24.9.2021 verurteilt (ÖB 24.9.2021; vgl. Daily Sabah 26.9.2021, VOA 26.9.2021). Die UGTT lehnte zentrale Elemente der Machtübernahme durch Saïed ab und warnte vor einer Bedrohung der Demokratie (Daily Sabah 26.9.2021). Die Partei rief die Menschen dazu auf, sich zu vereinen und die Demokratie in einem "unermüdlichen, friedlichen Kampf" zu verteidigen (VOA 26.9.2021).
Die Angst vor einem Rückschritt in die Diktatur wächst, und so demonstrierten am Samstag den 25.9.2021 in Tunis rund 2000 Menschen gegen die weitreichende Ausweitung der Macht von Präsident Saïed, gefolgt von einem großen Polizeiaufgebot. In den Tagen zuvor, hatten auch Demonstrationen von Unterstützern der Verfassungsänderungen stattgefunden (Spiegel 26.9.2021). Mehr als 100 prominente Funktionäre der Ennahda, darunter Gesetzgeber und ehemalige Minister, traten am Samstag [den 25.9.2021] aus Protest gegen das Verhalten der Führung zurück (VOA 26.9.2021).
Präsident Saïed meinte, sein Handeln sei notwendig, um die Krise der politischen Lähmung, der wirtschaftlichen Stagnation und der unzureichenden Reaktion auf die Coronavirus-Pandemie zu bewältigen. Er versprachen, die Rechte zu wahren und nicht zum Diktator zu werden (Daily Sabah 26.9.2021; vgl. VOA 26.9.2021). Saïed genießt nach wie vor breite Unterstützung bei vielen Tunesiern, die der Korruption und der schlechten öffentlichen Dienstleistungen überdrüssig sind und der Meinung sind, dass er saubere Hände habe. Dutzende seiner Anhänger erschienen zu der Demonstration. Die Polizei trennte die beiden Lager (VOA 26.9.2021; vgl AJ 26.9.2021).
Trotz regelmäßiger Ankündigungen, den Posten des Ministerpräsidenten bald neu zu besetzen, ließ sich Saïed lange Zeit mit der tatsächlichen Umsetzung. Kürzlich hatte sich allerdings der Druck auf den Präsidenten erhöht, endlich den Weg für eine neue Regierung frei zu machen (Spiegel 29.9.2021a; vgl. ZO 29.92021). In Tunesien wurde am Mittwoch, den 29.9.2021, mit der Universitätsdozentin Najla Bouden erstmals eine Frau zur Ministerpräsidentin ernannt. Zwei Monate nach der Entmachtung der bisherigen Regierung beauftragte Präsident Kaïs Saïed Bouden, "so schnell wie möglich" eine Regierung zu bilden. Ihre Befugnisse als künftige Regierungschefin sind deutlich eingeschränkt, seitdem Saïed vor einer Woche seine eigenen Machtbefugnisse ausgeweitet hat (n-tv.de 29.9.2021; vgl. AJ 29.9.2021, Tagesschau 11.10.2021). Faktisch leitet Saïed weiterhin die Regierungsgeschäfte und hat das letzte Wort über Kabinettsentscheidungen (Tagesschau 11.10.2021). Zentrale Aufgabe der künftigen Regierung sei es, "der Korruption und dem Chaos, das sich in vielen staatlichen Einrichtungen ausgebreitet hat, ein Ende zu setzen". Der Staatschef bezeichnete die Nominierung Boudens als "Ehre für Tunesien und Anerkennung für die tunesischen Frauen" (n-tv.de 29.9.2021; vgl. ZO 29.92021). Die neue Regierung solle die Korruption bekämpfen und den Forderungen und der Würde der Tunesierinnen und Tunesier in allen Bereichen, einschließlich Gesundheit, Verkehr und Bildung, gerecht werden, so Saïed (France24 29.9.2021).
Bouden hat sich als neue Regierungschefin vor allem ein Ziel gesetzt: »Unsere Hauptaufgabe wird die Korruptionsbekämpfung sein«, schrieb sie auf Twitter. Korruption ist in Tunesien weitverbreitet. Auch viele Abgeordnete des Parlaments, insbesondere der islamistischen Partei Ennahda, gelten als bestechlich (Spiegel 29.9.2021a). Laut der Nachrichtenagentur Anadolu hat die wenig bekannte Ingenieurin keine politische Zugehörigkeit (AJ 29.9.2021).
Es gab keine unmittelbare Reaktion der Gewerkschaft oder der politischen Parteien auf die Ernennung von Bouden. Die großen Parteien im Parlament könnten jedoch die Rechtmäßigkeit ihrer Ernennung und die jeder neuen Regierung oder der Politik, die sie ohne die Zustimmung der suspendierten Kammer umzusetzen versucht, anfechten (France24 29.9.2021).
Tunesien hat eine neue Regierung (Tagesschau 11.10.2021). Drei Monate, nachdem Präsident Kaïs Saïed die bisherige Regierung entlassen hatte, ernannte der Staatschef am Montag, den 11.10.2021 per Dekret überraschend ein neues Kabinett (SN 11.10.2021; vgl. Tagesschau 11.10.2021). Staatspräsident Saïed vereidigte 24 Mitglieder des neuen Kabinetts, darunter acht Frauen. Die meisten der Regierungsmitglieder sind parteipolitisch bislang nicht in Erscheinung getreten (BAMF 18.10.2021 ; vgl. Tagesschau 11.10.2021, SN 11.10.2021).Allerdings wächst die Kritik an Präsident Saïed. Erst am Sonntag [den 10.10.2021] demonstrierten unter starker Polizeipräsenz in der Hauptstadt Tunis Tausende Menschen. Dabei wurden mehrere Journalisten angegriffen, denen die Demonstranten Parteilichkeit für den Präsidenten vorwarfen (Tagesschau 11.10.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (16.12.2020a): Tunesien: Politisches Portrait, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tunesien-node/politisches-portrait/219068 , Zugriff 7.10.2021
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2047265/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Dezember_2020%29%2C_19.02.2021.pdf , Zugriff 7.10.2021
AJ - Al Jazeera (29.9.2021): Who is Najla Romdhane, Tunisia’s first female prime minister?, https://www.aljazeera.com/news/2021/9/29/who-is-najla-romdhane-tunisias-first-female-prime-minister , Zugriff 29.9.2021
AJ - Al Jazeera (26.9.2021): Hundreds of Tunisians protest President Saied’s ‘power grab’, https://www.aljazeera.com/news/2021/9/26/hundreds-gather-in-tunisia-to-oppose-president-saieds-power-grab , Zugriff 27.9.2021
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (18.10.2021): Briefing Notes, Quelle liegt bei der Staatendokumentation auf
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (26.7.2021): Briefing Notes, Quelle liegt bei der Staatendokumentation auf
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BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (8.2.2021): Briefing Notes, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw06-2021.html , Zugriff 7.10.2021
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (25.1.2021): Briefing Notes, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw04-2021.html , Zugriff 7.10.2021
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BR 24 - Bayrischer Rundfunk (26.7.2021): Aufstände in Tunesien: Ein Land vor dem Zusammenbruch, https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/aufstaende-in-tunesien-ein-land-vor-dem-zusammenbruch ,SeGqOg5, Zugriff 7.10.2021
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DS - der Standard (10.1.2020): Tunesisches Parlament stimmt gegen Technokraten-Kabinett von designiertem Regierungschef, https://www.derstandard.at/story/2000113173373/tunesisches-parlament-stimmt-gegen-technokraten-kabinett-von-designiertem-regierungschef , Zugriff 7.10.2021
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Merip.org (16.3.2021): Tunisia’s Marginalized Redefine the Political, https://merip.org/2021/03/tunisias-marginalized-redefine-the-political/ , Zugriff 7.10.2021
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ÖB - Österreichische Botschaften [Österreich] (20.10.2021): Tunesien, SARS-COV-2_Fact_Sheet, übermittelt via Mail
ÖB - Österreichische Botschaften [Österreich] (24.9.2021): Tunesien - StP Said formalisiert die de facto Machtübernahme vom 25.7. d J, Bericht liegt in der Staatendokumentation auf
ÖB - Österreichische Botschaften [Österreich] (23.9.2021): Kurzbericht zum aktuellen Dekret des Präsidenten (Stand 27.8.2021), Bericht liegt in der Staatendokumentation auf
ÖB - Österreichische Botschaften [Österreich] (24.8.2021): Betreff: StP Saied verlängert Ausnahmezustand, Bericht liegt in der Staatendokumentation auf
ÖB - Österreichische Botschaften [Österreich] (1.10.2020): Asylländerbericht zu Tunesien, 1. Oktober 2020, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042211/TUNESIEN_ALB_2020_-Finale_Fassung.pdf , Zugriff 7.10.2021
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VOA - Voice of America (26.9.2021): Tunisians Protest President's Power Grab as Opposition Deepens, https://www.voanews.com/a/tunisians-protest-against-president-s-perceived-power-grab/6246006.html , Zugriff 27.9.2021
ZO - Zeit Online (29.9.2021): Najla Bouden: Tunesien bekommt erstmals eine Regierungschefin, https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-09/tunesien-najla-bouden-ministerpraesidentin-frau-regierungsschefin-kais-saied , Zugriff 30.9.2021
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 21.10.2021
Die von den bisherigen Regierungen angestrebte Verbesserung der Sicherheitslage im Inneren und der Kampf gegen den Terrorismus bleiben trotz vermehrter Anstrengungen und zahlreichen Verhaftungs- und Durchsuchungsaktionen weiter eine Herausforderung. Nach den tragischen Anschlägen im Jahr 2015 auf das Bardo Museum, eine Hotelanlage in Sousse sowie einen Bus der Präsidialgarde (AA 19.2.2021; vgl. AA 20.10.2021). Das Risiko von terroristischen Akten besteht weiterhin im ganzen Land. Wiederholt sind in Tunis Selbstmordattentate gegen die tunesischen Sicherheitskräfte verübt worden, zum Beispiel im März 2020 in der Nähe der amerikanischen Botschaft sowie im Juni 2019 und im Oktober 2018 (EDA 20.10.2021; vgl. AA 20.10.2021). Die Attentate forderten vereinzelte Todesopfer und mehrere Verletzte, darunter auch Zivilpersonen. Die tunesischen Behörden haben eine Reihe von Maßnahmen getroffen, um Terrorzellen zu zerschlagen (EDA 20.10.2021). Die Sicherheitslage ist in der Stadt und in der Region um Ben Guerdane nahe der libyschen Grenze besonders angespannt. Mit verstärkter Militär- und Polizeipräsenz in diesen Regionen ist zu rechnen (AA 20.10.2021).
Die Sicherheitslage ist nach wie vor prekär, geprägt von täglichen Sicherheitsoperationen von Militär und Polizei sowie Meldungen über vereitelte Anschläge. Die Sorge vor einer Infiltration durch aus Libyen und anderen Konfliktzonen zurückkehrende Islamisten tunesischen Ursprungs ist groß. Auch mit Hilfe ausländischer logistischer Unterstützung wurden die Grenzkontrollen drastisch verschärft, und es wird auch im Land nach Rückkehrern gefahndet (ÖB 1.10.2020).
Laut österreichischem Außenministerium gilt (für österreichische Staatsbürger) eine partielle Reisewarnung (Sicherheitsstufe 5) für die Saharagebiete, das Grenzgebiet zu Algerien und die westlichen Landesteile. Reisewarnungen bestehen für die Region südlich der Orte Tozeur – Douz – Ksar Ghilane – Tataouine – Zarzis. Mit gewaltsamen Aktionen terroristischer Organisationen ist zu rechnen. Das militärische Sperrgebiet an der Grenze zu Algerien in der Nähe des Berges Chaambi ist teilweise vermint und kann von den Sicherheitskräften kurzfristig ausgedehnt werden. Im Westen des Landes ist mit verstärkter Militär- und Polizeipräsenz zu rechnen; es finden bewaffnete Auseinandersetzungen mit Terroristengruppen statt (BMEIA 20.10.2021). Die Behörden haben insbesondere die Präsenz der Sicherheitskräfte im Land erhöht, vor allem in den Touristenorten (EDA 20.10.2021).
Der seit Ende 2015 verhängte Ausnahmezustand mit erweiterten Befugnissen für Sicherheitskräfte wurde mehrfach verlängert und gilt landesweit fort. Mit vermehrten Polizeikontrollen ist landesweit weiterhin zu rechnen (AA 20.10.2021). Es erlaubt den Sicherheitskräften Streiks, Kundgebungen und große Versammlungen zu verbieten, von denen angenommen wird, dass sie zu Unruhen führen. Die Regierung hat diese Maßnahmen aus Sicherheitsgründen als notwendig bezeichnet, aber laut Analysten, sollen die Maßnahmen Dissens unterdrücken (FH 3.3.2021; vgl. ÖB 1.10.2020). Die Behörden verfügen somit über eine weitreichende Erlaubnis, die Bewegungsfreiheit von Einzelpersonen einzuschränken, und Tausende von Menschen sind von solchen Verfügungen betroffen (FH 3.3.2021).
Der seit sechs Jahren geltende sicherheitspolitische Ausnahmezustand in Tunesien hat es den Sicherheitskräften ermöglicht, ohne richterliche Genehmigung Razzien durchzuführen und gegen Verdächtige de facto Reiseverbote zu verhängen (JF 13.8.2021).
Im ganzen Land besteht die Gefahr von Terroranschlägen. Die angespannte Wirtschaftslage verbunden mit sozialen Problemen führt nicht nur vermehrt zu spontanen Demonstrationen, sondern auch gewalttätigen Ausschreitungen, die den Armeeeinsatz erforderlich machen. Demonstrationen und Proteste können sich spontan und unerwartet entwickeln. Gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften können dabei nicht ausgeschlossen werden (AA 20.10.2021; vgl. BMEIA 20.10.2021). Ferner informiert das Österreichische Außenministerium, dass es aktuell, zum 10-jährigen Jahrestag der tunesischen Revolution mit vermehrten Unruhen im ganzen Land zu rechnen ist (BMEIA 20.10.2021).
Die Zahl der Terroranschläge in Tunesien ist in den letzten Jahren zurückgegangen, da sich die Sicherheitsstrukturen des Landes erheblich verbessert haben. Darüber hinaus kam es zu keinem Übergreifen der Gewalt aus den von Konflikten geplagten nordwestlichen Provinzen, wo der IS und mit Al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQIM) verbundene Gruppen seit 2011 einen Aufstand gegen den Staat führen (JF 13.8.2021).
