AsylG 2005 §34
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art.133 Abs4
VwGVG §28 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §34
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art.133 Abs4
VwGVG §28 Abs2
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2014:W216.1433627.1.00
Spruch:
W216 1433627-1/11E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Marion STEINER als Einzelrichterin über die Beschwerde des minderjährigen XXXX, StA: Russische Föderation, vertreten durch die Mutter XXXX, diese vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Clemens Lahner, Burggasse 116, 1070 Wien gegen den Bescheid des Bundesasylamts vom XXXX, Zl. XXXX, zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich des Spruchpunktes I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 17.09.2015 erteilt.
IV. Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 28 Abs. 5 VwGVG ersatzlos behoben.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang
1. Der Vater des Beschwerdeführers, XXXX, reiste am 24.10.2005 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Asylantrag.
Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 21.11.2006, Zl. 05 17.995-BAW, wurde diesem gemäß § 7 AsylG 1997 Asyl gewährt und gemäß § 12 AsylG 1997 festgestellt, dass ihm damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Der Bescheid wurde am 27.11.2006 durch Hinterlegung zugestellt und erwuchs nach Ablauf der Rechtsmittelfrist in Rechtskraft.
2. Die Mutter des Beschwerdeführers, Beschwerdeführerin zu XXXX, reiste von Polen aus kommend am 31.05.2007 gemeinsam mit ihrer minderjährigen Tochter, der Schwester des Beschwerdeführers und Beschwerdeführerin zu XXXX, aufgrund einer "Dublin-II-Übernahmeerklärung" Österreichs, in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte für sich und als gesetzliche Vertreterin für ihre Tochter - gestützt auf das Fluchtvorbringen des Ehemannes bzw. Vaters - am selben Tag Anträge auf internationalen Schutz.
Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom XXXX, Zl. XXXX, wurde dem Antrag der Mutter des Beschwerdeführers stattgegeben, ihr gemäß § 3 iVm § 34 Abs 2 AsylG 2005 Asyl gewährt und gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 festgestellt, dass ihr kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Ebenso wurde dem Antrag der Schwester des Beschwerdeführers mit Bescheid des Bundesasylamtes vom XXXX, Zl. XXXX, stattgegeben und auch ihr gemäß § 3 iVm § 34 Abs 2 AsylG 2005 Asyl gewährt sowie gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 festgestellt, dass ihr kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Beide Bescheide wurden am 07.02.2008 durch persönliche Übernahme durch die Mutter des Beschwerdeführers zugestellt und erwuchsen nach Ablauf der Rechtsmittelfrist in Rechtskraft.
3. Am XXXX wurde eine weitere Schwester des Beschwerdeführers, die Beschwerdeführerin zu XXXX, gemeinsame Tochter der Mutter des Beschwerdeführers und ihres damaligen Ehegattens, des Vaters des Beschwerdeführers, in Wien geboren. Die Mutter des Beschwerdeführers stellte am 12.06.2008 als gesetzliche Vertreterin für ihre minderjährige Tochter einen Antrag auf internationalen Schutz.
Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom XXXX, Zl. XXXX, wurde diesem Antrag stattgegeben und der Schwester des Beschwerdeführers gemäß § 3 iVm § 34 Abs 2 AsylG 2005 Asyl gewährt und gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 festgestellt, dass ihr kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Der Bescheid wurde am 27.06.2008 durch persönliche Übernahme durch die Mutter des Beschwerdeführers zugestellt und erwuchs nach Ablauf der Rechtsmittelfrist in Rechtskraft.
4. Am XXXX wurde eine weitere Schwester des Beschwerdeführers, die Beschwerdeführerin zu XXXX, als Kind der Mutter des Beschwerdeführers in Wien geboren. Aus der Geburtsurkunde vom 23.03.2010 des Standesamtes Wien-Favoriten geht nicht hervor, wer ihr Vater ist. Als ihre gesetzliche Vertreterin stellte die Mutter des Beschwerdeführers am 23.03.2010 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Diesem Antrag wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom XXXX, Zl. XXXX, stattgegeben und der Schwester des Beschwerdeführers gemäß § 3 iVm § 34 Abs 2 AsylG 2005 Asyl gewährt und gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 festgestellt, dass ihr kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Der Bescheid wurde am 08.04.2010 durch persönliche Übernahme durch die Mutter des Beschwerdeführers zugestellt und erwuchs nach Ablauf der Rechtsmittelfrist ebenso in Rechtskraft.
5. Aus einer sich im Akt des Bundesasylamtes befindlichen Vergleichsausfertigung des Bezirksgerichtes XXXX vom XXXX geht hervor, dass die Ehe zwischen der Mutter des Beschwerdeführers und seinem Vater, XXXX, einvernehmlich geschieden worden ist.
6. Der Vater des Beschwerdeführers heiratete erneut und wurde am
XXXX im Beschwerdeverfahren gegen einen negativen Asylbescheid seiner neuen Ehefrau als Zeuge einvernommen.
Da sich dieser im Rahmen seiner Zeugenaussage dermaßen in Widersprüche verwickelte, wurde mit Schreiben des Asylgerichtshofes an das Bundesasylamt vom 25.11.2010 eine amtswegige Wiederaufnahme seines Verfahrens angeregt.
Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom XXXX, Zl. XXXX, wurde sein zur Zahl XXXX geführtes Asylverfahren gemäß § 69 Abs 1 Z 1 iVm Abs 3 AVG als in erster Instanz anhängiges Verfahren wieder aufgenommen (Spruchpunkt I.). Der Asylantrag vom 24.10.2005 wurde gemäß § 7 AsylG 1997 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation wurde gemäß § 8 Abs 1 AsylG 1997 für zulässig erklärt (Spruchpunkt III.) und der Vater des Beschwerdeführers gemäß § 10 Abs 1 Z 2 AsylG 2005 idgF aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen (Spruchpunkt IV.).
7. Unter Hinweis auf die widersprüchlichen Angaben des Vaters des Beschwerdeführers wurden auch die Verfahren der Mutter (Zl. XXXX) sowie der Schwestern (Zln. XXXX, XXXX und XXXX) mit den jeweiligen Bescheiden des Bundesasylamtes vom XXXX gemäß § 69 Abs 1 Z 1 iVm Abs 3 AVG als in erster Instanz anhängige Verfahren wieder aufgenommen (Spruchpunkte I. der angefochtenen Bescheide). Sämtliche Anträge auf internationalen Schutz der Mutter des Beschwerdeführers sowie seiner Schwestern bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten wurden gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF abgewiesen (Spruchpunkte II.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurden auch die Anträge bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkte III.) und die Mutter des Beschwerdeführers sowie seine Schwestern gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen (Spruchpunkte IV.).
Gegen diese Bescheide erhoben die Mutter sowie Schwestern des Beschwerdeführers fristgerecht eine gemeinsame Beschwerde.
Mit den Entscheidungen vom XXXX betreffend die Mutter des Beschwerdeführers, Zl. XXXX, und die Schwestern, Zln. XXXX, XXXX und XXXX, wies der Asylgerichtshof sämtliche Beschwerden der Mutter und der Schwestern zurück.
Begründend führte der Asylgerichtshof in den gleichlautenden Entscheidungen hinsichtlich der Abweisung der Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten aus, dass sich das Vorbringen der Mutter des Beschwerdeführers als unglaubwürdig erwiesen habe und davon auszugehen sei, dass weder ihr, noch ihren minderjährigen Töchtern in der Russischen Föderation eine Verfolgungsgefahr iSd Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) drohe. Da die Mutter des Beschwerdeführers arbeitsfähig sei und vor dem Hintergrund vorhandener sozialer und familiärer Anknüpfungspunkte seien zudem keine Umstände ersichtlich geworden, die ein Abschiebungshindernis iSd Art. 3 EMRK dargestellt hätten. Letztlich sei auch hinsichtlich der Ausweisungsentscheidung nicht auf das Vorliegen einer Verletzung des Art. 8 EMRK zu erkennen gewesen.
