BVwG G314 2165641-1

BVwGG314 2165641-115.3.2018

B-VG Art.133 Abs4
FPG §52 Abs5
FPG §53

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2018:G314.2165641.1.00

 

Spruch:

G314 2165641-1/17E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK

 

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a BAUMGARTNER über die Beschwerde des XXXX, geboren am XXXX, albanischer Staatsangehöriger, vertreten durch XXXX Rechtsanwälte OG, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 03.07.2017, Zl. XXXX, betreffend die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und eines Einreiseverbots zu Recht:

 

A) Der Beschwerde wird Folge gegeben und der angefochtene Bescheid

ersatzlos behoben.

 

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig.

 

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

 

Verfahrensgang:

 

Der Beschwerdeführer (BF) wurde am XXXX.2016 im Ausland verhaftet und in der Folge nach Österreich ausgeliefert. Danach wurde er in der Justizanstalt XXXXin Untersuchungshaft angehalten. Mit dem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX.2017, XXXX, wurde er wegen schwerer, gewerbsmäßiger Einbruchsdiebstähle zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe verurteilt.

 

Mit Schreiben des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 28.03.2017 wurde dem BF mitgeteilt, dass im Fall seiner strafgerichtlchen Verurteilung geplant sei, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und ein Einreiseverbot zu erlassen, ihn in sein Heimatland abzuschieben und seine Ausreise erforderlichenfalls durch Zwangsmaßnahmen (z.B. Schubhaft) zu sichern. Gleichzeitig wurde er aufgefordert, sich zur beabsichtigten Erlassung einer Rückkehrentscheidung und eines Einreiseverbots zu äußern. In seiner Stellungnahme vom 07.04.2017 wies der BF darauf hin, dass er im Besitz eines unbefristeten italienischen Aufenthaltstitels sei. Seine Familie lebe in Italien. Er beabsichtige nicht, in Österreich zu bleiben, sondern nach Italien zurückzukehren.

 

Mit dem oben angeführten Bescheid wurde dem BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 55 AsylG nicht erteilt und gemäß § 52 Abs 5 FPG iVm § 9 BFA-VG gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt I.), gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Albanien zulässig sei (Spruchpunkt II.), gemäß § 55 Abs 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt III.), gemäß § 53 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 und 2 FPG gegen den BF ein dreijähriges Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt IV.) und einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt V.). Dieser Bescheid wurde im Wesentlichen mit der strafgerichtlichen Verurteilung des BF und mit dem Fehlen eines Privat- und Familienlebens in Österreich begründet. In der Bescheidbegründung wird dargelegt, dass dem BF kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG erteilt wurde, weil die Voraussetzungen dafür nicht vorlagen. Die Rückkehrentscheidung wurde mit dem nicht rechtmäßigen Aufenthalt des BF iSd § 52 Abs 1 Z 1 FPG begründet, das Einreiseverbot mit der von ihm ausgehenden schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit. Der BF sei nur zur Begehung von Straftaten nach Österreich gereist. Er habe sein Fehlverhalten erst vor kurzem gesetzt. Aufgrund seiner wirtschaftlichen Situation - der BF habe keine Mittel zur Bestreitung seines Lebensunterhalts - sei mit einer Fortsetzung zu rechnen. Aufgrund seines strafbaren Verhaltens sei seine sofortige Ausreise im Interesse der öffentlichen Ordnung und Sicherheit erforderlich, sodass die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde aberkannt und keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt wurde.

 

Dagegen richtet sich die wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit erhobene Beschwerde mit den Anträgen, den angefochtenen Bescheid ersatzlos zu beheben, in eventu, ihn aufzuheben und die Angelegenheit an das BFA zurückzuverweisen bzw. Spruchpunkt IV. dahin abzuändern, dass das Einreiseverbot nicht für Italien erlassen und herabgesetzt werde. Der BF begründet die Beschwerde zusammengefasst damit, dass er über einen unbefristeten Aufenthaltstitel Italiens verfüge, wo er seit 2004 durchgehend lebe und wo sich auch seine Ehefrau und sein Sohn aufhielten. Er sei dort bis zu seiner Verhaftung erwerbstätig gewesen und könne nach seiner Rückkehr wieder bei seinem früheren Arbeitgeber arbeiten. Die unionsweite Geltung des Einreiseverbots hänge vom Ausgang eines Konsultationsverfahrens iSd Art 25 SDÜ ab, das noch nicht einmal eingeleitet worden sei. Das Einreiseverbot verletze Art 8 EMRK, weil die privaten und familiären Anknüpfungspunkte des BF seinen Verbleib dort rechtfertigten. Italien hätte vom Geltungsbereich des Einreiseverbots ausgenommen werden müssen. Die Dauer des Einreiseverbots sei überhöht, zumal die Straftaten des BF in auffallendem Widerspruch zu seinem sonst rechtstreuen Verhalten stünden und keine Wiederholungsgefahr vorliege.