Dank der Ausbildungs- und Sicherheitshilfe der USA und der EU konnte die Armee ihre Fähigkeiten zur Terrorismusbekämpfung innerhalb des Militär- und Geheimdienstapparats verbessern und die tunesische Grenze zu Libyen sichern. Die Zahl der terroristischen Aktivitäten im Land konnte so erheblich reduziert werden. Während die Anti-Terror-Operationen in der Provinz Kasserine auch im Jahr 2021 fortgesetzt wurden, gab es seit dem Messerangriff auf eine Patrouille der Nationalgarde in Sousse im September 2020 keinen nennenswerten terroristischen Vorfall mehr in einem größeren tunesischen Ballungsraum (JF 13.8.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2047265/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Dezember_2020%29%2C_19.02.2021.pdf , Zugriff 7.10.2021
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (20.10.2021): Tunesien - Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tunesien-node/tunesiensicherheit/219024 , Zugriff 20.10.2021
BMEIA - Bundesministerium für Europäische und Internationale Angelegenheiten [Österreich] (20.10.2021): Tunesien - Reiseinformationen, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tunesien/ , Zugriff 20.10.2021
EDA - Eidgenössisches Department für Auswärtige Angelegenheiten [Schweiz] (20.10.2021): Reisehinweise für Tunesien, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/laender-reise-information/tunesien/reisehinweise-tunesien.html#par_textimage_0 , Zugriff 20.10.2021
FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025955.html , Zugriff 7.10.2021
JF - Jamestown Foundation (13.8.2021): Tunisia’s Tense Political Situation and Consequences for Counterterrorism; Terrorism Monitor Volume: 19 Issue: 16, https://www.ecoi.net/en/document/2058727.html , Zugriff 7.10.2021
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (1.10.2020): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042211/TUNESIEN_ALB_2020_-Finale_Fassung.pdf , Zugriff 7.10.2021
Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung: 21.10.2021
Das Gesetz sieht eine unabhängige Justiz vor (USDOS 30.3.2021; vgl. FH 3.3.2021, AA 19.2.2021). Im Allgemeinen respektiert die Regierung die richterliche Unabhängigkeit auch in der Praxis (USDOS 30.3.2021). Allerdings schreitet die Justizreform seit der Revolution nur langsam voran (FH 3.3.2021; vgl. AA 19.2.2021, GIZ 11.2020a). Auch weiterhin finden sich zahlreiche Richter aus der Ben-Ali-Ära auf der Richterbank und aufeinanderfolgende Regierungen versuchen regelmäßig, Gerichte zu manipulieren. Mit den 2016 verabschiedeten Rechtsvorschriften wurde der Oberste Justizrat eingesetzt, der für die Gewährleistung der Unabhängigkeit der Justiz und die Ernennung der Richter des Verfassungsgerichts zuständig ist. Die Ratsmitglieder wurden 2016 von Tausenden von Juristen gewählt. Bis 2019 waren jedoch weder das Verfassungsgericht, noch seine formell ernannten Mitglieder eingerichtet worden (FH 3.3.2021). Der Oberste Justizrat konnte seine Arbeit als neues Selbstverwaltungsorgan der Justiz erst aufnehmen, nachdem eine Gesetzesänderung die internen Konflikte der Richterschaft neutralisiert hatte. Als nächster Schritt soll die Konstituierung eines ordentlichen Verfassungsgerichts erfolgen. Bislang wacht eine provisorische Instanz über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen vor ihrem Inkrafttreten (AA 19.2.2021; vgl. ÖB 1.10.2020).
Im Oktober 2020 prüfte das Parlament einen Gesetzentwurf, der Sicherheitskräften Immunität gewähren soll, die tödliche Gewalt anwenden, um einige Versammlungen zu zerstreuen, wenn die Aktion als letztes Mittel angesehen wird. Nationale und internationale Menschenrechtsgruppen sprachen sich heftig gegen das Gesetz aus, das erstmals 2013 vorgeschlagen worden war, das Parlament zog das Gesetz zurück (FH 3.3.2021).
Gesetzlich ist ein faires Verfahren vorgesehen, und die unabhängige Justiz gewährleistet dieses üblicherweise auch in der Praxis. Die gesetzlich garantierten Rechte sind jedoch nicht immer gewährleistet. Es gilt die Unschuldsvermutung. Angeklagte haben das Recht auf einen öffentlichen Prozess sowie auf einen Anwalt, der notfalls aus öffentlichen Mitteln bereitgestellt werden muss. Sie haben das Recht, zu Zeugenaussagen Stellung zu nehmen und eigene Zeugen aufzurufen. Sie müssen in Beweismittel Einsicht nehmen können und müssen über die gegen sie erhobenen Anklagepunkte informiert werden. Des Weiteren muss ihnen ausreichend Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung gewährt werden (USDOS 30.3.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2047265/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Dezember_2020%29%2C_19.02.2021.pdf , Zugriff 7.10.2021
FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025955.html , Zugriff 7.10.2021
GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (11.2020a): Tunesien - Geschichte & Staat, liegt bei der Staatendokumentation auf
HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043733.html , Zugriff 7.10.2021
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (1.10.2020): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042211/TUNESIEN_ALB_2020_-Finale_Fassung.pdf , Zugriff 7.10.2021
USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/en/document/2048161.html , Zugriff 7.10.2021
Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung: 21.10.2021
Dem Innenministerium untersteht die Nationalpolizei (Exekutivfunktion in Städten) und die Nationalgarde bzw. Gendarmerie (Exekutivfunktion in ländlichen Gebieten und Grenzsicherung). Zivile Behörden kontrollieren den Sicherheitsapparat, wiewohl es regelmäßig zu Übergriffen durch die Sicherheitskräfte kommt (USDOS 30.3.2021; vgl. GIZ 11.2020a). Die Regierung unternahm Schritte, um gegen Beamte zu ermitteln, die mutmaßlich Übergriffe begangen hatten, aber die Untersuchungen waren nicht transparent und es kam häufig zu langen Verzögerungen und verfahrenstechnische Hindernissen (USDOS 30.3.2021).
Im Oktober 2020 erwog das Parlament einen Gesetzesentwurf, der Sicherheitspersonal, das mit tödlicher Gewalt reagiert, während es Versammlungen zerstreut, Immunität gewährt. Das Parlament zog das Gesetz später zurück, nachdem sich nationale und internationale Menschenrechtsgruppen vehement dagegen ausgesprochen hatten. Berichte über exzessive Gewaltanwendung und Folter durch Sicherheitsbeamte hielten auch 2020 an. Demonstranten prangerten die Gesetzesvorschläge an; es kam zu körperlichen Angriffen und Festnahmen (FH 3.3.2021).
Der Sicherheitsapparat war unter dem Ben-Ali-Regime allgegenwärtig und sicherte dessen Machterhalt. Die Rolle der Sicherheitskräfte während des Umsturzes aber teilweise auch bei gewaltsam aufgelösten Demonstrationen gegen die ersten beiden Interimsregierungen im Frühjahr 2011 vertieften den Vertrauensverlust der Bevölkerung gegenüber den Sicherheitsorganen, insbesondere der Polizei und den Sondereinheiten des Innenministeriums. Zwar wurde die Geheimpolizei („police politique“) aufgelöst, allerdings steht eine umfassende Reform des Innenministeriums und der nachgeordneten Behörden bis heute aus (AA 19.2.2021).
Das Militär genießt aufgrund seiner zurückhaltenden Rolle während der Revolution 2011 ein sehr hohes Ansehen in der Bevölkerung, welches bis dato anhält. Durch die derzeit starke Einbindung des Militärs in den Antiterrorkampf als auch bei der Sicherung der Grenzen (so ist z.B. der Süden Tunesiens militärische Sperrzone) ist das Militär nach wie vor wichtiger Stützpfeiler der äußeren, aber auch der inneren Sicherheit (AA 19.2.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2047265/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Dezember_2020%29%2C_19.02.2021.pdf , Zugriff 7.10.2021
FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025955.html , Zugriff 7.10.2021
GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (11.2020a): Tunesien - Geschichte & Staat, Quelle liegt bei der Staatendokumentation auf
USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 - Tunisia, https://www.ecoi.net/en/document/2048161.html , Zugriff 7.10.2021
Korruption
Letzte Änderung: 21.10.2021
Wegen der endemischen Korruption im Land (FH 3.3.3021) nimmt Tunesien auf dem Corruption Perceptions Index von Transparency International (2020) Platz 69 von 180 ein (TI 4.2.2021). Das Land schneidet nach dem Umbruch 2011 schlechter ab als noch unter Ben Ali. Vor allem die sogenannte "kleine" Korruption hat seitdem zugenommen. Im Alltag sind insbesondere Verkehrsdelikte und Verwaltungsangelegenheiten von Korruption betroffen, wo oft bestochen wird, um Verfahren zu beschleunigen oder Strafen zu entgehen (GIZ 11.2020a).
Die Nationale Kommission zur Korruptionsbekämpfung (INLUCC) wurde 2011 gegründet und sollte nach der Verfassung von 2014 durch ein ständiges Gremium, die Kommission für gute Regierungsführung und Korruptionsbekämpfung (IBGLCC), ersetzt werden. Obwohl das Gesetz verabschiedet wurde, wird es nicht angewendet. Die anhaltende COVID-19-Pandemie hat die Korruption in Tunesien verschlimmert; im Dezember 2020 warnte der INLUCC-Chef, dass die Korruption zunehme (FH 3.3.2021).
Das Gesetz sieht strafrechtliche Sanktionen für Korruption durch Beamte vor, und die Regierung hat einige Vorkehrungen getroffen, diese Gesetze umzusetzen. Die Nationale Behörde für Korruptionsbekämpfung ist mit der Untersuchung und Bekämpfung von Korruption und der Ausarbeitung von Strategien zur Korruptionsbekämpfung beauftragt und bearbeitete weiterhin Korruptionsfälle (USDOS 30.3.2021). Eine der ersten Auswirkungen der Ereignisse vom 25.7.2021 war die Aufhebung der parlamentarischen Immunität vor Strafverfolgung durch den Präsidenten. Daraufhin wurden mehrere hochkarätige Korruptionsermittlungen wieder aufgenommen (IWPR 5.8.2021). Die Anwendung von Artikel 80 durch Präsident Saïed wurde als Maßnahme angewandt um gegen die weit verbreitete Korruption durch Beamte und Geschäftsleute vorzugehen (JF 13.8.2021). Im Juli 2021, wurden einige Minister (Inneres, Verteidigung, Finanz, Kommunikationstechnologien, Landwirtschaft, Justiz) hohe Beamte, Richter und Staatsanwälte abgesetzt und insbesondere Vertreter der islamistischen Partei Ennahdha, Geschäftsleute und Mitglieder der Antikorruptionskommission mit dem Vorwurf der Korruption festgenommen oder unter Hausarrest gestellt (ÖB 24.8.2021). Die tunesische Staatsanwaltschaft teilte am 27.7.2021 mit, sie habe gegen die Ennahda, die liberale Partei Qalb Tounes und die Aïch-Tounsi-Bewegung Ermittlungen wegen des Verdachts der illegalen Parteienfinanzierung aufgenommen. Es gehe um den Verdacht der Finanzierung aus dem Ausland und der Annahme von Geldern unbekannter Herkunft während des Wahlkampfes 2019. Saïed kündigte daraufhin eine umfassende Anti-Korruptions-Offensive an, die auch Hunderte von Unternehmen einschließe, wie er bei einem Treffen mit einem Arbeitgeberverband verlauten ließ (BAMF 2.8.2021). Am 5.8.2021 wurde Jdedi Sboui, ein Parlamentsmitglied wegen Verleumdung und Korruption verhaftet (HRW 11.9.2021). Der ehemalige Premierminister Fakhfakh trat bereits im Juli 2020 zurück, nachdem Ennahda einen Misstrauensantrag wegen eines Berichts eingebracht hatte. Ende Dezember 2020 wurde der Präsidentschaftskandidat für 2019, Nabil Karoui, der während des Wahlkampfes wegen des Verdachts auf Geldwäsche und Steuerhinterziehung festgenommen worden war, wegen dieser Vorwürfe erneut verhaftet und blieb bis zum Jahresende in Haft (FH 3.3.2021).
Quellen:
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (2.8.2021): Briefing Notes, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/EN/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw31-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=2 , Zugriff 7.10.2021
FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025955.html , Zugriff 7.10.2021
GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (11.2020a): Tunesien - Geschichte & Staat, http://liportal.giz.de/tunesien/geschichte-staat/ , Quelle liegt bei der Staatendokumentation auf
HRW - Human Rights Watch (11.9.2021): President’s Repressive Policies Abrogate Rights, https://www.ecoi.net/en/document/2060154.html , Zugriff 7.10.2021
IWPR - Institute for War and Peace Reporting (5.8.2021): Ten Years on From Revolution, Tunisia in Uncharted Waters, https://www.ecoi.net/en/document/2057656.html , Zugriff 7.10.2021
JF - Jamestown Foundation (13.8.2021): Tunisia’s Tense Political Situation and Consequences for Counterterrorism; Terrorism Monitor Volume: 19 Issue: 16, https://www.ecoi.net/en/document/2058727.html , Zugriff 7.10.2021
ÖB - Österreichische Botschaften [Österreich] (24.8.2021): Betreff: StP Saied verlängert Ausnahmezustand, Bericht liegt bei der Staatendokumentation auf
TI - Transparency International (4.2.2021): Corruption Perceptions Index 2020, https://www.transparency.org/en/cpi/2020/index/tun , Zugriff 7.10.2021
USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 - Tunisia, https://www.ecoi.net/en/document/2048161.html , Zugriff 7.10.2021
NGOs und Menschenrechtsaktivisten
Letzte Änderung: 19.03.2021
Eine Vielzahl nationaler und internationaler NGOs untersucht Menschenrechtsfälle und publiziert ihre Ergebnisse ohne Restriktionen durch die Regierung. Regierungsbeamte sind üblicherweise kooperativ und reagieren auf ihre Ansichten (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 19.2.2021). Die seit der Revolution sehr aktiv gewordene Zivilgesellschaft trägt ihren Beitrag zur Anprangerung und Bekämpfung von Missständen bei und hat so schon erfolgreich zu gesetzlichen Veränderungen beigetragen, wie z.B. zur Verabschiedung eines Anti-Rassismus-Gesetzes (ÖB 1.10.2020). Im Juli 2018 verabschiedete das Parlament ein umstrittenes neues Gesetz, welches alle NGOs dazu verpflichtet, sich registrieren zu lassen. Kritiker argumentieren, dass die Gesetzgebung verfassungswidrig sei und die Registrierungspflicht dazu dienen solle, die Überwachung und Aufsicht der Zivilgesellschaft durch die Regierung zu verstärken. Eine Nichtregistrierung kann zu einem Jahr Gefängnis und einer Geldstrafe von 4.000 US-Dollar führen (FH 3.3.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2030006/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_17.04.2020.pdf , Zugriff 18.3.2021
FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025955.html , Zugriff 9.3.2021
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (1.10.2020): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042211/TUNESIEN_ALB_2020_-Finale_Fassung.pdf , Zugriff 9.3.2021
USDOS - US Department of State [USA] (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026438.html , Zugriff 30.6.2020
Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung: 21.10.2021
Die tunesische Verfassung vom 26.1.2014 enthält umfangreiche Garantien bürgerlicher und politischer sowie wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Grundrechte. Tunesien hat die meisten Konventionen der Vereinten Nationen zum Schutz der Menschenrechte einschließlich der entsprechenden Zusatzprotokolle ratifiziert. Vereinzelt noch bestehende Vorbehalte wurden 2011 größtenteils zurückgezogen. Eine ständige Herausforderung bleibt die Anpassung der nationalen Rechtsordnung an die neue Verfassung (AA 19.2.2021). Im Jahr 2020 machte das Parlament keine Fortschritte bei der Reform von Gesetzen, die Menschenrechte verletzen oder bedrohen (HRW 13.1.2021).
Tunesien verfügt über eine Reihe an Institutionen, die sich mit Menschenrechten befassen. Das Land schneidet allerdings auch nach dem Umbruch in den Berichten internationaler Menschenrechtsorganisationen regelmäßig schlecht ab. Eingeschränkte Presse- und Meinungsfreiheit, Folter von Häftlingen und Attacken gegen Oppositionelle listet der aktuelle Jahresbericht von Amnesty International auf. Seit dem Sturz Ben Alis hat sich die Situation zwar gebessert, allerdings kommt es nach wie vor zu Menschenrechtsverletzungen, so die Internationale Menschenrechtsliga (FIDH) (GIZ 11.2020a).
Im Vergleich zu den weitreichenden Einschränkungen von Meinungs- und Pressefreiheit vor der Revolution 2011 haben sich die Bedingungen für unabhängige Medienberichterstattung in den letzten Jahren allerdings grundlegend verbessert. Es wurden wichtige rechtliche Grundlagen zum Schutz der freien Presse geschaffen und offizielle und informelle Strukturen, die zur Unterdrückung freier Meinungsäußerung eingesetzt wurden, größtenteils abgeschafft. Die Meinungs- und Pressefreiheit, sowie auch das Recht auf Zugang zu Informationen und Kommunikationsnetzwerken wurden in den Artikeln 31 und 32 der Verfassung von 2014 ausdrücklich gestärkt. Die Medien berichten - in unterschiedlicher Qualität - frei und offen (AA 19.2.2021; vgl. FH 3.3.2021). Die Öffnung der Medienszene hat in den letzten Jahren zum Entstehen einer lebendigen, teilweise wildwüchsigen Medienlandschaft geführt, die Missstände offen thematisiert (AA 19.2.2021).