Gegen diese Entscheidungen des Asylgerichtshofes erhoben die Mutter sowie Schwestern des Beschwerdeführers Beschwerden an den Verfassungsgerichtshof, in denen die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (Art. I Abs. 1 Bundesverfassungsgesetz BGBI. 390/1973) sowie auf ein Familien- und Privatleben iSd Art. 8 EMRK geltend gemacht wurden. Begründend wurde dazu im Wesentlichen ausgeführt, dass die Mutter des Beschwerdeführers mittlerweile alleinerziehende Mutter dreier Töchter sei. Dieser Umstand werde in Tschetschenien als Schande betrachtet, sodass die Mutter des Beschwerdeführers bei einer Rückkehr dorthin nicht nur diskriminiert werden würde, sondern auch ihr Leben in Gefahr wäre. Darüber hinaus habe der Asylgerichtshof eine falsche Gewichtung im Rahmen der Interessensabwägung iSv Art. 8 EMRK vorgenommen und sei man in diesem Punkt daher zu einem unrichtigen Ergebnis gekommen.
8. Am XXXX wurde der Beschwerdeführer, gemeinsamer Sohn der Beschwerdeführerin zu XXXX und ihres ehemaligen Ehegattens, in Österreich geboren. Die Mutter des Beschwerdeführers stellte am 11.02.2013 als gesetzliche Vertreterin für ihn einen Antrag auf internationalen Schutz.
Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom XXXX, Zl. XXXX, wurde dieser Antrag auf internationalen Schutz des Beschwerdeführers bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde auch der Antrag bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt II.) und der Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen (Spruchpunkt III.).
Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer durch seine Mutter mit Schriftsatz vom 05.03.2014, beim Bundesasylamt am 07.03.2014 eingelangt, fristgerecht Beschwerde.
9. Mit Erkenntnis vom XXXX, XXXX, erkannte der Verfassungsgerichtshof gemäß Art. 144 B-VG in der mit 01.01.2014 in Kraft getretenen Fassung, dass die Mutter des Beschwerdeführers sowie seine Schwestern durch die angefochtenen Entscheidungen des Asylgerichtshofes, soweit ihnen der Status eines subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt und sie aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russischen Föderation ausgewiesen wurden, in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (Art. I Abs. 1 Bundesverfassungsgesetz BGBL. Nr. 390/1973) verletzt wurden. Insoweit wurden die Entscheidungen der Mutter des Beschwerdeführers sowie seiner Schwestern aufgehoben. Im Übrigen wurde die Behandlung der Beschwerden abgelehnt.
Der Verfassungsgerichtshof hielt fest, dass die Beschwerden zulässig und soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und die Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation wenden, auch begründet gewesen seien.
Unter Berücksichtigung der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, wonach Art. I Abs. 1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen, enthalte und der Ansicht, dass eine Entscheidung dann gegen dieses durch Art. I Abs. 1 leg.cit. gewährleistete subjektive Recht eines Fremden verstoße, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruhe, wenn dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt werde, der dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe oder wenn bei Fällung einer Entscheidung Willkür geübt werde, sei dem Asylgerichtshof jedoch ein Fehler unterlaufen.
Vorweg sei festzuhalten, dass der Asylgerichtshof seine Entscheidung auf die vom Bundesasylamt herangezogenen Länderberichte gestützt und die persönliche Situation der Mutter des Beschwerdeführers auch berücksichtigt habe. Insofern sei die Beschwerdebehauptung, der Asylgerichtshof habe in seiner Entscheidung die Situation der Mutter des Beschwerdeführers "völlig außer Acht" gelassen, unrichtig gewesen. Der Ansicht des Asylgerichtshofes, wonach die Mutter des Beschwerdeführers im Falle einer Rückkehr mit ihren Kindern nach Tschetschenien, die Unterstützung ihrer Eltern in Anspruch nehmen könne, widerspreche jedoch den dezidierten Ausführungen der Mutter des Beschwerdeführers, dass sie dies als nunmehrige alleinstehende Mutter sowie als Mutter eines unehelichen Kindes eben nicht mehr tun könne, da ihre Situation von der Familie als Schande betrachtet werde. Auf diese Behauptungen der Mutter des Beschwerdeführers sei der Asylgerichtshof nicht im Einzelnen eingegangen, sondern habe er dies mit einem allgemeinen Hinweis auf die Länderberichte abgetan, die jedoch keine Berichte zur Situation von alleinstehenden Müttern unehelicher Kinder in Tschetschenien enthalten würden. Der Asylgerichtshof wäre daher verpflichtet gewesen, hiezu nähere Ermittlungen (zB über Verbindungsbeamte oder Vertrauensanwälte) anzustellen.
Dieses Unterlassen der Ermittlungstätigkeit in einem wesentlichen Punkt habe dazu geführt, dass die Mutter des Beschwerdeführers hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten sowie der Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden sei. Da dieser Mangel gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auch auf die Entscheidungen der Schwestern des Beschwerdeführers durchgeschlagen habe, seien auch deren Entscheidungen im selben Umfang aufzuheben gewesen.
10. Am 09.05.2014 wurde seitens des Bundesverwaltungsgerichtes eine Anfrage bezüglich der Situation von alleinstehenden Frauen mit unehelichen Kindern in der Russischen Föderation/Tschetschenien (Unterstützung durch die Familie nach Rückkehr; Verstoßung wegen der Schande des unehelichen Kindes; Diskriminierung oder Tötung in der Gesellschaft; Sorgerecht für Kinder, auch von anderen Männern, für die Familie des Ex-Mannes) an ACCORD gestellt.
Am 03.06.2014 langte die diesbezügliche Anfragebeantwortung XXXX beim Bundesverwaltungsgericht ein.
Diese sowie Feststellungen zur allgemeinen (politischen, wirtschaftlichen und sozialen) Situation in Tschetschenien (Stand: Mai 2014) wurde dem Beschwerdeführer und seiner Mutter und seinen Schwestern, Beschwerdeführerinnen zu XXXX, XXXX, XXXX, XXXX, wie auch dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, im Rahmen einer Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme übermittelt und ihnen die Möglichkeit zur Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme gegeben.
10. Mit Schriftsatz vom 07.07.2014 legten die Beschwerdeführer folgende Unterlagen vor:
- eine Schulnachricht einer Schwester des Beschwerdeführers vom 31.01.2014 der öffentlichen Volksschule XXXX;
- ein Jahreszeugnis einer Schwester des Beschwerdeführers vom 28.06.2013 der öffentlichen Volksschule XXXX;
- eine schriftliche Beurteilung der Vorschulklasse betreffend eine Schwester des Beschwerdeführers (undatiert);
- Besuchsbestätigungen des Kindergartens XXXX vom 09.05.2014 betreffend zweier Schwestern des Beschwerdeführers und
- eine Deutschkurs-Besuchsbestätigung vom 04.07.2014 der Mutter des Beschwerdeführers.
Weiters wurde zu den amtswegig beigeschafften Ländermaterialen seitens der Beschwerdeführer Stellung genommen und ausgeführt, dass die erhobenen Informationen über die Situation in der Heimat der Beschwerdeführer das beschwerdegegenständliche Vorbringen untermauern würden. Ein Bericht auf Seite 1 der ACCORD-Anfragebeantwortung von Frau XXXX bestätige, dass die Mutter des Beschwerdeführers als Frau mit einem unehelichen Kind im Falle einer Rückkehr nach Tschetschenien mit hoher Wahrscheinlichkeit von ihrer Familie ausgestoßen werden und in einer überaus patriarchal geprägten Gesellschaft in eine ausweglose Lage geraten würde. Zudem bestehe für die Mutter des Beschwerdeführers die Gefahr von ihrer in Tschetschenien lebenden Familie in Form eines "Ehrenmordes" getötet zu werden, um die "Schande" der Geburt eines unehelichen Kindes zu tilgen. Ebenso weise ein Bericht auf den Seiten 25ff der Feststellungen zur Lage in Tschetschenien und zur Relokationsmöglichkeit von Tschetschenen in der Russischen Föderation darauf hin, dass die Mutter des Beschwerdeführers aufgrund ihrer Situation im Falle einer Rückkehr in Lebensgefahr geraten würde. Zudem könne die Mutter des Beschwerdeführers laut den Ländermaterialien nicht auf die effektive Unterstützung seitens der russischen bzw. tschetschenischen Behörden zählen. Auf Grundlage der vorliegenden Informationen sei festzuhalten, dass nicht nur die Rechte der Mutter des Beschwerdeführers im Falle einer Rückkehr verletzt werden würden, sondern auch die fundamentalen Interessen ihrer Kinder.