 

Das BFA legte die Beschwerde und die Verwaltungsakten dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) vor, wo sie am 27.07.2017 einlangten.

 

Der Mängelbehebungsauftrag des BVwG vom 28.07.2017, mit dem dem BF die Angabe der Gründe für die Behauptung der Rechtswidrigkeit der Spruchpunkte I. bis III. und V. des angefochtenen Bescheids, die Vorlage einer Übersetzung der in italienischer Sprache vorgelegten Urkunden, die Bekanntgabe ergänzender Informationen zum Aufenthaltstitel des BF, die Vorlage der Heiratsurkunde sowie des italienischen Strafregisterauszuges aufgetragen wurden, blieb trotz mehrfacher Fristerstreckung ergebnislos, ebenso ein Rechtshilfeersuchen an die Österreichische Botschaft Rom betreffend die italienische Aufenthaltsgenehmigung des BF.

 

Am 30.11.2017 wurde der BF bedingt aus der Haft entlassen. Am 01.12.2017 reiste er unter Gewährung von Rückkehrhilfe freiwillig nach Albanien aus. Auf die Aufforderung des BVwG, mitzuteilen, wohin der BF ausgereist sei, und seine aktuelle Adresse bekannt zu geben, antwortete der Rechtsvertreter des BF, dass ihm dies nicht bekannt sei.

 

Feststellungen:

 

Der BF wurde am XXXX in Albanien geboren, wo seine Eltern nach wie vor leben. Er spricht Albanisch. In seinem Heimatstaat absolvierte er eine achtjährige Schulbildung, machte aber keine weitere Berufsausbildung.

 

Der BF lebt seit April 2004 in Italien, wo er über eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung verfügt. Er ist verheiratet und hat einen Sohn, der am XXXX.2016 in XXXX (Italien) zur Welt kam. Bis zur Verhaftung des BF bewohnte er gemeinsam mit seiner Ehefrau und seinem Kind eine Mietwohnung in XXXX. Auch andere Angehörige des BF (Geschwister, Onkel und Tanten) leben in Italien.

 

Der BF ist gesund und arbeitsfähig. Von April 2016 bis zu einer Festnahme war er bei einem in seinem Wohnort etablierten Unternehmen als Maurer beschäftigt. Bei einer Rückkehr nach Italien kann er wieder für seinen früheren Arbeitgeber arbeiten.

 

In Österreich hat der BF weder familiäre noch berufliche oder soziale Anknüpfungspunkte; er war hier nie erwerbstätig, hat keinen Wohnsitz und verfügt über keine österreichische Aufenthaltsgenehmigung.

 

Am XXXX.2017 wurde der BF in Italien verhaftet und in der Folge nach Österreich ausgeliefert. Seiner Verurteilung durch das Landesgericht XXXX liegt zugrunde, dass er in mehreren Nächten zwischen 18. und 23.05.2013 an verschiedenen Orten in XXXX als Mitglied einer kriminellen Vereinigung zusammen mit anderen Mitgliedern dieser Vereinigung 34 Wohnungseinbrüche beging, wobei es in 18 Fällen beim Versuch blieb. Dabei bohrte er zum Teil ein Loch in Fenster oder Türen und entriegelte diese sodann, zum Teil brach er die Eingangstüre auf. Der BF und seine Mittäter erbeuteten Bargeld und Wertgegenstände im Gesamtwert von fast EUR 53.800 sowie ein Auto im Wert von EUR 3.000.

 

Der BF beging dadurch das Verbrechen des schweren und gewerbsmäßig durch (Wohnungs‑) Einbrüche begangenen Diebstahls nach §§ 127, 128 Abs 1 Z 5, 129 Abs 1 Z 1 und Abs 2 Z 1, 130 Abs 1 erster Fall und Abs 3, 15 Abs 1 StGB und wurde - ausgehend von einem Strafrahmen von einem bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe gemäß § 130 Abs 3 StGB - zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Es handelt sich um seine erste und bislang einzige strafgerichtliche Verurteilung. Bei der Strafzumessung wurden der teilweise Versuch und der zuvor ordentliche Lebenswandel als mildernd gewertet, die mehrfache Qualifikation und die Tatwiederholung hingegen als erschwerend.