Gesetzlich sind Meinungs- und Pressefreiheit somit gewährleistet und die Regierung respektiert diese Rechte im Allgemeinen, wie wohl es weiterhin Restriktionen gibt (USDOS 30.3.2021; vgl. FH 3.3.2021). Diese Einschränkungen finden sich z. B. in Bezug auf sicherheitsrelevante Themen. Seit den Ausweitungen der Antiterrormaßnahmen hat sich diese Tendenz verstärkt. Journalisten und Blogger, die Kritik an Sicherheitskräften üben, müssen weiterhin mit Strafen rechnen (AA 19.2.2021). Mit der Verlängerung des Ausnahmezustands um weitere sechs Monate, verfügen nun auch die Sicherheitskräfte über erweiterte Befugnisse, was unter anderem zur Einschränkung der Pressefreiheit führen kann (BAMF 11.1.2021).
Aktivisten äußerten sich besorgt über die staatliche Interferenz mit den Medien und die Eigentumsverhältnisse in den Medien. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen kam es weiterhin zu Gewalt und Schikanen gegen Journalisten. In ihrem Bericht vom April 2020 warnte der tunesische Journalistenverband (SNJT) vor einer Zunahme von Hetze und Drohungen gegen Journalisten durch Bürger, die Medien für die sich verschlechternde wirtschaftliche und soziale Lage verantwortlich machen (USDOS 30.3.2021).
Ebenso existieren weiterhin Einschränkungen bei der Kritik an der Religion. Rechtlich verankert ist dies u.a. in Artikel 6 der Verfassung, der den "Schutz des Sakralen" garantiert. Es kommt immer wieder zu einzelnen Fällen von fragwürdiger Strafverfolgung von Journalisten und freischaffenden Bloggern (AA 19.2.2021). Entsprechende Verfahren gegen Zivilisten werden oft von Militärgerichten geführt – eine Praxis, die von tunesischen und internationalen Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert wird (FH 3.3.2021; vgl. AA 19.2.2021). Am 4.5.2020 lud die Kriminalpolizei Emna Chargui vor, nachdem sie auf Facebook einen kurzen Text mit dem Titel "Sura Corona" gepostet hatte, geschrieben und formatiert im Stil eines Koranverses (Sure). Der Staatsanwalt beschuldigte Chargui der "Aufstachelung zum Hass zwischen den Religionen durch feindselige Mittel oder Gewalt" gemäß Artikel 52 des Pressefreiheitsdekret-Gesetzes. Am 17.7.2020 verurteilte ein Gericht der ersten Instanz in Tunis Chargui zu sechs Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe (HRW 13.1.2021).
Einige Journalisten sind im Zusammenhang mit ihrer Arbeit Druck und Einschüchterung durch Regierungsbeamte ausgesetzt. Reporter, die über die Sicherheitskräfte berichten, sind weiterhin besonders anfällig für Schikanen und Verhaftungen (FH 3.3.2021). Die Behörden stützten sich auf repressive Bestimmungen des Strafgesetzbuches sowie auf andere Gesetze, um Meinungsäußerungen zu bestrafen, darunter auch Kritik an Amtsträgern. Zwei Social-Media-Aktivisten wurden im April 2020 verhaftet und angeklagt, weil sie sich auf Facebook kritisch über die ihrer Meinung nach unzureichende oder korrupte Reaktion der Regierung auf die durch die Covid-19-Pandemie verursachte finanzielle Notlage äußerten (HRW 13.1.2021; vgl. FH 3.3.2021). Im November 2020 wurde ein Blogger zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt, weil er sich in einem Facebook-Video kritisch über einen Staatsanwalt geäußert hatte (FH 3.3.2021). Verschiedene Quellen wie u.a. RSF und die tunesische Journalismusgewerkschaft SNJT berichteten am 15.10.2021, dass es nach der Entmachtung des Parlaments sowie des früheren Regierungschefs mehrfach zu Übergriffen auf Journalistinnen und Journalisten durch Polizei und Demonstrierende gekommen sei. Ebenso sei mit der Begründung, dass dem Islamismus zu viel Raum gegeben werde, das Büro des Fernsehsenders Al-Jazeera gestürmt worden (BAMF 18.10.2021).
Im Vorfeld der Wahlen 2019 äußerten tunesische Journalisten ihre Besorgnis über den Einfluss der Regierung auf die öffentliche Rundfunkanstalt (FH 3.3.2021).
Die Verfassung garantiert das Recht auf friedliche Versammlungen und Demonstrationen (FH 3.3.2021; vgl. AA 19.2.2021, USDOS 30.3.2021). Zu Einschränkungen kommt es mehrfach aufgrund des weiterhin gültigen Ausnahmezustands. Die Übergänge zwischen legitimen Protesten gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik einerseits und periodisch auftretenden gewaltsamen Ausschreitungen und Plünderungen andererseits sind oft fließend. Grundsätzlich ist jedoch festzustellen, dass die Sicherheitsorgane friedliche Versammlungen und Demonstrationen in der Regel zuverlässig schützen, aber bei Rechtsverletzungen auch entsprechend robust auftreten. Nur vereinzelt kommt es dabei zu unverhältnismäßigem Einsatz polizeilicher Mittel (AA 19.2.2021).
Die Versammlungsfreiheit wurde auch unter den COVID-19-bezogenen Notstandsmaßnahmen Ende März 2020 eingeschränkt, die zunächst alle Versammlungen untersagten. Das Protestverbot wurde im November 2020 in eine weitere Anordnung aufgenommen, aber die Beschränkungen für Massenversammlungen wurden in einer Anordnung vom Dezember 2020 wieder gelockert. Dennoch kam es im Mai 2020 zu kleineren Protesten. Ende Juni 2020 protestierten Demonstranten in der Stadt Tataouine gegen die hohe Arbeitslosigkeit und stießen mit den Behörden zusammen, nachdem ein Aktivist festgenommen worden war. Das Innenministerium berichtete von zehn Verhaftungen nach diesen Zusammenstößen. Im Oktober 2020 protestierten Demonstranten vor dem Parlamentsgebäude in Tunis gegen einen Gesetzesvorschlag, der dem Sicherheitspersonal Immunität gewähren würde; die Teilnehmer wurden von den Sicherheitskräften körperlich angegriffen und mehrere wurden festgenommen. Andere Demonstrationen verliefen im Laufe des Jahres jedoch ohne gewaltsames Eingreifen (FH 3.3.2021).
Vereinigungsfreiheit ist gesetzlich gewährleistet (FH 3.3.2021; vgl. AA 19.2.2021, USDOS 30.3.2021). Im Zuge der Bekämpfung von Terrorismus und Geldwäsche wird derzeit eine Reform des Vereinsrechts vorbereitet, die von der tunesischen Zivilgesellschaft sehr kritisch beobachtet wird, hinsichtlich ihrer abschließenden Gestalt aber noch nicht beurteilt werden kann (AA 19.2.2021).
Die primäre Behörde der Regierung zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen und zum Kampf gegen Bedrohungen der Menschenrechte ist das Justizministerium. Das Ministerium versagt allerdings dabei, Fälle von Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen. Innerhalb des Präsidentenbüros ist der Hohe Ausschuss für Menschenrechte und Grundfreiheiten eine von der Regierung finanzierte Agentur, die mit der Überwachung der Menschenrechte und der Beratung des Präsidenten betraut ist. Das Ministerium für die Beziehungen zu den Verfassungsorganen, der Zivilgesellschaft und den Menschenrechten ist für die Koordinierung der Regierungsaktivitäten im Zusammenhang mit den Menschenrechten zuständig. Die Wahrheits- und Würdekommission (IVD) wurde 2014 gegründet, um schwere Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen (USDOS 30.3.2021). Anfang 2018 stimmte das Parlament gegen eine Verlängerung des Mandats der Kommission, eine Entscheidung, die sich kritisch äußerte, weil sie die Bemühungen um eine Übergangsjustiz schwächte. Die Kommission legte ihren Abschlussbericht im März 2019 vor und veröffentlichte ihn offiziell im Juni 2020. Sie stützte sich dabei auf mehr als 62.000 Beschwerden, die tunesische Bürger wegen Menschenrechtsverletzungen gegen den Staat eingereicht hatten. Tunesische Gerichte prüften zum Jahresende 69 Anklagen und 131 Überweisungen der IVD (FH 3.3.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2047265/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Dezember_2020%29%2C_19.02.2021.pdf , Zugriff 7.10.2021
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (11.1.2021): Briefing Notes, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw02-2021.html , Zugriff 7.10.2021
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (18.10.2021): Briefing Notes, Quelle liegt bei der Staatendokumentation auf
FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025955.html , Zugriff 7.10.2021
GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (11.2020a): Tunesien - Geschichte & Staat, http://liportal.giz.de/tunesien/geschichte-staat/ , Zugriff 28.9.2021
HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043733.html , Zugriff 7.10.2021
USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 - Tunisia, https://www.ecoi.net/en/document/2048161.html , Zugriff 7.10.2021
Frauen
Letzte Änderung: 21.10.2021
Frauen sind seit der Unabhängigkeit Tunesiens mit der Einführung des fortschrittlichen Personenstandsgesetzes von 1957 Männern rechtlich weitgehend gleichgestellt (AA 19.2.2021; vgl. ÖB 1.10.2020), wobei jedoch keine vollständige Gleichheit vor dem Gesetz gegeben ist (ÖB 1.10.2020). Eine dieser Ausnahmen stellt das Erbrecht dar (AA 19.2.2021; vgl. GIZ 11.2020b, ÖB 1.10.2020). Im November 2018 genehmigte das Kabinett einen Gesetzentwurf, der gleiche Erbrechte für Männer und Frauen vorsieht. Derzeit erhalten Frauen die Hälfte des Erbschaftsanteils, den Männer erhalten. Ennahda sprach sich jedoch gegen das Gesetz aus. Bis Ende 2020 erfolgte keine diesbezügliche parlamentarische Abstimmung (FH 3.3.2021).
Trotzdem ist die neue Verfassung Tunesiens im Vergleich zu anderen arabischen oder muslimischen Ländern in Bezug auf Frauenrechte ein Musterbeispiel (ÖB 1.10.2020). Mit der erstmaligen Nominierung einer Frau als Ministerpräsidentin verkündete Präsident Kaïs Saïed, am 29.9.2021, die Ernennung von Nejla Bouden zur Regierungschefin (DW 29.9.2021; vgl. FAZ 29.9.2021).
Die Verfassung garantiert den Schutz der bisher erreichten Frauenrechte und verpflichtet den Staat zu deren weiteren Entwicklung. Der Staat garantiert die Chancengleichheit zwischen Mann und Frau und wirkt auf die paritätische Vertretung von Frauen und Männern in gewählten Körperschaften sowie allgemein auf Stärkung und Ausbau der Frauenrechte hin. Der Staat trifft weitere Maßnahmen zur Eliminierung von Gewalt gegen Frauen (FH 3.3.2021; vgl. AA 19.2.2021, GIZ 11.2020b, ÖB 1.10.2020) in den Bereichen Prävention, Schutz und Nachsorge für Opfer sowie Bestrafung von Tätern und hat sich durch ein 2018 in Kraft getretenes Gesetz zur Weiterentwicklung entsprechender Maßnahmen verpflichtet (AA 19.2.2021). Erstmals werden Opfer häuslicher Gewalt unter Schutz gestellt. Das neue Gesetz erkennt körperliche, moralische und sexuelle Gewalt gleichermaßen an (ÖB 1.10.2020; vgl. AA 19.2.2021). Auch sexuelle Belästigung wurde verboten (USDOS 30.3.2021). Im Sommer 2020 wurde außerdem ein Dekret erlassen, dass den Aufbau von Frauenhäusern und die Betreuung und die Rechte von Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind, regelt (GIZ 11.2020b).
Mit Ausbreitung der COVID-19-Pandemie, nahm die Gewalt an Frauen zu. Das Frauenhaus in Tunis nahm viermal so viele Frauen auf wie zuvor (FH 3.3.2021). Laut USDOS ist die Zahl der Fälle von Gewalt gegen Frauen, Kinder und ältere Menschen während des COVID-19-Zeitraums (22.3.2020 bis 4.5.2020), im Vergleich zum Vorjahr, um das Siebenfache gestiegen (USDOS 30.3.2021). Die Beratungsstellen und Notunterkünfte für Überlebende von Gewalt, meldeten während der Pandemie, einen starken Anstieg der Hilferufe und Anträge auf Notunterkünfte. Auf den gebührenfreien Nummern des Familienministeriums wurden zwischen März 2021 und Mai 2021, neunmal mehr Anrufe (9.800) registriert als üblich (AI 7.4.2021).
Frauen können die Scheidung einreichen und Unterhaltsansprüche gerichtlich geltend machen. Dies gilt auch für das Sorgerecht, allerdings mit der Einschränkung, dass Minderjährige das Land nur mit ausdrücklicher Zustimmung ihres Vaters oder des Vormundschaftsgerichts verlassen können. Die Stimme einer Frau als Zeugin in einem Gerichtsverfahren hat dasselbe Gewicht wie die eines Mannes. Eine Gesetzesinitiative zur vollständigen Gleichstellung im Erbrecht hat den Ministerrat bereits passiert und wird im Parlament beraten. Sie sieht grundsätzlich gleiche Erbteile für Söhne und Töchter vor, lässt Erblassern aber die Möglichkeit, testamentarisch abweichende Regelungen zu treffen. Islamisch-konservative Kreise setzen sich für eine Umkehrung dieses Grundsatzes ein, streben also an, dass gleiche Erbteile testamentarisch verfügt werden müssen (AA 19.2.2021). Ferner hob das Justizministerium im September 2017 ein Dekret auf, das tunesischen Frauen verboten hatte, nicht-muslimische Männer zu heiraten (FH 3.3.2021; vgl. ÖB 1.10.2020).
Obwohl Vergewaltigung, auch innerhalb der Ehe, gesetzlich verboten ist, bleibt dieses Vergehen ein ernstes Problem. Opfer von Vergewaltigungen werden oft durch das herrschende Tabu und sozialen Druck davon abgehalten Übergriffe zu melden. Frauen können jedoch eine einstweilige Verfügung erwirken, ohne ein Strafverfahren einleiten oder die Scheidung einreichen zu müssen (USDOS 30.3.2021).
Der Frauenanteil an der arbeitenden Bevölkerung liegt bei rund 25% (2012). Frauen stellen fast ein Drittel der Richter und Anwälte, im höheren Bildungsbereich sind sie überrepräsentiert (GIZ 11.2020b). Gesetzlich ist explizit gleiches Gehalt für gleiche Arbeit vorgesehen. In der Privatwirtschaft verdienen Frauen für die gleiche Arbeit durchschnittlich um ein Viertel weniger als Männer. Das neue Gesetz von 2018 über geschlechtsspezifische Gewalt enthält auch Bestimmungen zur Beseitigung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles (USDOS 30.3.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2047265/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Dezember_2020%29%2C_19.02.2021.pdf , Zugriff 7.10.2021
AI - Amnesty International (7.4.2021): Amnesty International Report 2020/21; The State of the World's Human Rights; Tunisia 2020, https://www.ecoi.net/en/document/2048780.html , Zugriff 7.10.2021
DW - Deutsche Welle (29.9.2021): Erstmals soll eine Frau Tunesien regieren, https://www.dw.com/de/erstmals-soll-eine-frau-tunesien-regieren/a-59353974 , Zugriff 7.10.2021
FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (29.9.2021):Erste Frau im Amt : Tunesiens Präsident ernennt neue Regierungschefin, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/tunesien-ernennt-neue-regierungschefin-erste-frau-im-amt-17561739.html , Zugriff 7.10.2021
FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025955.html , Zugriff 7.10.2021
GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (11.2020b): Tunesien - Gesellschaft, Quelle liegt bei der Staatendokumentation auf
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (1.10.2020): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042211/TUNESIEN_ALB_2020_-Finale_Fassung.pdf , Zugriff 7.10.2021
USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 - Tunisia, https://www.ecoi.net/en/document/2048161.html , Zugriff 7.10.2021
Kinder
Letzte Änderung: 21.10.2021
In Tunesien erhalten Kinder per Geburt die Staatsbürgerschaft von den Eltern (USDOS 30.3.2021).