Aus diesen Gründen sei dem Beschwerdeführ und seiner Mutter sowie den Schwestern subsidiärer Schutz zu gewähren.
11. Der Mutter des Beschwerdeführers sowie seinen drei Schwestern wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom heutigen Tag gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation zuerkannt und gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 befristete Aufenthaltsberechtigungen als subsidiär Schutzberechtigte erteilt. Gleichzeitig wurden die Ausweisungen aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation (Spruchpunkte III. der angefochtenen Bescheide) ersatzlos aufgehoben.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1.1. Feststellungen zur Person und zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer heißt XXXX, ist ein am XXXX in Österreich geborener russischer Staatsbürger und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe. Er ist der Sohn der Beschwerdeführerin zu XXXX und ihres früheren Ehemannes, XXXX, und der Bruder der Beschwerdeführerinnen zu XXXX, XXXX, XXXX.
Die Mutter des Beschwerdeführers heißt XXXX, ist eine am XXXX geborene russische Staatsbürgerin und Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe. Sie reiste am 31.05.2007 im Zuge einer Überstellung aus Polen gemeinsam mit der ältesten Schwester des Beschwerdeführers in das österreichische Bundesgebiet ein. Die Mutter des Beschwerdeführers ist die alleinerziehende Mutter des Beschwerdeführers und seiner drei Schwestern.
Die Mutter des Beschwerdeführers war mit XXXX im Zeitraum von 2004 bis 2008 verheiratet.
Die Großmutter des Beschwerdeführers lebt in Tschetschenien und ist verheiratet, jedoch nicht mit dem Großvater des Beschwerdeführers. Dieser ist bereits verstorben, als die Mutter des Beschwerdeführers noch ein Kind war. Geschwister hat die Mutter des Beschwerdeführers keine.
Der Mutter des Beschwerdeführers und der ältesten Schwerster des Beschwerdeführers wurde - gestützt auf das Fluchtvorbringen des früheren Ehemannes bzw. Vaters - mit Bescheiden des Bundesasylamtes vom XXXX im Rahmen eines Familienverfahrens der Status eines Asylberechtigten zuerkannt und ihnen kam damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zu. Ebenso wurde den beiden weiteren Schwestern des Beschwerdeführers, mit Bescheiden vom XXXX und vom XXXX, derselbe Status zugesprochen und kam auch ihnen damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zu.
Mit den Bescheiden des Bundesasylamtes vom XXXX wurden ihre Verfahren als in erster Instanz anhängige Verfahren wieder aufgenommen (Spruchpunkte I.), ihre Anträge sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten (Spruchpunkte II.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkte III.) abgewiesen und die Mutter sowie Schwestern des Beschwerdeführers aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen (Spruchpunkte IV.).
Die dagegen erhobenen Beschwerden wurden mit den Entscheidungen des Asylgerichtshofes vom XXXX zurückgewiesen, womit sämtliche Spruchpunkte aller Bescheide in Rechtskraft erwuchsen.
Aufgrund erhobener Beschwerden an den Verfassungsgerichtshof, wurden die Entscheidungen der Mutter des Beschwerdeführers sowie seiner Schwestern in weiterer Folge insoweit aufgehoben, als ihnen der Status eines subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt worden war und sie aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russischen Föderation ausgewiesen wurden.
Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid des Bundesasylamtes vom XXXX wurde dem Antrag des Beschwerdeführers sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkte II.) abgewiesen und der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen (Spruchpunkte IV.).
Es konnte nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer in der Russischen Föderation, konkret in Tschetschenien, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine an asylrelevante Merkmale anknüpfende aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität - oder eine sonstige Verfolgung maßgeblicher Intensität - droht.
1.2. Zur Lage in Tschetschenien wird folgendes Relevantes wie folgt festgestellt:
Politische Lage in der Russischen Föderation:
Aus den Dumawahlen vom 4. Dezember 2011 ging die Kremlpartei "Einiges Russland" erneut als Sieger hervor. Die Partei musste zwar Verluste hinnehmen, verfügt in der Duma aber weiterhin über eine deutliche Mehrheit. Wie auch die internationale Wahlbeobachtung durch ODIHR (das OSZE-Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte) feststellte, waren die Wahlen durch erhebliche Manipulationen überschattet. Die Präsidentschaftswahlen vom 4. März 2012 entschied (nach vier Jahren "Pause" erneut) Wladimir Putin für sich. Seit seinem Amtsantritt am 7. Mai wurden bis dato eine Reihe von Gesetzen verabschiedet bzw. verschärft, die den Druck auf Opposition und kritische Zivilgesellschaft erhöhen sowie deren Aktivitäten und Tätigkeit behindern und potentiell einschränken. Beispiele für solche Gesetze sind die Verschärfung des Demonstrationsrechts und die nun bestehende Verpflichtung für russische Nichtregierungsorganisationen, sich als "ausländische Agenten" zu registrieren, wenn sie sich politisch betätigen und finanzielle Mittel aus dem Ausland erhalten. Bereits vor diesen Gesetzesverschärfungen wurden einige Grundrechte in Russland, wie z. B. Versammlungs- und Meinungsfreiheit, nur bedingt und selektiv gewährt. (AA 10.6.2013)
Als grundsätzlich positiv wurden die Erleichterung der Parteienregistrierung und die Wiedereinführung von Gouverneurswahlen in Russland aufgenommen, die durch jeweilige Gesetzesänderungen im Mai und Juni 2012 beschlossen wurden. Inzwischen konnten sich auch ausgewiesene Oppositionsparteien offiziell registrieren, denen dies zuvor beständig verweigert worden war. Solche Parteien sind jedoch weiterhin vielfältigen Behinderungen und behördlichem Druck ausgesetzt. Bei den Gouverneurswahlen führen Vorbehalts-regelungen (sogenannte "Filter") dazu, dass das Wahlrecht in der Praxis Einschränkungen unterliegt. (AA 10.6.2013)