 

Der BF verbüßte die über ihn verhängte Freiheitsstrafe ab XXXX.2017 in der Justizanstalt XXXX. Am 30.11.2017 wurde er bedingt entlassen und reiste am 01.12.2017 freiwillig nach Albanien aus.

 

Beweiswürdigung:

 

Der Verfahrensgang ergibt sich widerspruchsfrei aus dem unbedenklichen Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten und des Gerichtsakts des BVwG.

 

Die Feststellungen zur Identität des BF und zu seinen persönlichen und familiären Verhältnissen beruhen auf den entsprechenden Angaben im Strafurteil und auf der Stellungnahme des BF vom 07.04.2017. Name, Geburtsdatum und Staatsangehörigkeit werden durch seinen in Kopie vorliegenden Reisepass belegt und ergeben sich auch aus seiner italienischen Identitätskarte. Seine Albanischkenntnisse sind aufgrund seiner Herkunft und seiner in Albanien absolvierten Schulzeit plausibel, zumal eine Verständigung mit der Dolmetscherin für diese Sprache im Strafverfahren (offenbar problemlos) möglich war. Die Feststellungen zur Ausbildung des BF folgen seiner (weitgehend plausiblen und nachvollziehbaren) Stellungnahme vom 07.04.2017.

 

Der Aufenthalt des BF in Italien wird anhand der mit der Beschwerde vorgelegten historischen Meldebescheinigung der Gemeinde XXXX vom 18.04.2017 festgestellt, die Aufenthaltsgenehmigung anhand der in Kopie vorliegenden italienischen Aufenthaltskarte, für deren Ungültigkeit keine Anhaltspunkte bestehen.

 

Die Feststellungen zur Kernfamilie des BF basieren auf seiner Stellungnahme, die insoweit durch die Geburtsurkunde seines Sohnes und den Nachweis des Familienwohnsitzes (die jeweils nur in italienischer Sprache vorgelegt wurden) untermauert wird.

 

Das Verfahren hat keine Anhaltspunkte für gesundheitliche Probleme oder Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit des BF ergeben. Da er im erwerbsfähigen Alter ist und in Italien zuletzt bis zu seiner Festnahme arbeitete, ist davon auszugehen, dass er gesund und arbeitsfähig ist.

 

Die Erwerbstätigkeit des BF in Italien ergibt sich aus seiner Stellungnahme und den dazu in italienischer Sprache vorgelegten Urkunden (Arbeitsvertag, Einkommensnachweis, Bestätigung vom 23.02.2017). Aus letzterer ergibt sich auch, dass er nach seiner Rückkehr nach Italien wieder einen Arbeitsplatz bei seinem früheren Arbeitgeber in Aussicht hat. Der BF gibt in seiner Stellungnahme zwar an, dass er schon seit 2015 für dieses Unternehmen gearbeitet habe. Da aus den Unterlagen aber übereinstimmend ein Beginn des Arbeitsverhältnisses am 04.04.2016 hervorgeht und keine Beweisergebnisse für einen früheren Beginn vorliegen, kann ihm in diesem Punkt nicht gefolgt werden.

 

Es gibt keine Hinweise auf private oder familiäre Anknüpfungspunkte des BF in Österreich. Deren Fehlen ergibt sich insbesondere aus der Stellungnahme des BF und aus der Beschwerde, die der entsprechenden Feststellung im angefochtenen Bescheid nicht entgegentritt. Das Verfahren hat keine Hinweise auf für eine Integration oder Anbindung des BF in Österreich ergeben. Im Fremdenregister ist keine österreichische Aufenthaltsgenehmigung dokumentiert. Abgesehen von Zeiten der Anhaltung in einer Justizanstalt sind im Zentralen Melderegister (ZMR) keine Wohnsitzmeldungen des BF gespeichert.

 

Der Zeitpunkt der Verhaftung des BF in Italien und seine Auslieferung nach Österreich ergeben sich aus seiner Stellungnahme, aus der Vollzugsinformation und aus der Vorhaftanrechnung laut Strafurteil. Im ZMR scheint eine Hauptwohnsitzmeldung in der Justizanstalt XXXX ab XXXX.2017 auf.