Artikel 47 der Verfassung garantiert Kindern gegenüber ihren Eltern und dem Staat das Recht auf Würde, Gesundheit, Versorgung, Erziehung und Bildung. Der Staat verpflichtet sich darüber hinaus zum Schutz von Kindern „ohne Diskriminierung und entsprechend ihrer besten Interessen“ (AA 19.2.2021).
Im Jahr 2019 berichtete UNICEF, dass 88% der Kinder im Alter von einem bis 14 Jahren körperlicher, verbaler oder psychischer Gewalt in ihrem Zuhause und in der Schule ausgesetzt waren. Im Oktober 2019 meldete das Ministerium für Frauen, Familie, Kindheit und Senioren, dass es rund 17.000 Meldungen über Fälle von Kindesmissbrauch erhalten habe, was das Ministerium auf das "wachsende Bewusstsein der Bürger für die Notwendigkeit, Gewalttäter anzuzeigen" zurückführte. Im Mai 2020 berichtete das Ministerium für Frauen, Familie, Kindheit und Senioren, dass es 448 Meldungen über Fälle von gefährdeten Kindern während der COVID-19-bedingten Schließungen erhalten habe (USDOS 30.3.2021). Das Auswärtige Amt berichtet hingegen, dass in Tunesien systematische und schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, die sich gezielt gegen Kinder richten würden, nicht bekannt seien (AA 19.2.2021).
Das Gesetz verbietet die Beschäftigung von Kindern, die jünger als 16 Jahre sind (USDOS 30.3.2021).
Tunesien hat 2020 moderate Fortschritte bei den Bemühungen um die Beseitigung der schlimmsten Formen von Kinderarbeit gemacht (USDOL 2020). Um Kinder davon abzuhalten, schon früh in den informellen Arbeitsmarkt einzutreten führte das Bildungsministerium ein neues Programm namens "Zweite Chance" für Kinder ein, die die Schule abgebrochen haben und ihnen helfen soll, ihre Ausbildung bis zur Sekundarschule abzuschließen oder eine Berufsausbildung zu absolvieren. Das Programm richtet sich darüber hinaus auch an Eltern, indem die Regierung Geldtransfers für Familien bereitstellte, um die wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie abzufedern. Dennoch bleiben Kinder in Tunesien den schlimmsten Formen der Kinderarbeit ausgesetzt, unter anderem durch Zwangsarbeit in fremden Haushalten und durch Betteln, manchmal auch von Menschenhändlern (USDOL 2020; vgl. USDOS 30.3.2021).
2019 teilte das Bildungsministerium mit, dass im Vergleich zu den vergangenen fünf Jahren, die Zahl der Schulabbrecher um mehr als 50% auf 101.000 Schulabbrecher im Jahr 2018 gestiegen ist. Etwa 90% der Schulabbrecher stammen aus armen und einkommensschwachen Familien. Die Armutsquote für Kinder hat 25% erreicht und ist damit höher als die nationale Quote von 15%. UNICEF berichtete im November 2020, dass nur 56,1% der Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren die Sekundarschule abschließen, während es vor 20 Jahren noch 70% waren (USDOS 30.3.2021).
Das 2018 in Kraft getretene Gesetz zur Verhütung von Gewalt, einschließlich politischer Gewalt, gegen Frauen und Mädchen verpflichtet den Staat zu umfangreichen Maßnahmen in den Bereichen Prävention, Schutz und Nachsorge für die Überlebenden sowie zur Bestrafung der Täter (AA 19.2.2021). Das Gesetz enthält zudem einen überarbeiteten Artikel über sexuelle Belästigung, wenn das Opfer ein Kind ist oder der Täter Autorität über das Opfer hat, wird die Strafe verdoppelt. Sexuelle Beziehungen zu einem Kind unter 16 Jahren, kann mit 20 Jahren Gefängnis oder einer lebenslangen Freiheitsstrafe bestraft werden, wenn erschwerende Umstände vorliegen, wie Inzest oder Gewaltanwendung. Das Gericht kann die Anklage wegen Sex mit einer Minderjährigen fallen lassen, wenn der Täter mit Zustimmung der Eltern des Opfers zustimmt, dieses zu heiraten (USDOS 30.3.3021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2047265/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Dezember_2020%29%2C_19.02.2021.pdf , Zugriff 7.10.2021
USDOL - U.S. Department of Labor [USA] (2020): 2020 Findings on the Worst Forms of Child Labor, Tunisia, Child Labor and Forced Labor Reports, https://www.dol.gov/agencies/ilab/resources/reports/child-labor/tunisia , Zugriff 8.10.2021
USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/en/document/2048161.html , Zugriff 7.10.2021
Homosexuelle
Letzte Änderung: 21.10.2021
Das Gesetz kriminalisiert Sodomie (USDOS 30.3.2021). Homosexualität ist in Tunesien strafbar und gesellschaftlich weitgehend tabuisiert (AA 19.2.2021; vgl. GIZ 11.2020b, USDOS 30.3.2021).
LGBTI-Personen werden weiterhin auf der Grundlage von Gesetzen verhaftet und strafrechtlich verfolgt, die einvernehmliche gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen, "Unzüchtigkeit" und Handlungen, die als "Verstoß gegen die öffentliche Moral" gelten, unter Strafe stellen (AI 7.4.2021).
Homosexuelle Handlungen werden mit einer Haftstrafe von drei Jahren belegt (GIZ 11.2020b; vgl. USDOS 30.3.2021, AA 19.2.2021). Dies gilt laut der maßgeblichen arabischen Fassung sowohl für homosexuelle Handlungen zwischen Männern als auch für solche zwischen Frauen. De facto kommt es jedoch hauptsächlich zu Verurteilungen homosexueller Männer, die häufig nicht gezielt verfolgt, aber im Zusammenhang mit anderen Straftaten oder durch Denunziation verhaftet werden (AA 19.2.2021). Es kommt auch regelmäßig zu Verurteilungen (GIZ 11.2020b; vgl. AA 19.2.2021, USDOS 30.3.2021). Laut Angaben der tunesischen Vereinigung für Gerechtigkeit und Gleichheit (DAMJ) verurteilten Gerichte zwischen Jänner und Oktober 2020 mindestens 15 Männer und eine Frau auf der Grundlage von Artikel 230 des Strafgesetzbuchs, der "Sodomie" unter Strafe stellt. Transgender-Personen wurden von der Polizei schikaniert und lebten weiterhin mit dem Risiko einer Verhaftung aufgrund vager Artikel des Strafgesetzbuchs über den "öffentlichen Anstand", einschließlich Artikel 226bis (AI 7.4.2021).
Die vom Präsidenten der Republik eingesetzte Expertenkommission für Gleichheit und individuelle Freiheiten hat 2018 abgestufte Empfehlungen zur Entkriminalisierung homosexueller Handlungen erarbeitet. Sollte eine Straffreiheit politisch nicht durchsetzbar sein, empfiehlt die Expertenkommission eine Abschaffung der Haftstrafe bei Beibehaltung von Geldstrafen (AA 19.2.2021). Allerdings hat sich Präsident Kaïs Saïed erst im September 2021 für die Kriminalisierung der Homosexualität ausgesprochen und Homosexuelle als Abnorm bezeichnet (AI 5.10.2021).
Seit 2011 engagieren sich mehrere NGOs für die Rechte von homosexuellen Tunesiern (GIZ 11.2020b). Zivilgesellschaftliche Vereinigungen zum Schutz von Homosexuellen bestehen. Sie treten unter z.T. schwierigen Bedingungen für eine Strafbefreiung und größere Akzeptanz unter der Bevölkerung ein, gewähren aber auch Verfolgten Schutz (ÖB 1.10.2020). Menschenrechtsorganisationen und auf LGBTI spezialisierte Nichtregierungsorganisationen erklärten, dass Richter häufig von der Schuld von Personen ausgingen, die sich weigerten, sich freiwillig einer Untersuchung zu unterziehen, und dass sich die Betroffenen gezwungen fühlten, sich einer Analuntersuchung zu unterziehen (USDOS 30.3.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2047265/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Dezember_2020%29%2C_19.02.2021.pdf , Zugriff 7.10.2021
AI - Amnesty International (5.10.2021): Tunisia: Carving up the Constitution represents a threat to human rights, https://www.amnesty.org/en/latest/news/2021/10/carving-up-the-constitution-represents-a-threat-to-human-rights/ , Zugriff 11.10.2021
AI - Amnesty International (7.4.2021): Amnesty International Report 2020/21; The State of the World's Human Rights; Tunisia 2020, https://www.ecoi.net/en/document/2048780.html , Zugriff 7.10.2021
GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (11.2020b): Tunesien - Gesellschaft, https://www.liportal.de/tunesien/gesellschaft/ , Quelle liegt bei der Staatendokumentation auf
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (1.10.2020): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042211/TUNESIEN_ALB_2020_-Finale_Fassung.pdf , Zugriff 7.10.2021
USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/en/document/2048161.html , Zugriff 7.10.2021
Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung: 21.10.2021
Das Gesetz gewährleistet Bewegungsfreiheit innerhalb des Landes, Auslandsreisen (USDOS 30.3.2021; vgl. FH 3.3.2021), Emigration sowie Wiedereinbürgerung. Die Regierung respektiert im Allgemeinen diese Rechte auch in der Praxis (USDOS 30.3.2021). Die Situation bezüglich Bewegungsfreiheit hat sich seit 2011 substantiell verbessert. Allerdings können die Behörden unter dem breiten Mandat des Ausnahmezustands die Bewegungsfreiheit einzelner Personen beschränken. Davon waren tausende Menschen betroffen. Die Bewegungsfreiheit wurde auch durch COVID-19-bezogene Maßnahmen beeinträchtigt (FH 3.3.2021).
Am 25.7.2021 hat Staatspräsident Saïed, unter Berufung auf den Notstands-Artikel 80 der tunesischen Verfassung, die Regierungsgeschäfte übernommen (AA 20.10.2021). Am Tag bevor Präsident Saied unter Berufung auf Artikel 80 der Verfassung außergewöhnliche Befugnisse ergriff, verlängerte er den Ausnahmezustand, der seit seiner Verhängung im Jahr 2015 durch den ehemaligen Präsidenten Beji Caid-Essebsi wiederholt verlängert wurde, bis zum 19.1.2022. Das Notstandsdekret verleiht der Exekutive weitreichende Befugnisse, darunter das Verbot von Streiks, Demonstrationen und öffentlichen Versammlungen, die Anordnung von Hausarrest und die Übernahme der Kontrolle über die Medien (HRW 11.9.2021). Präsident Kaïs Saïed sah die Bedingungen für die Verlängerung des Notstandes für gegeben (MP 26.7.2021); und so hat er, unter dem Vorwand, die Korruption zu bekämpfen, Dutzende von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens unter unbefristeten und willkürlichen Hausarrest gestellt (AI 5.10.2021; vgl. HRW 11.9.2021). Zudem haben die tunesischen Behörden in den letzten Wochen ohne Begründung und ohne richterliche Anordnung rechtswidrige und willkürliche Reiseverbote gegen Personen verhängt und damit deren Recht auf Bewegungsfreiheit eklatant verletzt. Präsident Kaïs Saïed rechtfertigte die jüngsten Beschränkungen als Teil der Bemühungen, Personen, die der Korruption verdächtigt werden oder eine Sicherheitsbedrohung darstellen, an der Flucht aus dem Land zu hindern (AI 26.8.2021).
Einer Flucht innerhalb Tunesiens werden durch die geringe Größe des Landes enge Grenzen gesetzt. Ein Verlassen besonders gefährdeter Gebiete in den Grenzregionen ist grundsätzlich möglich (AA 19.2.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (20.10.2021): Tunesien: Reise- und Sicherheitshinweise (COVID-19-bedingte Reisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/tunesiensicherheit/219024 , Zugriff 20.10.2021
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2047265/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Dezember_2020%29%2C_19.02.2021.pdf , Zugriff 7.10.2021
AI - Amnesty International (5.10.2021): Tunisia: Carving up the Constitution represents a threat to human rights, https://www.amnesty.org/en/latest/news/2021/10/carving-up-the-constitution-represents-a-threat-to-human-rights/ , Zugriff 18.10.2021
AI - Amnesty International (26.8.2021): Tunisia: President must lift arbitrary travel bans, https://www.ecoi.net/en/document/2059075.html , Zugriff 18.10.2021
HRW - Human Rights Watch (11.9.2021): Tunisia: President’s Repressive Policies Abrogate Rights, https://www.ecoi.net/en/document/2060154.html , Zugriff 18.10.2021
FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025955.html , Zugriff 7.10.2021
MP - Maghreb Post (26.7.2021): Tunesien- Präsiden entlässt Premierminister und suspendiert Parlament, https://www.maghreb-post.de/politik/tunesien-praesident-entlaesst-premierminister-und-suspendiert-parlament/ , Zugriff 19.10.2021
USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 - Tunisia, https://www.ecoi.net/en/document/2048161.html , Zugriff 7.10.2021
Grundversorgung und Wirtschaft
Letzte Änderung: 21.10.2021
Die Grundversorgung der Bevölkerung gilt als gut (AA 19.2.2021). Tunesien ist eine weitgehend freie Marktwirtschaft. Neben dem Bergbau, der einer der wichtigsten Sektoren der tunesischen Wirtschaft ist, spielen Landwirtschaft, Textilfabrikation und Tourismus eine wichtige Rolle für die tunesische Wirtschaft (GIZ 11.2020c). Nachdem das tunesische BIP 2020 Corona-bedingt um -8,6% eingebrochen war, zeichnet sich für das laufende Jahr 2021 wiederum eine Wachstumstendenz ab, die sich im Herbst noch beschleunigen dürfte; so könnte es gelingen, dass das BIP um 3% zulegen wird. Eine Rekordernte an Datteln und Oliven stützt die Handelsbilanz, da sie Exporte von über einer Mrd. Euro generierte und auch die verarbeitende Industrie und das Gewerbe ist wiederum angesprungen; Tunesien gilt als verlängerte Werkbank für viele europäische Industriebetriebe, was die angespannte Devisensituation einigermaßen entlasten könnte, da der Tourismus wohl erst im Sommer 2022 wieder voll in die Gänge kommen wird (WKO 16.9.2021). Im Dienstleistungssektor spielen vor allem nach Tunesien ausgelagerte Callcenter französischer Firmen und IT-Unternehmen eine große Rolle. Außerdem gründen sich seit 2011 immer mehr Start-Ups. Der sogenannte Start Up Act, der im April 2018 verabschiedet wurde, soll aufstrebenden jungen Kleinunternehmen v.a. im IT-Bereich den Start erleichtern. Seine Umsetzung wird jedoch kritisiert (GIZ 11.2020c).
Der Förderung der Wirtschaft und der Schaffung von Arbeitsplätzen kommt nach der Revolution große Bedeutung zu, da die politischen Ereignisse für einen deutlichen Einbruch der Wirtschaft gesorgt haben. Die Arbeitslosigkeit bleibt eines der dringlichsten Probleme des Landes. Die tunesische Wirtschaft ist auch mehr als sieben Jahre nach dem Umbruch nicht besonders konkurrenzfähig. Das Finanzgesetz 2018 hatte zu Beginn des Jahres massive Proteste ausgelöst (GIZ 11.2020c).