Die russische Führung hat erklärt, dass die Modernisierung Russlands auch künftig fortgesetzt werden soll. Damit gemeint ist vor allem die wirtschaftlich-technische Modernisierung des Landes. Politisch ist in der Praxis auf allen Ebenen weiterhin ein autoritäres Machtverständnis verbreitet. Das Land bleibt politisch stark zentralisiert. (AA 10.6.2013)
Als nach wie vor problematisch gelten die Defizite in Justiz und Gerichtswesen, die häufig der Einflussnahme durch politische Macht und Interessengruppen unterliegen. Nicht selten werden Kritiker oder anderweitig unliebsame Personen mit Gerichtsverfahren überzogen, in denen sie nicht auf einen fairen Prozess vertrauen können. (AA 10.6.2013)
Politische Lage in Tschetschenien:
Die mehrheitlich von Muslimen bewohnte Republik Tschetschenien liegt am Nordabhang des Großen Kaukasus. Nach dem Zerfall der Sowjetunion1991 erklärte die Kaukasusrepublik einseitig ihre Unabhängigkeit. Vergeblich versuchte Moskau, durch Unterstützung lokaler Oppositionsgruppen Präsident Dschochar Dudajew zu stürzen und so seine Interessen in der erdölreichen Region zu sichern. 1996 schließlich marschierten russische Truppen ein und eroberten - unter Inkaufnahme vieler ziviler Opfer und enormer Zerstörungen - zwar die Hauptstadt Grosny, es gelang ihnen aber nicht, die Republik zu befrieden. Trotz Truppenrückzug und Abschluss eines Friedensvertrages blieb die politische Lage instabil. 1999 marschierten erneut russisch Truppen in Tschetschenien ein. (GEO Themenlexikon 2006)
Die zwei Kriege in Tschetschenien stehen für die schlimmsten Gewaltereignisse im ehemals sowjetischen Raum. Der erste Krieg von 1994-1996 richtete sich aus russischer Sicht gegen militante Separatisten. Diese tschetschenische Sezession war von nationalen, kaum von religiösen Motiven bestimmt. Doch schon am ersten Krieg beteiligten sich Mujahedin aus arabischen Ländern und bekundeten islamische Solidarität mit der Sezessionsbewegung. Nach dem Waffenstillstand und in einer kurzen chaotischen Periode faktischer Unabhängigkeit Tschetscheniens begann im bewaffneten Untergrund ein Prozess ideologischer Transformation - mit dem Ergebnis eines transethnischen regionalen Jihad im Nordkaukasus. Der zweite Krieg wurde im Jahr 2000 vom neuen russischen Präsidenten Putin zum Kampf gegen den internationalen islamischen Terrorismus deklariert. (SWP 26.4.2013) Kadyrow und dessen Ombudsmann Nurdi Nukhadzhiev kritisierten vehement das Verhalten der russischen Truppen während der ersten Jahre des zweiten Tschetschenienkrieges und beschuldigten diese schwerwiegender Menschenrechtsverstöße, unter anderem des Verschwindenlassens von Personen. (ICG 19.10.2012) 2007 besiegelte der letzte tschetschenische Untergrundpräsident Doku Umarov die ideologische Transformation und geografische Ausweitung des Wiederstands mit der Ausrufung eines Kaukausus-Emirats, das mit seiner Jihad-Agenda über Tschetschenien hinaus reichte. Damit wurde Tschetschenien, mit dem der Nordkaukasus fünfzehn Jahre lang gleichgesetzt worden war, nicht mehr als das Epizentrum von Gewalt und Aufstand in der Region wahrgenommen und verschwand weitestgehend aus der Berichterstattung. 2009 hob Moskau den zehn Jahre zuvor über die Republik verhängten Sonderstatus als Zone der Terrorismusbekämpfung auf. (SWP 26.4.2013)
Die politische Situation in Tschetschenien wandelte sich nach Jahren des Krieges mit der Machtübernahme des Präsidenten Achmad Kadyrow (sein Sohn Ramzan Kadyrow bekleidet seit dem 2. März 2007 das Präsidentenamt), der später bei einem Attentat getötet wurde. Nach den Parlamentswahlen am 27. November 2004 hat sich die Lage weiter stabilisiert (BAMF-IOM Juni 2013). Unter der autokratischen Herrschaft seines jungen Präsidenten Ramsan Kadyrow vollzog sich in der Republik ein Prozess des Wiederaufbaus, der bis heute andauert. Von einigen russischen Kommentatoren wurde dem jungen Autokraten bescheinigt, eine effektivere Sezession Tschetscheniens aus russischer Oberherrschaft vollzogen zu haben, als es militanten Separatisten je gelungen wäre. (SWP 26.4.2013) Heute wird die Lage von den jetzigen Machthabern größtenteils kontrolliert. Kleinere bewaffnete Konflikte finden nach wie vor statt, haben jedoch meist einen lokal begrenzten Charakter (BAMF-IOM Juni 2013). Vertreter russischer und internationaler NGOs zeichnen ein insgesamt düsteres Lagebild. Gewalt und Menschenrechtsverletzungen bleiben dort an der Tagesordnung, es herrscht ein Klima der Angst und Einschüchterung. (AA 10.6.2013)
Während Ramzan Kadyrow pathetisch Loyalität gegenüber dem Kreml bekundet und in Grosny Putin-Ikonen ausstellt, macht der Gewaltherrscher ganz und gar sein eigenes Ding. Dazu gehört eine eigenwillige Kulturpolitik, mit der er seinen Gegnern im islamistischen Untergrund den Wind aus den Segeln nehmen will. (SWP 26.4.2013) Er versucht durch Förderung einer moderaten islamischen Identität einen gemeinsamen Nenner für die fragmentierte, tribalistische Bevölkerung zu schaffen. Politische Beobachter meinen, Ersatz für Kadyrow zu finden wäre sehr schwierig da er alle potentiellen Rivalen ausgeschalten habe und über privilegierte Beziehungen zum Kreml und zu Präsident Putin verfüge. Die Macht von Ramsan Kadyrow, der seit Anfang September 2010 die neue Amtsbezeichnung "Oberhaupt" Tschetscheniens führt, ist in Tschetschenien unumstritten. (ÖB Moskau September 2013) 2012 restrukturierte Kadyrow die tschetschenische Regierung. (RFL/RL 17.5.2012)
Sicherheitslage im Nordkaukasus:
Die Sicherheitslage im Nordkaukasus ist insgesamt weiterhin angespannt, auch wenn zwischen den einzelnen Entitäten z.T. zu differenzieren ist. (vgl. UKFCO 10.4.2014; AI 23.5.2013) Während für Tschetschenien durchwegs eine Verbesserung der allgemeinen Sicherheitslage konstatiert werden kann, ist die Lage besonders in Dagestan weiterhin volatil. (vgl. auch JF 4.12.2013) Auch die Situation in Teilen Kabardino-Balkariens ist gespannt. In manchen Regionen konstatieren Beobachter auch ein Übergreifen der Gewalt auf bisher ruhige Gebiete. In Tschetschenien ist es seit Jahresbeginn 2010 zu einem spürbaren Rückgang von Rebellen-Aktivitäten gekommen. Diese werden durch Anti-Terror Operationen in den Gebirgsregionen massiv unter Druck gesetzt (teilweise bewirkte dies ein Ausweichen der Kämpfer in die Nachbarrepubliken Dagestan und Inguschetien) (ÖB Moskau September 2013).