 

Die Feststellungen zu den vom BF in Österreich begangenen Straftaten, zu seiner Verurteilung und zu den Strafzumessungsgründen basieren auf dem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX.2017, XXXX. Die Rechtskraft der Verurteilung wird auch durch den entsprechenden Eintrag im Strafregister belegt, in dem keine weiteren Verurteilungen des BF aufscheinen. Damit übereinstimmend wird seine Unbescholtenheit als besonderer Milderungsgrund berücksichtigt. Es gibt keine Indizien für weitere strafrechtliche Verurteilungen des BF.

 

Die Strafhaft des BF wird anhand des Strafantrittsberichts vom XXXX.2017 und der Wohnsitzmeldung laut ZMR festgestellt. Seine bedingte Entlassung ergibt sich aus der Verständigung der Justizanstalt XXXX vom 13.10.2017, seine freiwillige Ausreise aus der Mitteilung des BFA vom 04.12.2017. Das BFA teilte über eine entsprechende Anfrage des BVwG am 09.03.2018 mit, dass der BF nach Albanien ausgereist sei.

 

Rechtliche Beurteilung:

 

Zu Spruchteil A.:

 

Der BF ist als Staatsangehöriger Albaniens Drittstaatsangehöriger iSd § 2 Abs 4 Z 10 FPG. Er verfügt über einen gültigen italienischen Aufenthaltstitel. Da er sich von Jänner bis November 2017 und somit deutlich länger als drei Monate in Österreich aufhielt, überschritt er die nach § 31 Abs 1 Z 3 FPG iVm Art 21 Abs 1 SDÜ (siehe § 2 Abs 4 Z 6 FPG) maximal zulässige Aufenthaltsdauer in einem anderen Vertragsstaat und hielt sich somit gemäß § 31 Abs 1a FPG nicht rechtmäßig im Bundesgebiet auf.

 

Die vom BFA zur Begründung der Rückkehrentscheidung im Spruch des angefochtenen Bescheids angeführte Bestimmung (§ 52 Abs 5 FPG) ist nicht maßgeblich, weil der BF vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes nicht auf Dauer rechtmäßig niedergelassen war und nicht über einen Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EU" verfügt. Da er über einen italienischen Aufenthaltstitel verfügt, ist vielmehr § 52 Abs 6 FPG anzuwenden.

 

Gemäß § 52 Abs 6 FPG hat sich ein nicht rechtmäßig in Österreich aufhältiger Drittstaatsangehöriger, der im Besitz eines Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaates ist, unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses Staates zu begeben. Seine Ankunft dort hat er in geeigneter Weise nachzuweisen. Eine Rückkehrentscheidung ergeht nur dann, wenn er seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachkommt oder seine sofortige Ausreise aus dem Bundesgebiet aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit erforderlich ist (Gachowetz/Schmidt/Simma/Urban, Asyl- und Fremdenrecht im Rahmen der Zuständigkeit des BFA, 270).

 

§ 52 Abs 6 FPG setzt Art 6 Abs 2 der Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG ) um, der vorsieht, dass ein Drittstaatsangehöriger, der sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhält und über einen gültigen Aufenthaltstitel eines anderen Mitgliedstaats verfügt, zunächst dazu zu verpflichten ist, unverzüglich in diesen Mitgliedstaat zurückzukehren. Erst wenn der Drittstaatsangehörige dieser Verpflichtung nicht nachkommt oder seine sofortige Ausreise aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit geboten ist, ist eine Rückkehrentscheidung zu erlassen.

 

In diesem Zusammenhang ist Art 23 SDÜ zu beachten, der wie folgt lautet:

 

"(1) Der Drittausländer, der die im Hoheitsgebiet einer der Vertragsparteien geltenden Voraussetzungen für einen kurzen Aufenthalt nicht oder nicht mehr erfüllt, hat grundsätzlich unverzüglich das Hoheitsgebiet der Vertragsparteien zu verlassen.

 

(2) Verfügt der Drittausländer über eine von einer anderen Vertragspartei ausgestellte gültige Aufenthaltserlaubnis oder über einen von einer anderen Vertragspartei ausgestellten vorläufigen Aufenthaltstitel, so hat er sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieser Vertragspartei zu begeben.

 

(3) Soweit die freiwillige Ausreise eines solchen Drittausländers nicht erfolgt oder angenommen werden kann, dass diese Ausreise nicht erfolgen wird, oder soweit die sofortige Ausreise des Drittausländers aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung geboten ist, muss der Drittausländer nach Maßgabe des nationalen Rechts aus dem Hoheitsgebiet der Vertragspartei abgeschoben werden, in dem er aufgegriffen wurde. Ist die Abschiebung nach nationalem Recht nicht zulässig, so kann die betroffene Vertragspartei dem Drittausländer den Aufenthalt in ihrem Hoheitsgebiet gestatten.