Waren die Herausforderungen in wirtschaftlicher, sozialer, moralischer und kultureller Hinsicht bereits bisher enorm, sind sie nun seit Ausbruch der Covid-19 Krise Mitte März 2020 nochmals um ein Vielfaches verschärft: die Arbeitslosigkeit, seit Jahren gemäß offiziellen Statistiken 15,6%, ist auf 18% gestiegen und dürfte weiter auf 20% bis Jahresende steigen (ÖB 1.10.2020). Die Inflation zieht an und könnte im Jahresverlauf 7% erreichen; die Arbeitslosigkeit steigt auf 17,9% (WKO 16.9.2021). Die Erhebung tatsächlich zutreffender Zahlen wird durch die Tatsache erschwert, dass 45% der Arbeitskräfte Tunesiens im informellen Sektor beschäftigt sind. Zu dem hohen Anteil an jungen und diplomierten Arbeitslosen kommen die Schulabbrecher (jährlich ca. 100.000), die vom privaten Sektor und vor allem auch im Tourismus krisenbedingt Entlassenen sowie das Heer an Beschäftigten des informellen Sektors (der auf 50% der Wirtschaftsleistung geschätzt wird), welchen ihre Existenzgrundlage entzogen wurde (ÖB 1.10.2020).
Die vorherige Regierung hat zur Verbesserung der Grundversorgung der Bevölkerung in den armen Gegenden des Südens und des Landesinnern eine Umwidmung der staatlichen Ausgabenprogramme weg vom gut entwickelten Küstenstreifen hin zu diesen Regionen vorgenommen (AA 19.2.2021). Zur Stärkung der Regionen wurden rund 250 Millionen Dinar zur Verfügung gestellt, außerdem sollen Familien, die unter der Armutsgrenze leben, besser unterstützt werden. Allerdings werden viele der vorhandenen Entwicklungsgelder nicht ausgegeben (GIZ 11.2020c).
Tunesien ist ein Niedriglohnland. Die durchschnittlichen Monatslöhne im produzierenden Gewerbe liegen zwischen 500 und 800 Dinar. Arbeiter im öffentlichen Sektor verdienen rund 900 Dinar, Beamte 1.000-1.600 Dinar (ÖB 1.10.2020). Der staatliche Mindestlohn wurde nach der Revolution von 225 auf 380 Dinar monatlich (ca. 125 Euro) angehoben. Auch das genügt kaum, um den Lebensunterhalt einer Person zu decken, geschweige denn davon eine Familie zu ernähren. Laut einer aktuellen Untersuchung des Sozialministeriums leben rund 24% der Bevölkerung in Armut, d.h. sie leben von weniger als dem staatlichen Mindestlohn (GIZ 11.2020c). Nichtsdestotrotz verfügt das Land über eine relativ breite, weit definierte Mittelschicht aus selbständigen Kleinunternehmern, Angestellten und Beamten (deren Einkommen niedrig ist) und einer schmalen Oberschicht. Diese spaltet sich in alteingesessenes Bildungsbürgertum und ökonomische Elite (GIZ 11.2020b).
In Tunesien gibt es ein gewisses strukturiertes Sozialsystem. Es bietet zwar keine großzügigen Leistungen, stellt aber dennoch einen gewissen Grundschutz für Bedürftige, Alte und Kranke dar. Der Deckungsgrad beträgt 95%. Folgende staatlichen Hilfen werden angeboten: Rente, Arbeitslosengeld, Kindergeld, Krankengeld, Mutterschaftsgeld, Sterbegeld, Witwenrente, Waisenrente, Invalidenrente, Hilfen für arme Familien, Erstattung der Sach- und Personalkosten bei Krankenbehandlung, Kredite für Familien. Eine Arbeitslosenunterstützung wird für maximal ein Jahr ausbezahlt – allerdings unter der Voraussetzung, dass man vorab sozialversichert war. Es gibt folgende Arbeitsvermittlungsinstitutionen: Nationale Arbeitsagentur (ANETI), Berufsbildungsagentur (ATFP), Zentrum für die Ausbildung der Ausbilder und die Entwicklung von Lehrplänen (CENAFFIF), Zentrum für die Weiterbildung und Förderung der beruflichen Bildung (CNFCPP) (ÖB 1.10.2020).
Es existiert ein an ein sozialversichertes Beschäftigungsverhältnis geknüpftes Kranken- und Rentenversicherungssystem. Nahezu alle Bürger finden Zugang zum Gesundheitssystem. Die Regelungen der Familienmitversicherung sind großzügig und umfassen sowohl Ehepartner, als auch Kinder und sogar Eltern der Versicherten. Allerdings gibt es keine allgemeine Grundversorgung oder Sozialhilfe. Die mit Arbeitslosigkeit verbundenen Lasten müssen überwiegend durch den traditionellen Verband der Großfamilie aufgefangen werden, deren Zusammenhalt allerdings schwindet (AA 19.2.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2047265/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Dezember_2020%29%2C_19.02.2021.pdf , Zugriff 7.10.2021
GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (11.2020b): Tunesien - Gesellschaft, Quelle liegt bei der Staatendokumentation auf
GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (11.2020c): Tunesien - Wirtschaft & Entwicklung, Quelle liegt bei der Staatendokumentation auf
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (1.10.2020): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042211/TUNESIEN_ALB_2020_-Finale_Fassung.pdf , Zugriff 7.10.2021
WKO - Wirtschaftskammer Österreich (16.9.2021): Die tunesische Wirtschaft, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/die-tunesische-wirtschaft.html , Zugriff 15.10.2021
Medizinische Versorgung
Letzte Änderung: 21.10.2021
Die medizinische Versorgung (einschließlich eines akzeptabel funktionierenden staatlichen Gesundheitswesens) hat das für ein Schwellenland übliche Niveau (AA 19.2.2021). Tunesien hat lange Zeit in das Gesundheitswesen investiert, es gibt in allen Landesteilen staatliche Gesundheitseinrichtungen. Allerdings sind die rund 2.200 Einrichtungen trotz guter medizinischer Ausbildung der Beschäftigten oft in desolatem Zustand (ÖB 1.10.2020; vgl. GIZ 11.2020b). Die öffentliche Gesundheitsversorgung ist nach einem dreistufigen System organisiert und dringend reformbedürftig: erweiterte Leistung der Bezirkskrankenhäuser, verstärkte Ausstattung der Regionalkrankenhäuser und Ausbau der Uni-Kliniken. Zwar beträgt der Radius zur Erlangung medizinischer Hilfe weniger als 5 km, jedoch ist die qualitative Ausstattung in den öffentlichen Krankenhäusern katastrophal (ÖB 1.10.2020). Es mangelt an Ausstattung und Fachärzten, die vor allem in den Großstädten an der Küste angesiedelt sind. Darunter leiden vor allem bedürftige Patienten. Darüber hinaus gibt es ein weites Netz an Privatkliniken und niedergelassenen Ärzten von oft deutlich besserer Qualität (GIZ 11.2020b). Üblicherweise ist eine weitreichende Versorgung in den Ballungsräumen (Tunis, Sfax, Sousse) gewährleistet; Probleme gibt es dagegen in den entlegenen Landesteilen (AA 19.2.2021). Ein Großteil der Ärzteschaft ist gut ausgebildet (z.T. auch im Ausland) und das Pflegepersonal ist günstig – die Basis für einen zunehmenden Gesundheitstourismus. Eine stark angestiegene Anzahl an Privatkliniken bedient meist Ausländer, u.a. zahlungskräftigen Libyer und Algerier (ÖB 1.10.2020).
Die Behandlung psychischer Erkrankungen ist möglich. Die medizinische Behandlung von HIV-Infizierten bzw. AIDS-Kranken ist sichergestellt; es handelt sich jedoch um ein gesellschaftlich tabuisiertes Thema (AA 19.2.2021).
Aktuell ist die medizinische Versorgung aufgrund der Covid-19-Pandemie nicht gewährleistet, da die Krankenhäuser ihre Kapazitätsgrenzen erreicht haben (BMEIA 20.10.2021). Gerade die Covid-19-Pandemie hat starke Defizite aufgezeigt (ÖB 1.10.2020).
Tunesien gibt rund 6% seines Staatshaushaltes für das Gesundheitswesen aus. Die staatliche Krankenkasse CNAM ist für die Versicherung zuständig und erstattet Behandlungen in staatlichen Einrichtungen und teilweise auch Behandlungskosten bei niedergelassenen Ärzten. Ähnlich wie in Deutschland wird dabei ein Hausarzt-Modell praktiziert. Auch Medikamente werden teilweise erstattet (GIZ 11.2020b). Beim Aufsuchen eines Arztes muss der Behandlungspreis stets sofort entrichtet werden. Je nach Praxis (Krankenhaus, Klinik, Hospital, Fachgebiet) sind das zwischen 20 und 80 Dinar (ca. 8 bis 30 Euro). 2005 wurden die beiden Krankenkassen (CNSS: Caisse nationale de sécurité sociale und CNRPS: Caisse nationale de retraite et de prévoyance sociale) zur Caisse Nationale d’Assurance Maladie (CNAM) zusammengelegt. Allerdings ist diese Kasse mit ca. 1 Milliarden Dinar hoch verschuldet – fehlende Beitragszahlungen und verteuerte Medikamente sind nur einige der Gründe. Tatsächlich besteht eine Klassengesellschaft innerhalb der medizinischen Versorgung. Nur gut betuchte können sich Privat- und Spezialkliniken oder Ärztezentren leisten, wo die Versorgung hochpreisig, einwandfrei und an westlichen Standards angepasst ist (ÖB 1.10.2020).
Seit dem Sommer 2018 fehlt es immer häufiger an Medikamenten, die auf Grund von Zahlungsschwierigkeiten der Zentralapotheke nicht mehr eingekauft werden (GIZ 11.2020b). In Einzelfällen kann es also - insbesondere bei der Behandlung mit speziellen Medikamenten - Versorgungsprobleme geben. Ein Import dieser Medikamente ist grundsätzlich möglich, wenn auch nur auf eigene Kosten der Patienten. In Einzelfällen ist also eine konkrete Nachfrage bezüglich der Verfügbarkeit der benötigten Medikamente erforderlich, in den allermeisten Fällen sind sie vor Ort problemlos erhältlich (AA 19.2.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2047265/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Dezember_2020%29%2C_19.02.2021.pdf , Zugriff 7.10.2021
BMEIA - Bundesministerium Europäische und Internationale Angelegenheiten [Österreich] (20.10.2021): Reiseinformationen Tunesien, http://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tunesien/ , Zugriff 20.10.2021
GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (11.2020b): Tunesien - Gesellschaft, Quelle liegt bei der Staatendokumentation auf
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (1.10.2020): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042211/TUNESIEN_ALB_2020_-Finale_Fassung.pdf , Zugriff 7.10.2021
Rückkehr
Letzte Änderung: 21.10.2021
Es gibt keine speziellen Hilfsangebote für Rückkehrer. Soweit bekannt, werden zurückgeführte tunesische Staatsangehörige nach Übernahme durch die tunesische Grenzpolizei einzeln befragt und es erfolgt ein Abgleich mit den örtlichen erkennungsdienstlichen Registern. Sofern keine innerstaatlichen strafrechtlich relevanten Erkenntnisse vorliegen, erfolgt anschließend eine reguläre Einreise. Hinweise darauf, dass, wie früher üblich, den Rückgeführten nach Einreise der Pass entzogen und erst nach langer Wartezeit wieder ausgehändigt wird, liegen nicht vor. An der zugrundeliegenden Gesetzeslage für die strafrechtliche Behandlung von Rückkehrern hat sich indes nichts geändert. Sollte ein zurückgeführter tunesischer Staatsangehöriger sein Land illegal verlassen haben, ist mit einer Anwendung der Strafbestimmung in §35 des Gesetzes Nr. 40 vom 14.5.1975 zu rechnen: „Jeder Tunesier, der beabsichtigt, ohne offizielles Reisedokument das tunesische Territorium zu verlassen oder zu betreten, wird mit einer Gefängnisstrafe zwischen 15 Tagen und sechs Monaten sowie einer Geldstrafe zwischen 30 und 120 DT (ca. 15 bis 60 Euro) oder zu einer der beiden Strafarten verurteilt. Bei Wiederholung der Tat (Rückfälligkeit) kann sich das im vorhergehenden Absatz aufgeführte Strafmaß für den Täter verdoppeln.“ Soweit bekannt, wurden im vergangenen Jahr ausschließlich Geldstrafen verhängt. Die im Gesetz aufgeführten Strafen kommen dann nicht zur Anwendung, wenn Personen das tunesische Territorium aufgrund höherer Gewalt oder besonderer Umstände ohne Reisedokument betreten (AA 19.2.2021).
Eine „Bescheinigung des Genusses der Generalamnestie“ wird auf Antrag vom Justizministerium ausgestellt und gilt als Nachweis, dass die in dieser Bescheinigung ausdrücklich aufgeführten Verurteilungen - kraft Gesetz - erloschen sind. Eventuelle andere, nicht aufgeführte zivil- oder strafrechtliche Verurteilungen bleiben unberührt. Um zweifelsfrei festzustellen, ob gegen eine Person weitere Strafverfahren oder Verurteilungen vorliegen, kann ein Führungszeugnis (das sog. „Bulletin Numéro 3“) beantragt werden (AA 19.2.2021).
Seit der Revolution 2011 sind tausende Tunesier illegal emigriert. Vor allem junge Tunesier haben nach der Revolution das Land verlassen, kehren nun teilweise zurück und finden so gut wie keine staatliche Unterstützung zur Reintegration. Eine kontinuierliche Quelle der Spannung ist die Diskrepanz zwischen starkem Migrationsdruck und eingeschränkten legalen Migrationskanälen. Die Reintegration tunesischer Migranten wird durch eine Reihe von Projekten von IOM unterstützt. Sowohl IOM als auch der UNHCR übernehmen die Registrierung, Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen in Tunesien. Finanzielle Hilfe dafür kommt hauptsächlich von der EU, sowie aus humanitären Programmen der Schweiz und Norwegens. Die Schweiz ist dabei einer der größten Geber und verfügt über zwei Entwicklungshilfebüros vor Ort. Wesentlich für eine erfolgreiche Reintegration ist es, rückkehrenden Migranten zu ermöglichen, eine Lebensgrundlage aufzubauen. Rückkehrprojekte umfassen z.B. Unterstützung beim Aufbau von Mikrobetrieben, oder im Bereich der Landwirtschaft. Als zweite Institution ist das ICMPD [International Centre for Migration Policy Development] seit 2015 offizieller Partner in Tunesien im Rahmen des sogenannten „Dialog Süd“ – Programms (EUROMED Migrationsprogramm) (ÖB 1.10.2020).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2047265/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Dezember_2020%29%2C_19.02.2021.pdf , Zugriff 7.10.2021
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (1.10.2020): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042211/TUNESIEN_ALB_2020_-Finale_Fassung.pdf , Zugriff 7.10.2021
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zum Sachverhalt:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweise erhoben durch die Einsichtnahme in die Akten der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der Angaben der Erstbeschwerdeführerin vor dieser und den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, in die bekämpften Bescheide und in die Beschwerdeschriftsätze, in die zitierten Länderberichte zu Tunesien sowie in die seitens der Beschwerdeführer im Beschwerdeverfahren vorgelegten Unterlagen.
Der unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakten des BFA und der vorliegenden Gerichtsakten des Bundesverwaltungsgerichts.
Auskünfte aus dem Strafregister, dem zentralen Melderegister, dem Hauptverband österreichischer Sozialversicherungsträger, der Betreuungsinformation (Grundversorgung) sowie dem Informationsverbund zentrales Fremdenregister wurden ergänzend zu den vorliegenden Verwaltungsakten eingeholt.
Überdies wurde Beweis aufgenommen durch die Abhaltung zweier mündlicher Beschwerdeverhandlungen am 02.05.2022 sowie am 31.05.2022, im Zuge derer die gegenständliche Beschwerdesache mit den Beschwerdeführern und ihrer Rechtsvertretung sowie den beiden Zeuginnen D.G. sowie Mag. B.B. erörtert wurde.
2.2. Zu den Personen der Beschwerdeführer:
Da die Beschwerdeführer keine identitätsbezeugenden Dokumente in Vorlage brachten, steht ihre Identität nicht fest. Die Erstbeschwerdeführerin behauptete im Verfahren, ein Schlepper habe den Beschwerdeführern ihre Reisepässe in Serbien abgenommen.