Dagestan ist weiterhin die Region im Nordkaukasus, in der die meiste Gewalt herrscht; 60 Prozent aller Todesfälle ereignen sich in diesem Gebiet. (USDOS 27.2.2014) Aber auch in Kabardino-Balkarien, Tschetschenien und Inguschetien kommt es zu Zwischenfällen, so dass von einer Normalisierung nicht gesprochen werden kann. Nur vereinzelt ist bisher von Attentaten und anderen extremistischen Straftaten aus den übrigen Republiken des Förderalbezirks Nordkaukasus zu hören. Anschlagsziele der Aufständischen sind vor allem Vertreter der Sicherheitskräfte und anderer staatlicher Einrichtungen sowie den Extremisten nicht genehme muslimische Geistliche. Opfer gibt es aber immer wieder auch unter der Zivilbevölkerung. (AA 10.6.2013; vgl. auch BAMF 16.9.3013, BAMF 17.2.2014, BAMF 7.4.2014, SWP 26.4.2013; RFE/RL 16.9.2013; RFE/RL 30.6.2013)
Die schlechte Sicherheitslage ist auf eine Kombination unterschiedlicher Faktoren zurückzuführen: niedriger Grad wirtschaftlicher Entwicklung, verlorenes Vertrauen in die Politik Moskaus sowie ethnische Rivalitäten, ebenso Separatismus, innerethnische Konflikte, jihadistische Bewegungen, Blutrache, Kriminalität, exzessive Gewalt durch Sicherheitskräfte und terroristische Aktivitäten. (USDOS 27.2.2014) Hinzu kommen noch regional spezifische Strukturen und Probleme; im Nordkaukasus herrscht ein kompliziertes Beziehungsgeflecht zwischen russischen Truppen, kremltreuen lokalen Einheiten, islamistischen Rebellen und kriminellen Banden: (ÖB Moskau September 2013)
Seit dem zweiten Tschetschenienkrieg ist Russland massiv mit Militär, Polizei und Geheimdiensten in der Nordkaukasus-Region präsent. Mit der Begründung, die verfassungsmäßige Ordnung in Tschetschenien wiederherzustellen und den islamistischen Terrorismus zu bekämpfen, wurde eine Politik legitimiert, die darauf zielte, die Rebellen physisch zu vernichten. Zwischen unbeteiligter Bevölkerung und nichtstaatlichen Gewaltakteuren wurde nicht unterschieden, Rechtsbrüche nicht geahndet. All dies schürte eine Atmosphäre der Willkür und Rechtlosigkeit, die die Bevölkerung in Ohnmacht und Wut versetzte. Angesichts der Rücksichtslosigkeit der russischen Sicherheitsorgane im "Kampf gegen den Terrorismus" wächst innerhalb der Bevölkerung des Nordkaukasus die Sympathie für gewaltsame Formen des Widerstands. Wegen der allgemeinen Perspektivlosigkeit erhöht sich, insbesondere unter jungen Menschen, die Bereitschaft, sich den islamistischen Gruppen anzuschließen. Die Strategie Moskaus ist offenkundig kontraproduktiv; sie erreicht das Gegenteil dessen, was sie beabsichtigt. Eine weitere Ursache für die Gewalt sind die zunehmenden Spannungen und Scharmützel zwischen den verschiedenen islamistischen Fraktionen in der Region. Die Gewalt im Nordkaukasus ist auch und vor allem Ausdruck der anhaltenden sozio-ökonomischen und politischen Krise im Nordkaukasus. Die Region leidet seit langem unter Armut, Korruption und Vetternwirtschaft. (vgl. auch JF 4.12.2013) Wirtschaftlich ist der Nordkaukasus von Moskau abhängig. Die von Moskau eingesetzten Regierungen sind mit korrupten und kriminellen Netzwerke verquickt und an einer Verbesserung der Lage nicht wirklich interessiert. Insbesondere im Osten des Nordkaukasus verstärken religiöse Spannungen zwischen gemäßigtem und radikalem Islam die Gewalt. Anders als in den westlichen Teilrepubliken hat der Islam im Osten größeren identitätsbildenden Einfluss, radikale Positionen finden hier mehr Anklang. Umgekehrt wachsen innerhalb der Christen in der Region sowie im russischen Kernland selbst die Ressentiments gegen die Völker des Kaukasus. Dies prägt den Umgang mit dem bewaffneten Widerstand und Extremismus und wirkt sich letztlich konfliktverschärfend aus. (Heller, 6.1.2014)
Der ethno-nationalistische Kampf für die Unabhängigkeit Tschetscheniens wird mittlerweile von einem radikal-islamistischen Diskurs innerhalb des bewaffneten Widerstands überformt. Das 2007 von Doku Umarow, dem "Warlord" und selbsternannten Präsidenten "Itschkeriens", ausgerufene islamisch-fundamentalistische "Kaukasus Emirat" gilt zwar als gemeinsames Ziel und ideologische Klammer für die in der Region operierenden militanten, salafistischen Muslim-Bruderschaften (Jamaate). Die Gruppen sind jedoch lokal organisiert und handeln weitgehend autonom. Auch ihre Motive sind sehr unterschiedlich und primär durch die lokalen Bedingungen beeinflusst. (Heller, 6.1.2014) Das "Kaukasus Emirat" wird von Russland, den USA und der UNO als terroristische Organisation eingestuft. (SFH 22.4.2013)
Zwischen 2009 und 2012 gingen etwa 30 Attentate auf das Konto der unter dem losen Dach des "Kaukasus Emirats" agierenden Gruppen. In der ersten Hälfte des Jahres 2013 wurden acht größere Anschläge gezählt, davon allein vier in Dagestan und jeweils zwei in Tschetschenien und Inguschetien. Die Anschläge richteten sich vor allem gegen Staatsbedienstete, Mitarbeiter der lokalen und föderalen Sicherheitsdienste, hohe Regierungsmitglieder sowie gegen offizielle Vertreter eines gemäßigten Sufi-Islam (vgl. auch AI 23.5.2014; ÖB Moskau September 2013). Letztere stützen die säkularen Regierungen im Nordkaukasus und werden ihrerseits von der Moskauer Zentralregierung protegiert. Anschläge gegen Zivilisten sind in letzter Zeit seltener geworden. Nach der Aufhebung des Ausnahmezustands in Tschetschenien 2009 und ein weiteres Mal nach der Protestwelle gegen Putin 2012 hatte Umarow die Jamaate aufgefordert, von Anschlägen auf die Zivilbevölkerung abzusehen, wie etwa 2010 in der Moskauer Metro oder ein Jahr später auf dem Moskauer Flughafen Domodedowo. 2013 wurden allerdings neue Attentate auf "weiche" Ziele angedroht und in die Tat umgesetzt, insbesondere um die Winterolympiade 2014 in Sotschi zu stören. Schon der Terroranschlag auf einen Linienbus im südrussischen Wolgograd im Oktober 2013, bei dem fünf Menschen starben, muss in diesem Zusammenhang gesehen werden. Im Dezember 2013 fallen dem Terror im Bahnhof von Wolgograd durch einen Selbstmordanschlag mindestens 16 Menschen zum Opfer, bei einem Selbstmordanschlag in einem Bus sterben weitere 13 Menschen. (Heller, 6.1.2014)
Das Moskauer Innenministerium schätzt aktuell die Zahl der Untergrundkämpfer in der Nordkaukasus-Region auf 600, organisiert in rund 40 Gruppen mit Schwerpunkt in Dagestan. Weitere 400 Extremisten aus dem Nordkaukasus hätten sich laut dem russischen Inlandsgeheimdienst FSB derzeit islamistischen Gruppen in Syrien angeschlossen (vgl-. auch BAMF 30.9.2013). Der FSB überwachte alle Flug- und Reisebewegungen, um zu verhindern, dass von diesen Extremisten in den nächsten Wochen wieder ein Teil zurückkehrt, um im Vorfeld der Olympischen Spiele in Sotschi Terroranschläge zu verüben. (BAMF 13.1.2014) Mittlerweile kämpfen Zeitungsberichten zufolge mehr als 1000 Söldner aus der Nordkaukasus-Region, insbesondere aus Tschetschenien in Syrien auf der Seite der Islamisten gegen die Regierungsarmee von Bashar al-Assad.
Auf Gewalt durch islamistische Aufständische oder im Zuge von Auseinandersetzungen zwischen Ethnien und Clans reagieren die regionalen und föderalen Behörden weiterhin vor allem mit harter Repression. (AA 10.6.2013) Ende des Jahres 2013 verkündete der Leiter des FSB, Alexander Bortnikow, dass bei 70 Anti-Terror-Aktionen im Nordkaukasus im Jahr 2013 "mehr als 260 Banditen" getötet worden seien. (BAMF 13.1.2014) Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt dreht sich dadurch weiter.
Menschenrechtsorganisationen beklagen, dass im Nordkaukasus Recht und Gesetz auf beiden Seiten missachtet wird und für Täter aus den Reihen der Sicherheitskräfte ein Klima der Straflosigkeit anzutreffen sei. (AA 10.6.2013)
Im gesamten Nordkaukasus gab es 2012 weiterhin regelmäßig Sicherheitseinsätze der Polizeikräfte. Dabei kam es Berichten zufolge häufig zu Menschenrechtsverletzungen wie Verschwindenlassen, rechtswidriger Inhaftierung, Folter und anderen Misshandlungen sowie außergerichtlichen Hinrichtungen. (AI 23.5.2013) Im Nordkaukasus verübten sowohl die staatlichen Behörden als auch die die örtlichen Milizen mehrere außergerichtliche Tötungen durch. (USDOS 27.2.2014)
Nach Angaben der anerkannten unabhängigen NGO "Kawkaski Usel" wurden 2012 mindestens 1.200 Menschen Opfer, darunter 700 Tote, der anhaltenden Konflikte im Nordkaukasus. Bei den Toten soll es sich um 402 Aufständische, 207 Sicherheitskräfte und 91 Zivilisten gehandelt haben. Damit ging die Opferzahl im Vergleich zu 2011 zwar leicht zurück (1378 Opfer, darunter 750 Tote), sie bleibt aber auf einem hohen Niveau. (AA 10.6.2013)
Für die ersten neun Monate des Jahres 2013 berichtet Caucasian Knot 87 getötete Soldaten, 68 getötete Zivilisten und 220 getötete Rebellen im Nordkaukasus. Von staatlicher Seite wurde verlautbart, dass in den ersten neun Monaten des Jahres 2013 Straftaten, die mit Extremismus in Zusammenhang stehen im Nordkaukasus um 40% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum stiegen, jedoch terroristische Angriffe im selben Zeitraum um 10% sanken Dass die von Menschenrechtsorganisationen einerseits und von der Staatsanwaltschaft andererseits angegebenen Zahlen divergieren ist häufig und Zeichen eines Informationskrieges (vgl. auch JF 6.12.2013). Entführungen und Verschwindenlassen gehören weiterhin zu den schwersten Verbrechen, die weiterhin häufig sind. Anders als in den 1990er Jahren, als vor allem Kriminelle und Warlords Personen gegen Lösegeld entführten, stecken heute fast immer staatliche Stellen hinter den Entführungen. Bis Mitte 2013 waren geschätzte
2.909 Personen vermisst gemeldet. Die Hälfte davon - 1611 Personen - verschwand während der Russland-Tschetschenienkriege, der Rest der verschwundenen Personen war in die Kriegshandlungen nicht verwickelt. (JF 4.12.2013).