 

(4) Der betroffene Drittausländer kann in seinen Herkunftsstaat oder in einen anderen Staat, in dem seine Zulassung insbesondere nach Maßgabe der einschlägigen Bestimmungen der zwischen den Vertragsparteien geschlossenen Rückübernahmeabkommen möglich ist, abgeschoben werden.

 

(5) Die nationalen asylrechtlichen Bestimmungen, die Bestimmungen der Genfer Konvention vom 28. Juli 1951 über den Flüchtlingsstatus in der Fassung des Protokolls von New York vom 31. Jänner 1967, sowie Absatz 2 dieses Artikels und Artikel 33 Absatz 1 dieses Übereinkommens bleiben von den Bestimmungen des Absatzes 4 unberührt."

 

Der BF reiste nach seiner Haftentlassung umgehend freiwillig nach Albanien aus. Ein Nachweis für seine Ankunft in dem Mitgliedstaat, dessen Aufenthaltstitel er besitzt (Italien), liegt nicht vor. Dies kann dem BF aber nicht zum Nachteil gereichen, weil er nie dazu aufgefordert wurde, sich dorthin zu begeben. In § 52 Abs 6 FPG iVm Art 6 Abs 2 der Rückführungsrichtlinie wird angeordnet, dass ein nicht rechtmäßig aufhältiger Drittstaatsangehöriger mit einem Aufenthaltstitel eines anderen Mitgliedstaates zunächst zu verpflichten ist, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaates zu begeben. Nur wenn dieser Verpflichtung nicht entsprochen wird, hat es zu einer Rückkehrentscheidung zu kommen. Demnach bedarf es also vor Erlassung einer Rückkehrentscheidung einer "Verpflichtung" des Drittstaatsangehörigen, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaates zu begeben (VwGH 21.12.2017, Ra 2017/21/0234; VwGH 10.04.2014, 2013/22/0310). Eine solche Anordnung ist hier jedoch nicht erfolgt.

 

Eine Rückkehrentscheidung gegen den BF kann aber auch nicht darauf gestützt werden, dass seine sofortige Ausreise aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit erforderlich ist. Die Rückkehrentscheidung greift in sein Privat- und Familienleben ein, zumal sich sein Lebensmittelpunkt vor der Auslieferung nach Österreich in Italien befand.

 

Die Frage nach dem Eingriff in das Privat- oder Familienleben des Drittstaatsangehörigen darf nicht allein im Hinblick auf seine Verhältnisse in Österreich beurteilt werden, sondern es ist auch die Situation in den anderen Mitgliedstaaten in den Blick zu nehmen. Das folgt unzweifelhaft daraus, dass Rückkehrentscheidung und Einreiseverbot grundsätzlich auf das gesamte Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten bezogen sein sollen (VwGH 26.03.2015, 2013/22/0284).

 

Daher ist unter dem Gesichtspunkt von Art 8 EMRK die Verhältnismäßigkeit der Rückkehrentscheidung am Maßstab des § 9 BFA-VG zu prüfen. Nach § 9 Abs 1 BFA-VG ist (ua) die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, die in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingreift, nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei Beurteilung dieser Frage ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0198).

 

Gemäß Art 8 Abs 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Art 8 Abs 2 EMRK legt fest, dass der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft ist, soweit er gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

 

Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG insbesondere Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war (Z 1), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (Z 2), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens (Z 3), der Grad der Integration (Z 4), die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden (Z 5), die strafgerichtliche Unbescholtenheit (Z 6), Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts (Z 7), die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (Z 8) und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (Z 9), zu berücksichtigen.

 

Bei der vorzunehmenden Interessenabwägung ist zu berücksichtigen, dass der BF zwar keine relevante Bindung zu Österreich hat, sich aber zur Zeit seiner Verhaftung schon mehr als zehn Jahre lang in Italien aufgehalten hatte, wo ihm ein unbefristeter Aufenthaltstitel erteilt worden war. Er hat daher ein entsprechend großes Interesse an einem Verbleib in Italien, zumal dort enge familiäre Bindungen zu seiner Frau und seinem Sohn bestehen. Die Aufrechterhaltung des Kontakts zu letzterem mittels moderner Kommunikationsmittel (Telefon, Internet etc) ist aufgrund von dessen geringem Alter kaum möglich (VwGH 17.04.2013, 2013/22/0088); er bedarf zu seinem Wohl vielmehr persönlicher Kontakte zu beiden Elternteilen (vgl § 138 Z 9 ABGB).