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, der Herkunft, den Lebensumständen, den Familienverhältnissen, der Schulbildung und Berufserfahrung, der Glaubens- und Volksgruppenzugehörigkeit sowie der Ausreise der Beschwerdeführer nach Europa gründen sich auf die diesbezüglich glaubhaften Angaben der Erstbeschwerdeführerin im Verfahren. Dass die Beschwerdeführer keiner COVID-19-Risikogruppe angehören, ergibt sich aus dem Umstand, dass sie im Verfahren keine medizinische Indikation für eine etwaige Zuordnung ihrer Personen zur COVID-19-Risikogruppe gemäß § 2 der COVID-19-Risikogruppe-Verordnung (BGBl. II Nr. 203/2020) geltend gemacht haben.
Die Feststellungen zum Aufenthalt der Beschwerdeführer in Österreich (spätestens) seit 05.11.2021 ergeben sich aus dem Verwaltungsakt in Zusammenschau mit eingeholten Auskünften aus dem zentralen Melderegister und dem Informationsverbund zentrales Fremdenregister.
Die Feststellung, wonach alle Beschwerdeführer gemeinsam in einer Flüchtlingsunterkunft leben, ergibt sich aus einer Abfrage im zentralen Melderegister.
Dass die Beschwerdeführer ihren Lebensunterhalt seit ihren verfahrensgegenständlichen Asylantragstellungen über die staatliche Grundversorgung bestreiten, ergibt sich aus einer Abfrage in der Applikation Betreuungsinformation (Grundversorgung). Aus einer Abfrage im Hauptverband österreichischer Sozialversicherungsträger ergibt sich zudem, dass die Erstbeschwerdeführerin im Bundesgebiet zu keinem Zeitpunkt einer angemeldeten Erwerbstätigkeit nachging.
Der seitens der Erstbeschwerdeführerin von 03.12.2021 bis 31.03.2022 besuchte Deutschkurs für das Sprachniveau A1.1 ergibt sich aus einem diesbezüglich in Vorlage gebrachten Zertifikat der XXXX Volkshochschulen vom 31.03.2022. Ihr gegenwärtiger Besuch eines von 05.04.2022 bis 19.07.2022 anberaumten Deutschkurses für das Sprachniveau A1.2 ergibt sich aus einer diesbezüglich vorgelegten Teilnahmebestätigung der XXXX Volkshochschulen vom 01.06.2022. Dass sie eine Sprachprüfung erfolgreich abgelegt hat, hat sie im Verfahren weder behauptet noch diesbezüglich einen betreffenden Nachweis erbracht.
Dass der Zweit- und der Drittbeschwerdeführer gegenwärtig die dritte Klasse einer Neuen Mittelschule besuchen, ergibt sich aus zwei in Vorlage gebrachten Schulbesuchsbestätigungen vom 17.01.2022. Dass sie sich die deutsche Sprache recht gut angeeignet haben, in der Schule und in Sportvereinen gut integriert sind und auch in ihrer Wohnumgebung Freundschaften geknüpft haben, ergibt sich aus einer vorgelegten psychologischen Stellungnahme vom 02.06.2022 seitens einer klinischen und Gesundheitspsychologin, welche für die Betreuung der Bewohner der Flüchtlingsunterkunft, in welcher die Beschwerdeführer untergebracht sind, verantwortlich zeichnet. Dass der Drittbeschwerdeführer überdies mehrmals wöchentlich Kickboxen im Rahmen eines von einem Kampsportverein organisierten Projekts trainiert, ergibt sich aus einem diesbezüglich in Vorlage gebrachten Empfehlungsschreiben seines Trainers vom 29.04.2022. Dass die Erstbeschwerdeführerin eine Freundschaft mit der in Österreich asylberechtigten algerischen Zeugin D.G. geschlossen hat, ergibt sich aus den diesbezüglich glaubhaften Angaben der beiden vor dem Bundesverwaltungsgericht. Dass D.G. mit Bescheid des BFA vom 03.03.2022 aufgrund ihrer Transsexualität der Status der Asylberechtigten zuerkannt wurde, ergibt sich aus deren seitens des Bundesverwaltungsgerichts beim BFA angeforderten Verfahrensunterlagen in Zusammenschau mit einer Abfrage im Informationsverbund zentrales Fremdenregister.
Die strafgerichtliche Unbescholtenheit der Beschwerdeführer ergibt sich aus einer Abfrage im Strafregister der Republik.
2.3. Zum Gesundheitszustand der Beschwerdeführer:
Die Feststellungen bezüglich des Gesundheitszustandes der Beschwerdeführer ergeben sich aus den diesbezüglich glaubhaften Angaben der Erstbeschwerdeführerin sowie der Zeugin Mag. B.B., eine klinische und Gesundheitspsychologin, bei welcher sich die Erstbeschwerdeführerin in Behandlung befindet, vor dem Bundesverwaltungsgericht, überdies in Bezug auf die Erstbeschwerdeführerin aus einem im Beschwerdeverfahren in Vorlage gebrachten fachärztlichen Befundbericht der Psychosozialen Dienste XXXX vom 08.02.2022 und einem Bestätigungsschreiben von Mag. B.B. vom 08.04.2022, in Bezug auf die Zweit- und Drittbeschwerdeführer aus zwei in Vorlage gebrachten Bestätigungsschreiben eines Ambulatoriums für Kinder und Jugendliche in Krisensituation ( XXXX ) vom 07.04.2022 und vom 02.06.2022, sowie einer vorgelegten psychologischen Stellungnahme vom 02.06.2022 seitens einer klinischen und Gesundheitspsychologin, welche für die Betreuung der Bewohner der Flüchtlingsunterkunft, in welcher die Beschwerdeführer untergebracht sind, verantwortlich zeichnet.
2.4. Zum Fluchtvorbringen und einer Rückkehrgefährdung der Beschwerdeführer:
Die Erstbeschwerdeführerin begründete die verfahrensgegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz mit unterschiedlich gelagerten Fluchtgründen, auf welche in weiterer Folge gesondert einzugehen sein wird.
Das Bundesverwaltungsgericht gelangt auf Grundlage der ergänzenden Ermittlungen zum Schluss, dass die Beschwerdeführer keine aktuelle Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung glaubhaft machen konnten. Dies aufgrund nachfolgender Erwägungen:
2.4.1. Zum Fluchtvorbringen der Beschwerdeführer bezüglich der Gefahr einer Verfolgung durch den eigenen Ehemann/Kindesvater:
Die Erstbeschwerdeführerin begründete die verfahrensgegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz im Administrativverfahren mit Problemen mit ihrem übergriffigen Ehemann. Dieser habe die Erstbeschwerdeführerin wiederholt vergewaltigt und sowohl sie als auch die beiden gemeinsamen Söhne, den Zweit- und Drittbeschwerdeführer, mehrfach geschlagen. Die tunesischen Behörden seien trotz einer Anzeige der Erstbeschwerdeführerin untätig geblieben und habe sie bereits versucht, mit den minderjährigen Beschwerdeführern in ein Hotel sowie zu einer Tante zu ziehen, jedoch habe der gewalttätige Ehemann ihren Aufenthaltsort stets herausgefunden, da dieser gute Kontakte zur Polizei habe. Nachdem die Erstbeschwerdeführerin ihrem Ehemann gegenüber angekündigt habe, sich scheiden lassen zu wollen, habe dieser sie mit dem Tod bedroht und überdies, nachdem er davon erfahren habe, dass sich die Erstbeschwerdeführerin hilfesuchend an die tunesischen Behörden gewandt habe, das eigene Haus mit Benzin anzünden wollen, wovon ihn die Erstbeschwerdeführerin jedoch noch abhalten habe können. Im Falle ihrer Rückkehr nach Tunesien befürchte die Erstbeschwerdeführerin, von ihrem Ehemann getötet zu werden.
Eingangs ist festzuhalten, dass es das Bundesverwaltungsgericht in Ansehung der insoweit stringenten Angaben der Erstbeschwerdeführerin im Verfahren sowie des unmittelbaren Eindrucks, welcher insbesondere auch vom Zweit- und Drittbeschwerdeführer im Rahmen der ersten Beschwerdeverhandlung gewonnen werden konnte, wobei diese einen eingeschüchterten und traumatisierten Eindruck vermittelten und unisono angaben, dass sowohl sie als auch ihre Mutter von ihrem gewalttätigen Vater geschlagen worden seien, in Zusammenschau mit den in Vorlage gebrachten Beweismitteln in Gestalt von Lichtbildern sowie einem Krankenhausbefund und den auch hierzulande an den Beschwerdeführern diagnostizierten psychischen Gesundheitsbeeinträchtigungen grundsätzlich für glaubhaft erachtet, dass diese in Tunesien Opfer von häuslicher Gewalt wurden und über einen längeren Zeitraum unter dem übergriffigen Ehemann bzw. Familienvater zu leiden hatten. Sofern die belangte Behörde vermeint, es sei nicht glaubhaft dass die Beschwerdeführer ohne Wissen des Ehemannes und Kindesvaters legal in die Türkei ausgereist seien, da die Ausreise minderjähriger Kinder aus Tunesien der Zustimmung des Kindesvaters bedürfe, ist dem entgegenzuhalten, dass dem aktuellen Länderinformationsblatt zu Tunesien lediglich zu entnehmen ist, dass Frauen zwar die Scheidung einreichen und Unterhalts- sowie Sorgerechtsansprüche gerichtlich geltend machen können, ihnen das Sorgerecht allerdings mit der Einschränkung, dass Minderjährige das Land nur mit ausdrücklicher Zustimmung ihres Vaters oder des Vormundschaftsgerichts verlassen können, erteilt wird (vgl. Punkt II.1.4.). Da die Erstbeschwerdeführerin im gegenständlichen Verfahren ausdrücklich zu Protokoll gab, noch gar nicht die Scheidung von ihrem Ehemann eingereicht und somit auch keine Sorgerechtsansprüche in Bezug auf die minderjährigen Beschwerdeführer geltend gemacht zu haben – vielmehr ist ihre Ehe nach wie vor aufrecht – ist der betreffenden Argumentation der belangten Behörde die Grundlage entzogen.
Dennoch kann aus diesem Fluchtvorbringen keine Verfolgungsgefahr, welche ihre Ursache in einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe hätte, abgeleitet werden. So kann einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden Verfolgung nur dann Asylrelevanz zukommen, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten (vgl. VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0010, mwN) und ist im gegebenen Zusammenhang zu betonen, dass Tunesien als "sicherer Herkunftsstaat" im Sinne der Herkunftsstaaten-Verordnung gilt, was nach höchstgerichtlicher Judikatur für die Annahme einer grundsätzlich bestehenden, staatlichen Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit der Behörden dieses Staates spricht. Vielmehr wäre es im konkreten Fall daher den Beschwerdeführern oblegen, fallbezogen spezifische Umstände aufzuzeigen, die ungeachtet dessen dazu führen könnten, dass geschützte Rechte im Falle ihrer Rückführung in nach dem AsylG 2005 maßgeblicher Weise verletzt würden (vgl. VwGH 25.06.2020, Ra 2019/18/0441, mwN).
Gegenständlich gab die Erstbeschwerdeführerin im Verfahren an, sie habe sich hilfesuchend an die tunesischen Behörden gewandt und präzisierte sie dies in der ersten Beschwerdeverhandlung dahingehend, dass sie ihren Mann am 19.09.2021, nachdem dieser den Drittbeschwerdeführer geschlagen habe, bei der Polizei zur Anzeige gebracht habe, ehe ihr Mann am Folgetag aufgrund dieser Anzeigenerstattung das Haus mit Benzin anzünden habe wollen, wovon ihn die Erstbeschwerdeführerin jedoch noch abhalten habe können. Überdies führte sie ins Treffen, dass ihr Mann auch Kontakte zur Polizei unterhalten habe, da diese bei ihm ihre Autos reparieren lassen würden.
Dass sich die Erstbeschwerdeführerin, nachdem ihr Ehemann das Haus anzünden habe wollen, noch einmal an die Polizei gewandt hätte, brachte sie hingegen nicht vor und gab vielmehr an, sich im Anschluss an dieses Ereignis noch für zehn Tage bei ihrem Mann im gemeinsamen Haushalt aufgehalten zu haben, ehe sie gemeinsam mit dem Zweit- und Drittbeschwerdeführer die Ausreise antrat. Aus dem Länderinformationsblatt ergeben sich auch keinerlei Hinweise darauf, dass von Privatpersonen ausgehende Übergriffe, wie sie seitens der Beschwerdeführer im gegebenen Zusammenhang im Verfahren geltend gemacht wurden, von den tunesischen Behörden in Anbetracht des dort grundsätzlich funktionierenden Staats- und Sicherheitsapparates nicht ordnungsgemäß verfolgt würden und war den Angaben der Erstbeschwerdeführerin auch nicht zu entnehmen, ob seitens der tunesischen Polizei aufgrund der von ihr erstatteten Anzeige ein Ermittlungsverfahren gegen ihren Ehemann eingeleitet wurde oder nicht. Ihr Vorbringen in der ersten Beschwerdeverhandlung, wonach ihr Mann über die in Rede stehende Anzeigenerstattung „ja auch informiert wurde“, könnte genauso darauf schließen lassen, dass er möglicherweise von der Exekutive über seinen Beschuldigtenstatus in einem Ermittlungsverfahren in Kenntnis gesetzt wurde. Sofern die Erstbeschwerdeführerin mit ihren Angaben hingegen zu insinuieren versucht, die Polizei habe ihre Anzeige aufgrund der persönlichen Kontakte ihres Ehemannes nicht weiter verfolgt – und dadurch indirekt den Vorwurf der Korruption in den Raum stellt – ist zu betonen, dass es in Tunesien eine eigene nationale Behörde für Korruptionsbekämpfung gibt (vgl. Punkt II.1.4.), an welche sie sich in dieser Situation ebenfalls hätte wenden können.
Darüber hinaus ergibt sich aus den einschlägigen Länderberichten zu Tunesien, dass Vergewaltigungen innerhalb der Ehe zwar gesetzlich verboten sind, in der Praxis jedoch ein ernstes Problem bleiben und auch häusliche Gewalt mit Ausbreitung der COVID-19-Pandemie stark zunahm. Zugleich garantiert die Verfassung allerdings den Schutz von Frauen- und Kinderrechten und gilt die neue Verfassung Tunesiens im Vergleich zu anderen arabischen oder muslimischen Ländern in Bezug auf Frauenrechte als Musterbeispiel. Auch existieren in Tunesien staatliche Schutzeinrichtungen, Beratungsstellen und Notunterkünfte wie Frauenhäuser für Opfer von häuslicher Gewalt und können Frauen gegen einen gewalttätigen Ehemann eine einstweilige Verfügung erwirken und die Scheidung einreichen (vgl. Punkt II.1.4.).
Wenngleich die Erstbeschwerdeführerin im Hinblick auf ihre individuelle Situation möglicherweise tatsächlich unbefriedigende Erfahrungen mit einzelnen Dienststellen oder Personen des tunesischen Staatsapparates gesammelt haben mag, so kann von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (vgl. VwGH 29.01.2020, Ra 2019/18/0228, mwN). Diese Annahme erweist sich vor dem Hintergrund der einschlägigen Länderberichte zum "sicheren Herkunftsstaat" Tunesien jedoch nicht als gerechtfertigt und war dem entsprechenden Fluchtvorbringen der Beschwerdeführer in Bezug auf die Gefahr einer Verfolgung durch den Ehemann der Erstbeschwerdeführerin bzw. den Vater des Zweit- und Drittbeschwerdeführers unter diesem Gesichtspunkt die Asylrelevanz zu versagen (zur Annahme einer grundsätzlichen bestehenden staatlichen Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit im Hinblick auf ein Fluchtvorbringen in Zusammenhang mit häuslicher Gewalt – hier bezogen auf den "sicheren Herkunftsstaat" Algerien – vgl. auch VwGH 06.11.2018, Ra 2017/01/0292).