Im ersten Quartal 2014 wurden laut dem russischen Innenministerium im Nordkaukasus 36 terroristische Verbrechen verübt und 10 Personen getötet und 10 weitere verwundet. Im selben Zeitraum seien 76 Banditen "neutralisiert" worden, davon 14 in führender Position. 153 Rebellen und deren Komplizen seien verhaftet worden. Sieben Mitglieder der illegalen Armeeeinheiten hätten sich freiwillig ergeben. Das Kaukasusemirat behauptet, während dieses Zeitraums 41 Operationen gegen den Staat durchgeführt zu haben; dabei seien 62 Personen, die mit den Behörden verbunden waren oder sie unterstützten, getötet worden. 11 Männer und Frauen seien staatlicherseits als mutmaßliche Rebellen getötet worden. Laut den Rebellen seien sie aber am Aufstand nicht beteiligt gewesen. 539 Personen, darunter vier Frauen, seien unter verschiedenen Vorwänden verhaftet worden; die meisten seien kurz darauf ohne Anklage wieder entlassen worden. Verlässliche Zahlen sind nicht vorhanden. Die Arbeit der russischen Sicherheitsbehörden hat sich demzufolge im letzten Jahr nicht wesentlich geändert, die Sicherheitslage bleibt prekär. Laut dem russischen Innenministerium hat die Untergrundarmee finanzielle Mittel erschlossen, um sich in den einzelnen Regionen zu finanzieren - sie würden von Geschäftsleuten den "zakat" erpressen und rückten daher in die Nähe der organisierten Verbrechens. (JF 18.4.2014)
Obwohl es weniger Unfälle mit Landminen gab als in vorangegangenen Jahren bleibt die Verminung weiterhin ein Problem. Am 11. Juli explodierte eine Landmine aus dem Tschetschenienkrieg in Dagestan in Nähe der tschetschenischen Grenze, tötete eine Person und verletzte eine weitere. Zwei Tage später tötete eine Landmine einen Soldaten und verletzte zwei weitere während eines Militäreinsatzes. (USDOS 27.2.2014)
Sicherheitslage und Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien
Laut NRO "Kawkaski-Usel" waren 2011 in Tschetschenien 174 Opfer gewaltsamer Auseinandersetzungen zu beklagen, darunter 82 Tote. (AA 10.6.2013) Verschiedenen Quellen gemäß scheinen die Anti-Terror-Operationen der Behörden oft eher auf die Tötung anstelle der Verhaftung der Aufständischen abzuzielen. (SFH 22.4.2013; vgl. auch AA 10.6.2013) Mehrere Opponenten und Kritiker des Oberhauptes Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow, wurden in Tschetschenien und anderen Gebieten der Russischen Föderation, aber auch im Ausland durch Auftragsmörder getötet (darunter Umar Israilow in Wien im Jänner 2009). Keiner dieser Mordfälle konnte bislang vollständig aufgeklärt werden. (ÖB Moskau September 2013) Es gibt weiterhin Berichte, wonach Sicherheitskräfte willkürliche Gewalt angewendet haben, die zahlreiche Todesopfer verursacht hat. Die Täter wurden nicht verfolgt. (USDOS 27.2.2014)
Lokale Kommandanten der russischen "Counter Insurgency"-Einheiten verfügen dank Anti-Terror-Gesetzen über weitgehende Vollmachten, um verfassungsmäßige Freiheiten und Rechte in sogenannten "Counter-Terrorist Operation Zones" einzuschränken. (SFH 22.4.2013) So hat zB der erste stellvertretende Innenminister Tschetscheniens, Apti Alaudinov gedroht, mit unrechtmäßigen Handlungen - inklusive Massentötungen und Unterschieben falscher Beweise - vorzugehen, um islamistische Fundamentalisten aus der ehemaligen Rebellenhochburg Urus-Martan - der Hochburg der Islamisten in den 1990er Jahren - zu vertreiben. Er berief sich darauf, vom tschetschenischen Führer Ramzan Kadyrow uneingeschränkte Handlungsvollmacht erhalten zu haben. Laut Alaudinov inkludiert diese Macht auch die Möglichkeit, jeden zu inhaftieren oder zu töten, der nur so ausschaut wie ein islamistischer Terrorist. Alaudinov beschuldigte auch mehrere Funktionäre in Urus-Martan, gegenüber den Tätigkeiten islamistischer Milizen die Augen verschlossen zu haben, weil ihre Familienmitglieder involviert gewesen seien; diese Praxis werde abgestellt. (RFE/RL 13.12.2013)
Auch Entführungen und Folter, um Geständnisse zu erpressen, sind in Tschetschenien nach verschiedenen Berichten häufig. (SFH 22.4.2013) Seit 2002 sind in Tschetschenien über 2000 Personen entführt worden, von denen über die Hälfte bis zum heutigen Tage verschwunden bleibt. Auch heute noch wird von Fällen illegaler Festnahmen und Folter von Verdächtigen berichtet Menschenrechtsverletzungen durch föderale oder tschetschenische Sicherheitskräfte werden in den seltensten Fällen strafrechtlich verfolgt. (ÖB Moskau September 2013) Im September 2013 wies das russische Büro der Generalstaatsanwaltschaft den tschetschenischen Minister für Internationale Angelegenheiten wegen mangelnder Kooperation bei der Aufklärung der Fälle von Verschwindenlassen in den Jahren 1990-2000 streng zurecht. (HRW Jänner 2014)
Nach Angaben von Zeugen werde oft dasselbe Muster bei den Entführungen beobachtet: Die Sicherheitskräfte kommen in Autos ohne Nummernschildern und weisen sich nicht aus. Nach mehreren Tagen oder auch längerer Zeit wird die entführte Person in einer Polizeistation "entdeckt". Die Verhaftung wird erst später offiziell registriert und die Zeit zwischen Entführung und "Entdeckung" wird von den Behörden genutzt, um mittels Folter - unter anderem durch Elektroschocks, Schläge, Erstickungen, Übergießen mit kochendem Wasser, Verbrennungen, zu eng sitzenden Handfesseln und sexueller Gewalt - Informationen oder Geständnisse zu erpressen, ohne Anwältinnen oder Anwälten Zugang gewährt zu haben. Nach Angaben der ICG werden entführte Personen manchmal auch in andere Regionen oder Republiken gebracht, um Nachforschungen zu erschweren. Immer wieder gibt es Fälle von verschwundenen Personen. (SFH 22.4.2013) Amnesty International führt die fehlenden Aufklärungen teilweise auf die Geheimhaltung der Operationen gegen Aufständische und deren Kontaktleute zurück. Die meisten Menschenrechtsverletzungen werden durch nicht identifizierbare Personen begangen - vermutlich viele davon Mitglieder der Sicherheitskräfte. Das russische Gesetz erlaubt den Sicherheitskräften wie FSB, MVD und militärischem Geheimdienst insbesondere bei Anti-Terror-Operationen verdeckte Aktivitäten durchzuführen. Dabei dürfen falsche Dokumente und Fahrzeuge ohne Nummernschilder benutzt werden sowie die Identität der Sicherheitsbehörde und ihrer Beamtinnen und Beamten geheim gehalten werden. Die Opfer und Zeugen können die Täter und die involvierte Sicherheitsbehörde dementsprechend nicht identifizieren. Streitet die entsprechende Behörde eine Verwicklung in die außergerichtliche Tötung ab, wird der Fall meistens mit dem Verweis auf "unbekannte Täterschaft" geschlossen. (SFH 22.4.2013)