 

Die Erwerbstätigkeit des BF in Italien und das Vorhandensein einer Wohnung in XXXX lassen auf eine gewisse Integration in die dortige Gesellschaft schließen. Die dafür wesentliche soziale Komponente wird zwar durch die vom BF begangenen Eigentumsdelikte erheblich beeinträchtigt; dabei ist aber zu berücksichtigen, dass er nur einmal strafgerichtlich verurteilt wurde, dass seine Straftaten bei seiner Verhaftung schon mehrere Jahre zurücklagen und dass er sich seither wohlverhalten hat. Trotz der schweren Eigentumsdelinquenz mit zahlreichen, professionell und arbeitsteilig ausgeführten nächtlichen Wohnungseinbrüchen ist die Wiederholungsgefahr vergleichsweise gering, zumal der BF in Italien bis zu seiner Verhaftung erwerbstätig war und auch wieder einen Arbeitsplatz (und damit ein regelmäßiges Einkommen) in Aussicht hat. Außerdem ist die erhöhte spezialpräventive Wirkung des Erstvollzugs zu berücksichtigen. Der BF wurde vor dem urteilsmäßigen Strafende bedingt entlassen werden und kann nach der Haftentlassung in ein stabiles soziales Umfeld zurückkehren. Er hat zwar schon aufgrund seiner Albanischkenntnisse und des Umstands, dass er in Albanien, wo seine Eltern nach wie vor leben, aufwuchs und dort die Schulzeit verbrachte, nach wie vor Bindungen zu seinem Herkunftsstaat, die allerdings aufgrund seiner langen Abwesenheit sicher geschwächt sind. Den Behörden anzulastende überlange Verfahrensverzögerungen liegen nicht vor.

 

Trotz des großen öffentlichen Interesses an der Verhinderung von Eigentumskriminalität und am Schutz der öffentlichen Ordnung greift die Rückkehrentscheidung bei gewichtender Abwägung aller Umstände unverhältnismäßig in das Privat- und Familienleben des seit langem rechtmäßig in Italien aufhältigen BF ein. Sein privates Interesse an einem Verbleib dort überwiegt das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen ihn ist daher gemäß § 52 Abs 1 und 6 FPG iVm § 9 BFA-VG nicht zulässig.

 

Wenn ein Fremder sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, ist gemäß § 58 Abs 1 AsylG von Amts wegen die Erteilung einer "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" gemäß § 57 AsylG zu prüfen. Da sich der BF derzeit jedoch nicht mehr im Bundesgebiet aufhält, ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG nicht amtswegig zu prüfen, ebensowenig die eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art 8 EMRK gemäß § 55 AsylG. Gemäß § 58 Abs 2 AsylG ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG überhaupt nur dann von Amts wegen zu prüfen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs 1 bis 3 BFA-VG rechtskräftig auf Dauer für unzulässig erklärt wird. Der vom BFA getroffene Abspruch über die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG war angesichts der zugleich erlassenen Rückkehrentscheidung von vornherein verfehlt (VwGH 21.12.2017, Ra 2017/21/0234).

 

Da die Erlassung eines Einreiseverbots gemäß § 53 Abs 1 FPG eine Rückkehrentscheidung voraussetzt, kann aufgrund der Aufhebung der Rückkehrentscheidung auch kein Einreiseverbot gegen den BF erlassen werden. Der angefochtene Bescheid ist daher in Stattgebung der Beschwerde ersatzlos aufzuheben.

 

Zum Entfall der mündlichen Verhandlung:

 

Da bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der angefochtene Bescheid aufzuheben ist, kann eine mündliche Verhandlung gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG entfallen.

 

Zu Spruchteil B.:

 

Die Revision gemäß Art 133 Abs 4 B-VG ist zuzulassen, weil - soweit überblickbar - keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dazu vorliegt, welche Kriterien (insbesondere im Hinblick auf eine Aufenthaltsverfestigung oder eine besonders lange Aufenthaltsdauer iSd § 9 Abs 4 bis 6 BFA-VG) bei der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 6 iVm Abs 1 FPG gegen einen in einem anderen Mitgliedstaat langjährig rechtmäßig niedergelassenen Drittstaatsangehörigen maßgeblich sind.

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