2.4.2. Zum nachträglich im Beschwerdeverfahren erstatteten Fluchtvorbringen der Erstbeschwerdeführerin bezüglich ihrer behaupteten Homosexualität:
In Bezug auf das erst nachträglich im Beschwerdeverfahren erstattete Fluchtvorbringen der Erstbeschwerdeführerin hinsichtlich ihrer sexuellen Orientierung ist festzuhalten, dass das Bundesverwaltungsgericht aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens sowie insbesondere aufgrund des unmittelbaren und persönlichen Eindrucks, welcher im Rahmen der beiden Beschwerdeverhandlungen gewonnen werden konnte, zur Überzeugung gelangt, dass die Erstbeschwerdeführerin nicht homosexuell orientiert und daher auch nicht aufgrund ihrer sexuellen Orientierung der Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung in Tunesien ausgesetzt ist.
So ist eingangs festzuhalten, dass sich die Angaben der Erstbeschwerdeführerin in den beiden Beschwerdeverhandlungen hinsichtlich ihrer persönlichen Historie in Bezug auf ihre homosexuelle Orientierung gänzlich vage und oberflächlich gestalteten. Ihr Vorbringen erschöpfte sich im Wesentlichen darin, dass sie ab dem fünfzehnten oder sechzehnten Lebensjahr sexuelle Beziehungen zu einer Nachbarin sowie zu einer Mitschülerin angebahnt habe, ehe sie in weiterer Folge – parallel zu ihrer Ehe - noch eine lange, über einen Zeitraum von sechzehn Jahren andauernde homosexuelle Beziehung mit einer Frau namens I., welche sie auch geliebt habe, unterhalten habe. Die Erstbeschwerdeführerin schilderte trotz entsprechender Rückfragen keine Emotionen hinsichtlich der für eine Frau in Tunesien sicherlich schwierigen Phase, in der man sich der eigenen Homosexualität bewusst wird. Vielmehr konzentrierte sie sich in ihren Aussagen stets nur darauf, von Beziehungen zu erzählen, so dass der Eindruck entstand, dass sie eben gerade nicht in der Lage ist, sich in eine Person hineinzuversetzen, die an sich eine von der tunesischen Gesellschaft verpönte sexuelle Orientierung entdeckt.
Auch muteten die Angaben der Erstbeschwerdeführerin über weite Strecken unschlüssig und widersprüchlich an. Sofern sie in ihrer schriftlichen Stellungnahme vom 28.04.2022 sowie in der ersten Beschwerdeverhandlung durch ihre Äußerungen insinuierte, dass sie sich bereits in ihrer Jugendzeit nicht wie ein Mädchen gefühlt und schon immer den Wunsch in sich getragen habe, ein Mann zu sein, weshalb sie sich in jungen Jahren die Haare (in der Stellungnahme wird behauptet „stets“, in der Verhandlung sprach sie hingegen von „regelmäßig“) kurz geschnitten habe, ist für das Bundesverwaltungsgericht nicht ersichtlich, weshalb sie nun nicht im Erwachsenenalter und insbesondere in Österreich, wo sie sich in Ansehung ihrer Asylantragstellung wohl in Sicherheit wähnt, zu ihrer in der Stellungnahme vorgebrachten „männlichen“ Identität steht. Mit dem entsprechenden Vorhalt in der ersten Beschwerdeverhandlung konfrontiert, entgegnete die Erstbeschwerdeführerin lapidar, dass dies „nur damals so“ gewesen sei und wisse sie mittlerweile, dass das Aussehen und die Haarlänge „nichts damit zu tun haben“. Für die erkennende Richterin ergibt sich diesbezüglich das Bild, dass die Erstbeschwerdeführerin zunächst versuchte eine „Transgender“-Orientierung ihrer Person (im Sinne eines Unwohlfühlens im eigenen Körper) zu behaupten, da sie dies in ihrer Gedankenwelt mit Homosexualität in Verbindung brachte, dass sie aber nicht in der Lage war, dies in der Verhandlung weiter zu begründen; vielmehr brachte sie dann nur mehr vor, es wäre praktisch ein Mann zu sein, weil man dann mit einer Frau zusammen sein könne.
Auch die Schilderung der von ihr behaupteten Beziehungen mit Frauen blieb wenig plausibel: Seitens der erkennenden Richterin in der zweiten Beschwerdeverhandlung danach befragt, wie die Erstbeschwerdeführerin ihre homosexuellen Beziehungen in der Jugend denn angebahnt habe, antwortete sie in Bezug auf eine Mitschülerin völlig oberflächlich, dass sie „viel Sport miteinander“ gehabt und in der Umkleidekabine miteinander gesprochen hätten und die Erstbeschwerdeführerin ihre Mitschülerin dann gefragt habe, „ob sie das mit mir ausprobieren möchte“. Die Mitschülerin sei nicht abgeneigt gewesen und sei mit ihr ein Verhältnis eingegangen. Auf die Frage der erkennenden Richterin, was konkret die Erstbeschwerdeführerin ihre Mitschülerin denn gefragt habe, entgegnete diese erneut, sie habe ihr gesagt, dass sie schön sei und „wie es wäre, wenn wir etwas ausprobieren“. Anschließend hätten sie sich gemeinsam homoerotische Darstellungen zweier Frauen in einem pornographischen Magazin angesehen und eines habe zum anderen geführt. Auf die Frage, wie sie denn zu besagtem Magazin gekommen sei, entgegnete die Erstbeschwerdeführerin, dass ihre Mitschülerin dieses ihrem Bruder weggenommen habe. Seitens der erkennenden Richterin mit dem Vorhalt konfrontiert, dass die Initiative hinsichtlich der Anbahnung dieser homosexuellen Beziehung sohin wohl von der Mitschülerin ausgegangen sei, revidierte die Erstbeschwerdeführerin ihre Angaben wiederum dahingehend, dass der erste Schritt sehr wohl von ihr selbst ausgegangen sei und sie bereits zuvor öfters mit besagter Mitschülerin geschlafen habe, ehe diese ihr das Magazin gezeigt habe.
Gänzlich unschlüssig mutet aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts überdies das Vorbringen an, wonach die Erstbeschwerdeführerin über einen Zeitraum von sechzehn Jahren eine homosexuelle Beziehung parallel zu ihrer Ehe und unbemerkt von ihrem Ehemann und der ganzen Verwandtschaft und Nachbarschaft unterhalten habe. Dies erscheint umso lebensfremder, sofern man bedenkt, dass sie ihren Ehemann ansonsten im Verfahren als gewalttätigen und eifersüchtigen Tyrannen, welcher sogar regelmäßig ihr Handy kontrolliert habe, darzustellen versuchte. Auch ist im gegebenen Zusammenhang bemerkenswert, dass in der schriftlichen Stellungnahme vom 28.04.2022 im Vorfeld der ersten Beschwerdeverhandlung noch ausgeführt wurde, die Erstbeschwerdeführerin habe sich beim Sex mit ihrer homosexuellen Partnerin „eine Art Narbe an ihrem Hals-/Schulterbereich“ zugezogen, welche ihrem Ehemann aufgefallen sei und er ihr infolge dessen unterstellt habe, sie würde ihn betrügen. Dieses Vorbringen war der Erstbeschwerdeführerin im Rahmen der ersten Beschwerdeverhandlung nur wenige Tage später offenbar gar nicht mehr erinnerlich. Als sie seitens der erkennenden Richterin in Bezug auf die Frage, ob ihr Mann denn davon gewusst habe, dass sie eine sexuelle Beziehung mit einer Frau unterhalten habe, konkret danach gefragt wurde, was es denn mit der in der Stellungnahme erwähnten Narbe auf sich habe, entgegnete sie gänzlich zusammenhanglos, der Drittbeschwerdeführer habe eine Narbe. Überdies gab sie im Zuge dieser Verhandlung ausdrücklich zu Protokoll, ihr Ehemann habe das Haus anzünden wollen, da sie ihn am Vortag bei der Polizei angezeigt habe, nachdem dieser den Drittbeschwerdeführer geschlagen habe, und er von dieser Anzeige erfahren habe. In ausdrücklichem Widerspruch dazu wurde in der schriftlichen Stellungnahme am 28.04.2022 noch ausgeführt, der Ehemann sei aufgrund seiner Eifersucht bzw. der Unterstellung, die Erstbeschwerdeführerin würde ihn betrügen, mit einem Kanister Benzin nach Hause gekommen und habe gedroht, die Beschwerdeführer einzusperren und zu verbrennen, nachdem er am Vortag die besagte Narbe an der Erstbeschwerdeführerin entdeckt habe.
Hinzu kommt, dass sich auch das Hintergrundwissen der Erstbeschwerdeführerin in Bezug auf die Situation homosexueller Personen in Tunesien als äußerst mangelhaft erwies. So war sie im Rahmen der zweiten Beschwerdeverhandlung nicht einmal in der Lage die grundlegende Frage zu beantworten, welche Strafe denn in Tunesien auf Homosexualität stehe und gab sie überdies zu Protokoll, dass es in Tunesien keine Homosexuellen-Szene gebe, was ebenfalls den einschlägigen Länderberichten widerstreitet, wonach sich mehrere NGOs für die Rechte von homosexuellen Tunesiern einsetzen und auch zivilgesellschaftliche Vereinigungen zum Schutz von Homosexuellen existieren (vgl. Punkt II.1.4.). Wenn sie sich tatsächlich seit ihrer frühen Jugend ihrer Homosexualität bewusst gewesen wäre, wäre davon auszugehen, dass sie sich diesbezüglich aufgrund eines natürlichen Interesses mehr Kenntnisse angeeignet hätte.
Nicht nachvollziehbar ist es im Übrigen, dass die Erstbeschwerdeführerin sechzehn Jahre eine Beziehung mit einer Frau geführt haben will, die sie geliebt haben will, und dass sie diese zugleich einfach in Tunesien zurücklässt bzw. diese aufgrund einer Erkrankung ihrer Mutter in Tunesien geblieben ist. Von gemeinsamen Zukunftsplänen erzählte die Erstbeschwerdeführerin nicht, wovon nach einer sechzehnjährigen Liebesbeziehung wohl ausgegangen werden könnte bzw. zumindest von Gesprächen darüber.
Auch die beiden in der zweiten Beschwerdeverhandlung befragten Zeuginnen vermochten durch ihre Aussagen das Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin, homosexuell zu sein, nicht maßgeblich zu stützen. Vielmehr ergab sich ein eklatanter Widerspruch in Bezug auf die Frage, wann und an welchem Ort sich denn die Erstbeschwerdeführerin erstmals in Österreich einer anderen Person in Bezug auf ihre homosexuelle Orientierung geöffnet habe. So gab die Erstbeschwerdeführerin an, nachdem sie die Zeugin D.G. in ihrer Flüchtlingsunterkunft kennengelernt habe, seien sie die ersten fünf Tage zunächst „unterwegs“ gewesen und hätten sich „über normale Themen“ unterhalten, wobei die Erstbeschwerdeführerin hierbei noch nichts bezüglich ihrer sexuellen Orientierung preisgegeben habe. Im Anschluss daran habe sie jedoch „diesen inneren Druck“ verspürt, dass sie etwas loswerden müsse, sei zu D.G. in das Zimmer gegangen und habe dieser von ihrer Beziehung zu I. und von ihrem „Geheimnis“ berichtet. D.G. gab hingegen als Zeugin zu Protokoll, erst „ca. ein bis eineinhalb Monate“ nachdem sie die Erstbeschwerdeführerin kennengelernt habe, hätte diese ihr gegenüber im Zuge eines Spazierganges ihre Homosexualität offenbart. Im Übrigen erscheint es auch nicht plausibel, wenn die Zeugin D.G. angibt, dass sie von der Erstbeschwerdeführerin nur erfahren habe, dass sie einen gewalttätigen Ehemann habe und eine andere Frau liebe und weiter nicht mit ihr darüber gesprochen habe. Es wäre doch davon auszugehen, dass sich z zwei befreundete Frauen aus dem gleichen Kulturraum, die beide wegen ihrer sexuellen Identität bzw. Orientierung Diskriminierung und Verfolgung fürchten müssen, mehr als einmal und dann nur oberflächlich darüber unterhalten würden.
Auch dem schlichten Umstand, dass die Erstbeschwerdeführerin auf Anraten der beiden Zeuginnen D.G. und Mag. B.B. im April 2022 mit dem Verein Queer Base, einer Anlaufstelle für homo- und bisexuelle sowie Trans- und Interpersonen (LGBTIQ), die nach Österreich geflüchtet sind, Kontakt aufgenommen und sich dort laut eigenen Angaben bislang etwa viermal zu Beratungsgesprächen eingefunden hat, kann kein entscheidungswesentlicher Beweiswert in Bezug auf die tatsächliche homosexuelle Orientierung der Erstbeschwerdeführerin zugebilligt werden. Es ist nicht Aufgabe von Queer Base und ähnlichen Vereinen, kritisch zu hinterfragen, ob jemand die Anlaufstelle aus asyltaktischen Gründen aufsucht.
Soweit die Zeugin Mag. B.B. als behandelnde Psychologin meinte, dass die Aussage der Erstbeschwerdeführerin, homosexuell zu sein, auf sie nicht gewirkt habe, als sei aus asyltaktischen Gründen erstattet worden, reicht dies nicht aus, um den oben getroffenen Erwägungen wirksam entgegenzutreten. Zudem gab die Zeugin auch an, dass sich das Gespräch dazu nicht aus der Therapie heraus entwickelt habe und es keinen Auslöser für dieses Thema gegeben habe, sondern dass sie den Eindruck gehabt habe, es sei der Erstbeschwerdeführerin wichtig gewesen, dies anzusprechen. Dies bestärkt aus Sicht der erkennenden Richterin den Eindruck, dass die Erstbeschwerdeführerin kurz vor der ersten Verhandlung am Bundesverwaltungsgericht das Vorbringen einer Verfolgung aufgrund ihrer Homosexualität an einer öffentlichen Stelle anbringen wollte.
Wenngleich das Bundesverwaltungsgericht nicht verkennt, dass der Verwaltungsgerichtshof unter Verweis auf die Judikatur des EuGH erst jüngst wiederum festgehalten hat, dass angesichts des sensiblen Charakters der Fragen, die die persönliche Sphäre einer Person, insbesondere ihre Sexualität, betreffen, nicht allein daraus, dass diese Person, weil sie zögert, intime Aspekte ihres Lebens zu offenbaren, ihre Homosexualität nicht sofort angegeben hat, geschlossen werden könne, dass sie unglaubwürdig sei (vgl. VwGH 09.05.2022, Ra 2020/18/0397, mwN und Verweis auf EuGH 02.12.2014, A, B, C gegen die Niederlande, C-148/13 bis C-150/13), ist es der Erstbeschwerdeführerin aufgrund einer Gesamtschau aus all den dargelegten Umständen gegenständlich nicht gelungen, ihre homosexuelle Orientierung als solche und somit auch keine damit einhergehende Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung in Tunesien glaubhaft zu machen und waren daher die entsprechenden Feststellungen zu treffen. Vielmehr geht das Bundesverwaltungsgericht auf Basis der Chronologie der Ereignisse sowie des in den Beschwerdeverhandlungen gewonnenen Eindrucks davon aus, dass die Erstbeschwerdeführerin den Verlauf und positiven Ausgang des Asylverfahrens ihrer Freundin D.G., welcher mit Bescheid des BFA vom 03.03.2022 aufgrund ihrer Transsexualität der Status der Asylberechtigten zuerkannt worden war, verfolgte und infolge dessen ihr gegenständlich erst im Beschwerdeverfahren ergänzend geltend gemachtes Fluchtvorbringen bezüglich ihrer angeblichen Homosexualität – nach erstinstanzlicher Abweisung ihres eigenen Antrags auf internationalen Schutz – aus rein asyltaktischen Gründen erstattete.