Folter ist gesetzlich verboten. Der Menschenrechtsbeauftragte Lukin kritisiert in seinem im Frühjahr 2012 veröffentlichten Jahresbericht 2011 erneut folterähnliche Zustände vor allem in den russischen Untersuchungsgefängnissen. NGO wie "Amnesty International" (z.B. Jahresbericht 2011) oder das russische "Komitee gegen Folter" sprechen davon, dass es bei Verhaftungen, Polizeigewahrsam und Untersuchungshaft weiterhin zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung durch die Polizei und die Ermittlungsbehörden kommt. Ähnlich äußerte sich zuletzt im April 2012 der "Rat zur Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte" beim russischen Präsidenten gegenüber dem damaligen Präsidenten Medwedew. Auch das Antifolterkomitee des Europarats hat in seinem Bericht vom Frühjahr 2011 Fälle von Folter, insbesondere im Nordkaukasus, dokumentiert. (AA 10.6.2013; ÖB Moskau September 2013) Es gab 2012 weiterhin zahlreiche Berichte über Folter und andere Misshandlungen; wirksame Untersuchungen der Vorwürfe waren jedoch selten. Dem Vernehmen nach umgingen die Ordnungskräfte die bestehenden Vorkehrungen zum Schutz vor Folter häufig mit diversen Mitteln. Dazu zählten der Einsatz von Gewalt unter dem Vorwand, die Häftlinge müssten ruhig gestellt werden, und die Nutzung geheimer Hafteinrichtungen, insbesondere im Nordkaukasus. Außerdem verweigerte man den Häftlingen oft den Zugang zu Rechtsbeiständen ihrer Wahl und ernannte stattdessen Pflichtverteidiger, bei denen man davon ausgehen konnte, dass sie Spuren von Folter ignorieren würden (AI 23.5.2013; vgl. auch SFH 11.6.2012). Physischer Missbrauch durch Polizisten erfolgt Berichten zufolge systematisch und findet üblicherweise in den ersten Tagen der Anhaltung statt. Berichte von Menschenrechtsorganisationen und von ehemaligen Polizisten zeigen, dass die Polizei meistens Elektroschock benutzt, Ersticken, Strecken oder das Druckausüben auf Gelenke und Sehnen, weil diese Methoden weniger sichtbare Spuren hinterlassen. Im Nordkaukausus bedienen sich sowohl die örtlichen Behörden als auch die föderalen Sicherheitsbehörden der Folter. (USDOS 27.2.2014) Im März berichteten die Medien ausführlich über einen Fall von Folter in Kasan, nachdem ein 52-jähriger Mann im Krankenhaus an inneren Verletzungen gestorben war. Mehrere Polizisten wurden verhaftet und wegen Machtmissbrauchs angeklagt. Zwei Polizisten wurden später zu zwei bzw. zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Nachdem die Medien über den Fall berichtet hatten, wurden zahlreiche weitere Foltervorwürfe gegen die Polizei in Kasan und in anderen Städten erhoben. Der Leiter der Ermittlungsbehörde griff die Idee einer NGO auf und ließ spezielle Abteilungen einrichten, um Straftaten zu untersuchen, die von Ordnungskräften begangen wurden. Die Initiative wurde jedoch dadurch untergraben, dass diese Abteilungen nicht mit genügend Personal ausgestattet waren (AI 23.5.2013).
Die Behörden verstießen im Nordkaukasus systematisch gegen ihre Verpflichtung, bei Menschenrechtsverletzungen durch Polizeikräfte umgehend unparteiische und wirksame Ermittlungen einzuleiten, die Verantwortlichen zu identifizieren und sie vor Gericht zu stellen. In einigen Fällen wurden zwar Strafverfolgungsmaßnahmen ergriffen, meistens konnte im Zuge der Ermittlungen jedoch entweder kein Täter identifiziert werden oder es fanden sich keine Beweise für die Beteiligung von Staatsbediensteten oder man kam zu dem Schluss, es habe sich um keinen Verstoß seitens der Polizeikräfte gehandelt. Nur in Ausnahmefällen wurden Strafverfolgungsmaßnahmen gegen Polizeibeamte wegen Amtsmissbrauchs im Zusammenhang mit Folter- und Misshandlungsvorwürfen ergriffen. Kein einziger Fall von Verschwindenlassen oder außergerichtlicher Hinrichtung wurde aufgeklärt und kein mutmaßlicher Täter aus den Reihen der Ordnungskräfte vor Gericht gestellt (AI 23.5.2013). Die tschetschenischen und russischen Behörden hätten auch keine Maßnahmen ergriffen, um außergerichtliche Tötungen, Folter und Entführungen im Kampf gegen die aufständischen Gruppen zu verhindern. (SFH 22.4.2013) Es ist vielfach dokumentiert, dass die tschetschenischen Behörden die Aufklärungen außergerichtlicher Tötungen, Entführungen und Folter behindern. In einem Brief an eine russische NGO gaben die föderalen russischen Behörden unter anderem zu, dass die tschetschenische Polizei Untersuchungen zu Entführungen Einheimischer sabotiere und die Täter schütze. Auch sollen gewisse Strukturen innerhalb des tschetschenischen Innenministeriums nicht mit den untersuchenden Behörden kooperieren, weswegen es unmöglich sei, Untersuchungen zu ungesetzlichen Handlungen der entsprechenden Akteure durchzuführen. Die Independent Commission on Human Rights in the Northern Caucasus des russischen Parlaments wiederum habe trotz Hunderter von Klagen bezüglich Tötungen und Vergewaltigungen keine Vollmachten, selber Untersuchungen durchzuführen. Der tschetschenische Ombudsmann zu Menschenrechten hat die Zusammenarbeit mit der in diesem Bereich führenden NGO Memorial verweigert. (SFH 22.4.2013) Einem Bericht der Novaya Gazeta vom 18 Dezember zufolge entließ Präsident Putin Sergei Bobrov, den vor kurzem ernannten Leiter der Untersuchungskommission für Tschetschenien. Die Zeitung berichtete, dass Bobrov zuletzt Verschleppungs- und Mordfälle untersuchen ließ, welche von Sicherheitskräften des tschetschenischen Oberhauptes Ramzan Kadyrow begangen worden sein sollen. (USDOS 27.2.2014)
Jede staatliche Einheit hat ihre eigenen Regeln und Verfahren um zu untersuchen, ob eine Tötung rechtmäßig war. Die folgende strafrechtliche Untersuchung kann in die Zuständigkeit des Innenministeriums oder des Untersuchungskomitees fallen, je nach der Schwere des Verbrechens. (USDOS 27.2.2014) Ein am 30.8.2013 vorgestellter Bericht der Generalstaatsanwaltschaft im Föderalbezirk Nordkaukasus befasst sich mit dem Schicksal entführter/verschwundener Menschen im Nordkaukasus. Danach wurden in der ersten Hälfte des Jahres 2013 zwölf von 133 Gesuchten gefunden. Mehr als die Hälfte der Entführungen erfolgten in Tschetschenien und Nordossetien. Die Polizei leitete in 60 Fällen Ermittlungs-/Strafverfahren ein, um wegen Entführung bzw. wegen Verschwindenlassens zu ermitteln. Seit Mitte/Ende der 1990er Jahre wurden nach Erkenntnissen der Generalstaatsanwaltschaft 2.909 Personen im Nordkaukasus vermisst, mehr als die Hälfte, 1.611 Personen, davon in Tschetschenien. Die Entführungen bzw. das Verschwinden zielen oft darauf, Geld zu erpressen, Frauen zur Heirat zu zwingen oder Männer dazu zu bringen, in illegalen bewaffneten Gruppierungen zu kämpfen. Menschenrechtler sprechen von rund 20.000 Vermissten in knapp 20 Jahren. (BAMF 2.9.2013) Am 4. Oktober [2013] gab der Menschenrechtsaktivist Alexander Mukomolov bekannt, dass er eine Liste von 7570 im Nordkaukasus vermissten Personen zusammengestellt habe. Jedoch schätzen er und andere Menschenrechtsaktivisten, dass die tatsächliche Zahl viel höher ist. (USDOS 27.2.2014)