2.4.3. Zu einer sonstigen Rückkehrgefährdung der Beschwerdeführer:
Das Bundesverwaltungsgericht hat bei seiner Entscheidung grundsätzlich auf die Sach- und Rechtslage in seinem aktuellen Entscheidungszeitpunkt abzustellen (vgl. VwGH 25.06.2019, Ra 2019/10/0012, mwN). Insoweit ist gegenständlich zu prüfen, ob die Beschwerdeführer, eine alleinerziehende Mutter mit zwei minderjährigen Söhnen, welche in ihrem Herkunftsstaat überdies allesamt Opfer von häuslicher Gewalt wurden und infolge dessen mit psychischen Gesundheitsbeeinträchtigungen zu kämpfen haben, unter Berücksichtigung ihrer individuellen Situation und vor dem Hintergrund der einschlägigen, aktuellen Länderberichte zu Tunesien im Falle einer Rückkehr der realen Gefahr einer existentiellen Bedrohung oder einer ernsthaften Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes ausgesetzt wären.
Das Bundesverwaltungsgericht gelangt aufgrund des erhobenen Sachverhaltes zum Ergebnis, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten im Falle der minderjährigen Beschwerdeführer vorliegen. Dies aufgrund folgender Erwägungen:
Zunächst ergibt sich auf Grundlage der unter Punkt II.1.4. vorzitierten, unbestrittenen Quellen und Berichte eine weitgehend stabile Sicherheitslage in Sousse, dem Heimatgouvernement der Beschwerdeführer im Nordosten Tunesiens, und kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass sie im Falle ihrer Rückkehr von willkürlicher Gewalt infolge eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bedroht wären. Laut österreichischem Außenministerium gilt eine partielle Reisewarnung (Sicherheitsstufe 5) für die Saharagebiete, das Grenzgebiet zu Algerien und die westlichen Landesteile, überdies bestehen Reisewarnungen für die Region südlich der Orte Tozeur – Douz – Ksar Ghilane – Tataouine – Zarzis (vgl. Punkt II.1.4.). Sousse ist hiervon jedoch nicht betroffen und wurden etwaige risikoerhöhende Umstände im Hinblick auf die Beschwerdeführer ebenfalls nicht vorgebracht. Aus einer Zusammenschau der zitierten Quellen ergibt sich sohin eine Sicherheitslage, die es Personen wie den Beschwerdeführern in Sousse erlaubt, relativ unbehelligt zu leben, ohne zwingend damit rechnen zu müssen, Opfer von Verfolgung, willkürlicher Gewalt oder kriegerischen Auseinandersetzungen zu werden. Nicht zuletzt gilt Tunesien gemäß § 1 Z 11 HStV als sicherer Herkunftsstaat.
Ergänzend ist im vorliegenden Beschwerdefall jedoch zu beachten, dass die beiden minderjährigen Beschwerdeführer einer besonders vulnerablen und schutzbedürftigen Personengruppe zuzurechnen sind. Diese Vulnerabilität wird im konkreten Fall durch ihre im Verfahren hervorgekommenen, psychischen Gesundheitsbeeinträchtigungen noch verstärkt, was bei der Beurteilung der Frage, ob ihnen im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat eine Verletzung ihrer durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte droht, besonders zu berücksichtigen ist und eine konkrete Auseinandersetzung damit erfordert, welche Rückkehrsituation sie im Herkunftsstaat tatsächlich vorfinden werden (vgl. VwGH 10.03.2022, mwN; VfGH 10.03.2021, E 345/2021, mwN).
Wenngleich die Beschwerdeführer in Sousse über ein umfangreiches familiäres Netzwerk, insbesondere in Gestalt der Mutter und Geschwister der Erstbeschwerdeführerin, verfügen, so ist gegenständlich ins Kalkül zu ziehen, dass sie ihren Herkunftsstaat gerade deshalb verließen, um sich endgültig dem Einfluss des gewalttätigen Ehemannes der Erstbeschwerdeführerin bzw. Kindesvaters des Zweit- und Drittbeschwerdeführers zu entziehen, sodass ihnen ein Rückgriff auf ihre familiären Strukturen in Sousse nicht ohne weiters möglich sein wird, ohne Gefahr zu laufen, neuerlich in das Blickfeld des Aggressors zu geraten und Übergriffen durch diesen ausgesetzt zu sein. Auch wenn es der Erstbeschwerdeführerin möglich wäre, sich beispielsweise in eine Notunterkunft oder in ein Frauenhaus zu begeben und so auch mit keiner asylrelevanten Verfolgung zu rechnen ist, müssen die entsprechenden Auswirkungen auf die minderjährigen Beschwerdeführer, die gerade begonnen haben, erste Anpassungsschritte und Gefühle der Sicherheit zu entwickeln, berücksichtigt werden: Es besteht letztlich die Gefahr, dass die minderjährigen Zweit- und Drittbeschwerdeführer im Falle einer Rückführung in ihren Herkunftsstaat dem realen Risiko einer maßgeblichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes, insbesondere einer deutlichen Verschlimmerung ihrer psychischen Probleme, ausgesetzt wären. Sie weisen beide eindeutige Symptome einer Traumafolgestörung (PTBS) auf, sind psychisch sehr instabil und verspüren auch eine große Unsicherheit, was ihre Zukunft betrifft, sodass sich die Erforderlichkeit bzw. die Art und der Umfang etwaiger weiterführender Behandlungen in Bezug auf ihre psychischen Gesundheitsbeeinträchtigungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht endgültig abschätzen lassen. Ihre Mutter hat ihrerseits ebenso mit diversen psychischen Gesundheitsbeeinträchtigungen zu kämpfen, wobei den Beschwerdeführer auch ein Rückgriff auf ihr familiäres Netzwerk in Sousse vor dem Hintergrund ihres fluchtauslösenden Ereignisses nicht ohne weiters möglich sein wird. Aus dem Gesagten ergibt sich somit das reale Risiko, dass den minderjährigen Beschwerdeführern in ihrem Herkunftsstaat keine adäquate Versorgung sowie medizinische Behandlung zuteilwürde und ihre psychische Gesundheit nachhaltig gefährdet wäre.
2.5. Zum Herkunftsstaat:
Zu den zur Feststellung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat ausgewählten Quellen wird angeführt, dass es sich hierbei um eine ausgewogene Auswahl verschiedener Quellen, sowohl staatlichen als auch nicht-staatlichen Ursprungs handelt, welche es ermöglichen, sich ein möglichst umfassendes Bild von der Lage im Herkunftsstaat zu machen. Zur Aussagekraft der einzelnen Quellen wird angeführt, dass zwar in nationalen Quellen rechtsstaatlich-demokratisch strukturierter Staaten, von denen der Staat der Veröffentlichung davon ausgehen muss, dass sie den Behörden jenes Staates, über den berichtet wird, zur Kenntnis gelangen, diplomatische Zurückhaltung geübt wird, wenn es um kritische Sachverhalte geht, doch andererseits sind gerade diese Quellen aufgrund der nationalen Vorschriften vielfach zu besonderer Objektivität verpflichtet, weshalb diesen Quellen keine einseitige Parteinahme unterstellt werden kann. Zudem werden auch Quellen verschiedener Menschenrechtsorganisationen herangezogen, welche oftmals das gegenteilige Verhalten aufweisen und so gemeinsam mit den staatlich-diplomatischen Quellen ein abgerundetes Bild ergeben. Bei Berücksichtigung dieser Überlegungen hinsichtlich des Inhaltes der Quellen, ihrer Natur und der Intention der Verfasser handelt es sich nach Ansicht der erkennenden Richterin bei den Feststellungen um ausreichend ausgewogenes und aktuelles Material (vgl. VwGH 04.04.2001, 2000/01/0348, mwN).
Die getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage in Tunesien ergeben sich zweifelsfrei aus den unter Punkt II.1.4. zitierten Quellen und wurde weder diesen Quellen noch deren Inhalt im Beschwerdeverfahren substantiiert entgegengetreten.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
3.1. Zur Nichtgewährung von Asyl (Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide):
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 leg. cit. zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abs. A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht.
Im Sinne des Art. 1 Abs. A Z 2 GFK ist als Flüchtling anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furch nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentraler Aspekt der in Art. 1 Abs. A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0413, mwN).
Selbst in einem Staat herrschende allgemein schlechte Verhältnisse oder bürgerkriegsähnliche Zustände begründen für sich alleine noch keine Verfolgungsgefahr im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Um eine Verfolgung im Sinne des AsylG 2005 erfolgreich geltend zu machen, bedarf es einer zusätzlichen, auf asylrelevante Gründe gestützten Gefährdung des Asylwerbers, die über die gleichermaßen die anderen Staatsbürger des Herkunftsstaates treffenden Unbilligkeiten hinausgeht (vgl. VwGH 19.10.2000, 98/20/0233, mwN).
Wie in der Beweiswürdigung unter Punkt II.2.4.1. und II.2.4.2. ausführlich dargestellt, konnten die Beschwerdeführer keine Gründe glaubhaft machen, die für eine asylrelevante Verfolgung sprächen.
Dass die Beschwerdeführer Tunesien aufgrund von häuslicher Gewalt, ausgeübt durch den Ehemann der Erstbeschwerdeführerin bzw. den Kindesvater des Zweit- und Drittbeschwerdeführers, verlassen haben, ist zwar glaubhaft, in Anbetracht einer grundsätzlich anzunehmenden staatlichen Schutzfähigkeit und -willigkeit jedoch nicht asylrelevant.
Dem im Beschwerdeverfahren ergänzend erstatteten Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin, wonach sie in Tunesien überdies aufgrund ihrer Homosexualität der Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt sei, war hingegen jegliche Glaubhaftigkeit zu versagen.
Eine darüberhinausgehende Verfolgung wurde weder von Seiten der Beschwerdeführer behauptet, noch war eine solche für das Bundesverwaltungsgericht erkennbar.
Die Voraussetzungen für die Erteilung von Asyl sind daher nicht gegeben. Aus diesem Grund waren die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG als unbegründet abzuweisen.
3.2. Zur Gewährung von subsidiärem Schutz (Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide):
Gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten einem Fremden zuzuerkennen, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Gemäß § 8 Abs. 2 leg. cit. ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass ein "real risk" (reales Risiko) vorliegt, wenn stichhaltige Gründe ("substantial grounds") dafür sprechen, dass die betroffene Person im Falle der Rückkehr in die Heimat das reale Risiko (insbesondere) einer Verletzung ihrer durch Art. 3 EMRK geschützten Rechte zu gewärtigen hätte. Dafür spielt es grundsätzlich keine Rolle, ob dieses reale Risiko in der allgemeinen Sicherheitslage im Herkunftsstaat, in individuellen Risikofaktoren des Einzelnen oder in der Kombination beider Umstände begründet ist. Allerdings betont der EGMR in seiner Rechtsprechung auch, dass nicht jede prekäre allgemeine Sicherheitslage ein reales Risiko im Sinne des Art. 3 EMRK hervorruft. Im Gegenteil lässt sich seiner Judikatur entnehmen, dass eine Situation genereller Gewalt nur in sehr extremen Fällen ("in the most extreme cases") diese Voraussetzung erfüllt (vgl. etwa EGMR vom 28.11.2011, Nr. 8319/07 und 11449/07, Sufi und Elmi gg. Vereinigtes Königreich, RNr. 218 mit Hinweis auf EGMR vom 17.07.2008, Nr. 25904/07, NA gg. Vereinigtes Königreich). In den übrigen Fällen bedarf es des Nachweises von besonderen Unterscheidungsmerkmalen ("special distinguishing features"), aufgrund derer sich die Situation des Betroffenen kritischer darstellt als für die Bevölkerung im Herkunftsstaat im Allgemeinen (vgl. etwa EGMR Sufi und Elmi, RNr. 217). Auch im Urteil der Großen Kammer vom 23.08.2016, Nr. 59166/12, J.K. u.a. gegen Schweden, beschäftigte sich der EGMR mit seiner einschlägigen Rechtsprechung und führte u.a. aus, dass die Beweislast für das Vorliegen eines realen Risikos in Bezug auf individuelle Gefährdungsmomente für eine Person grundsätzlich bei dieser liege (v.a. RNr. 91 und 96), gleichzeitig aber die Schwierigkeiten, mit denen ein Asylwerber bei der Beschaffung von Beweismitteln konfrontiert sei, in Betracht zu ziehen seien und bei einem entsprechend substantiierten Vorbringen des Asylwerbers, weshalb sich seine Lage von jener anderer Personen im Herkunftsstaat unterscheide (vgl. RNr. 94), im Zweifel zu seinen Gunsten zu entscheiden sei (RNr. 97) (vgl. VwGH 03.09.2020, Ra 2020/19/0221, mwN).
Im Hinblick auf eine mögliche Verletzung von Art. 3 EMRK hat ein Fremder im Allgemeinen auch kein Recht, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung und der Medikamente, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückzulegende Entfernung zu berücksichtigen sind. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Solche liegen jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt (vgl. VwGH 15.06.2021, Ra 2021/19/0071, mwN und unter Hinweis auf EGMR 13.12.2016, Paposhvili/Belgien, 41738/10).
Im gegenständlichen Fall ist in Bezug auf die minderjährigen Zweit- und Drittbeschwerdeführer angesichts ihres Lebensalters und Gesundheitszustandes jedenfalls vom Vorliegen eines gegenüber der Gesamtbevölkerung drastisch erhöhten realen Risikos auszugehen, in Tunesien in eine existenzbedrohende Notsituation zu geraten. Sie weisen beide eindeutige Symptome einer Traumafolgestörung (PTBS) auf, sind psychisch sehr instabil und verspüren auch eine große Unsicherheit, was ihre Zukunft betrifft, sodass sich die Erforderlichkeit bzw. die Art und der Umfang etwaiger weiterführender Behandlungen in Bezug auf ihre psychischen Gesundheitsbeeinträchtigungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht endgültig abschätzen lassen. Ihre Mutter hat ihrerseits ebenso mit diversen psychischen Gesundheitsbeeinträchtigungen zu kämpfen, wobei den Beschwerdeführer auch ein Rückgriff auf ihr familiäres Netzwerk in Sousse vor dem Hintergrund ihres fluchtauslösenden Ereignisses nicht ohne weiters möglich sein wird. Aus dem Gesagten ergibt sich somit das reale Risiko, dass den minderjährigen Beschwerdeführern in ihrem Herkunftsstaat keine adäquate Versorgung sowie medizinische Behandlung zuteilwürde und sich dadurch ihre psychischen Probleme deutlich verschlimmern würden (vgl. Punkt II.2.4.3.).
Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass es generell nicht ausreichend ist, die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK aufzuzeigen (vgl. VwGH 25.04.2017, Ra 2016/01/0307, mwN). Gegenständlich besteht jedoch die reale Gefahr, dass die minderjährigen Zweit- und Drittbeschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat in eine existenzbedrohende Notlage geraten würden und eine unmenschliche Behandlung erleiden müssten.
Aus dem Gesagten kann dem Zweit- und Drittbeschwerdeführer aufgrund der besonderen Umstände eine Rückkehr nach Tunesien im Lichte des Art. 3 EMRK derzeit nicht zugemutet werden und war ihnen daher gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen und gemäß Abs. 4 leg. cit. eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer von einem Jahr zu erteilen.
Eine gesonderte Prüfung hinsichtlich der Erstbeschwerdeführerin kann entfallen, da ihr im Rahmen des Familienverfahrens gemäß § 34 Abs. 3 AsylG 2005 ebenfalls subsidiärer Schutz zuzuerkennen war (vgl. VwGH 24.10.2018, Ra 2018/14/0040). Ausschlussgründe im Sinne des § 9 AsylG 2005 liegen nicht vor.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
3.3. Zur Aufhebung der übrigen Spruchpunkte (Spruchpunkte III. bis VI. der angefochtenen Bescheide):
Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird und kein Fall der §§ 8 Abs. 3a oder 9 Abs. 2 AsylG 2005 vorliegt.
Da im gegenständlichen Fall den Beschwerdeführern der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen war, liegen die Voraussetzungen für die Anordnung einer Rückkehrentscheidung und die rechtlich darauf aufbauenden Spruchpunkte nicht (mehr) vor (vgl. VwGH 29.05.208, Ra 2018/21/0067, mwN), sodass die betreffenden Spruchpunkte III. bis VI. der angefochtenen Bescheide ersatzlos zu beheben waren.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Im gegenständlichen Fall wurde keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen. Die vorliegende Entscheidung basiert auf den oben genannten Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes.
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