Es sind seit 2005 auch zahlreiche Urteile des EGMR gegen Russland ergangen, der insbesondere Verstöße gegen das Recht auf Leben festgestellt hat. Wiederholte Äußerungen des damaligen Präsidenten (und heutigen Premierministers) Medwedew und anderer Funktionsträger deuten darauf hin, dass Recht und Gesetz hinreichend eingehalten und die Menschenrechte respektiert werden sollen. Es fehlt jedoch bislang an wirklich messbaren Fortschritten vor Ort. Die Urteile des EGMR werden von Russland nicht vollständig umgesetzt (vgl. UKFCO 10.4.2014; HRW Jänner 2014). (AA 10.6.2013) Berichte gehen davon aus, dass die massiven Menschenrechtsverletzungen, die am Nordkaukasus von den Exekutivorganen begangen werden, ohne Zustimmung Moskaus nicht möglich wären. (JF 3.4.2014)
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in den meisten der über 200 behandelten Fälle behördlicher Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien eine fehlende Aufklärung der Verbrechen festgestellt. Die Opfer haben zwar theoretisch Zugang zu rechtlichen Mitteln, gegen die Täter vorzugehen. Dennoch wird kaum jemand von der Justiz zur Rechenschaft gezogen. Nach Angaben von Amnesty International ist diese trotz unzähliger Fälle außergerichtlicher Tötungen im ganzen Nordkaukasus erst in drei Fällen in Tschetschenien gegen die vermuteten Täter vorgegangen. Der Bericht des Parlaments des Europarats spricht von einer de facto Straflosigkeit der Täter von Menschenrechtsverletzungen. (SFH 22.4.2013) 2012 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Russland in 55 von 134 Fällen wegen der Verletzung des Verbots der Folter unmenschlicher Behandlung. Regierungstruppen folterten und misshandelten Berichten zufolge im Nordkaukasuskonflikt Zivilisten und Konfliktparteien. (USDOS 27.2.2014) Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte am 09.01.14 Russland, den Angehörigen von verschollenen Tschetschenen Schmerzensgeld von insgesamt mehr als 1,9 Millionen Euro zu zahlen (Entscheidungen v. 09.01.2014 - 53036/08 u.a.). Der EGMR spricht hierbei von 36 verschleppten Männern aus dem Nordkaukasus, die seit Jahren als vermisst gelten. Die Richter sahen es als erwiesen an, dass die Männer bei Einsätzen der russischen Armee in Tschetschenien verschleppt wurden. (BAMF 13.1.2014)
Religionsfreiheit:
Die Russische Föderation ist ein multinationaler und multikonfessioneller Staat. Art. 28 der Verfassung garantiert Gewissens- und Glaubensfreiheit. Orthodoxie, Islam, Buddhismus und Judentum haben dabei eine herausgehobene Stellung. Art. 14 der Verfassung schreibt die Trennung von Staat und Kirche fest. (AA 10.6.2013)
Die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) erhebt einen Monopolanspruch für alle Gläubigen russischer Herkunft und propagiert ihren Wertekanon als Basis einer neuen "nationalen Idee". Faktisch wird sie vom Staat bevorzugt behandelt, die verfassungsmäßige Stellung anderer Glaubensgemeinschaften und die Trennung von Staat und Kirche bleiben jedoch weitgehend aufrechterhalten. Mit dem Schuljahr 2012/13 wurden an russischen Schulen die Fächer Religion (orthodox, muslimisch, jüdisch oder buddhistisch) oder Ethik als Pflichtunterricht eingeführt. Bisher hat sich offenbar die Mehrheit der Schüler bzw. deren Eltern für Ethik entschieden. (AA 10.6.2013)
In Russland leben rund 20 Millionen Muslime; der Islam ist eine der traditionellen Hauptreligionen Russlands. Der Islam in Russland ist in seiner Grundausrichtung von Toleranz gegenüber anderen Religionen geprägt. Es gibt Anzeichen dafür, dass Spannungen innerhalb der muslimischen Gemeinde(n) in Russland zunehmen. Der Staat fördert und kontrolliert die Ausbildung von Imamen. (AA 10.6.2013)
Nicht als traditionelle Religionen anerkannte Glaubensrichtungen, wie insbesondere die Zeugen Jehovas oder islamische Strömungen im Nordkaukasus und im Wolgagebiet, denen der Vorwurf gemacht wird, in Bezug zu Terrorgruppen zu stehen, stoßen auf Schwierigkeiten mit staatlichen Behörden. Gegen solche Religionsgemeinschaften erheben die Behörden häufig nicht plausibel belegte Extremismusvorwürfe und leiten auf dieser Grundlage auch Strafverfahren ein. (AA 10.6.2013)
Putin erhob das jahrhundertelange Zusammenleben zwischen orthodoxen Christen und Muslimen zu einem Grundmerkmal der Geschichte Russlands und führte das Land in die Organisation der Islamischen Konferenz. Auf der anderen Seite nehmen Staat und Gesellschaft in Russland den Islam durch das Prisma des Kampfs gegen Extremismus wahr. Im Jahr 2000 warnte der neue Präsident Putin vor einer Infektion durch religiösen Extremismus, der sich vom Kaukasus über die Wolga ins Innere Russlands ausbreiten könne. Mit solchen Aussagen sollten erneute massive Kriegsmaßnahmen in Tschetschenien als Kampf gegen islamischen Terrorismus gerechtfertigt werden. Auf der regionalen Ebene des Staates unterscheidet sich die Politik gegenüber dem Islam. In Tschetschenien etwa praktiziert der Autokrat Ramzan Kadyrow eine eigenwillige Kulturpolitik, die unter dem Schlagwort "nationale Tradition" Frauen islamische Bekleidung vorschreibt. In der Nachbarregion Sewastopol dagegen erließ die Regierung im Oktober 2012 ein Hijab-Verbot an öffentlichen Schulen. Zur staatlichen Sphäre gehört auch der institutionalisierte Islam in Gestalt geistlicher Verwaltungen oder Muftiate, einer bürokratischen Einrichtung, die bis zur Islampolitik der Zarin Katharina ins 18. Jahrhundert zurückgeht. Diese Institution hat in sowjetischer Zeit die staatliche Kontrolle über den muslimischen Bevölkerungsteil der UdSSR gewährleistet. Das damalige Bild eines "Islam von Granden des KGB" wirkt in der muslimischen Bevölkerung bis heute nach und lässt die offizielle Geistlichkeit eher als staatliche denn als religiöse Autorität erscheinen. Diese für den Islam untypische "Amtskirche" durchlief in der nachsowjetischen Entwicklung einen Prozess der Zersplitterung, aus dem heraus eine Vielzahl von Muftiaten auf ethnischer und lokaler Basis entstand. (SWP April 2013)
Konfliktlinien verlaufen nicht in erster Linie zwischen der ROK und den geistlichen Verwaltungen der Muslime; schärfere Konfliktlinien besehen innerhalb der islamischen Gemeinden, dh zwischen "Islamen" unterschiedlicher Provenienz. Auf der einen Seite steht der sog. traditionelle Islam, der häufig mit nationalem Brauchtum gleichgesetzt wird. Man spricht etwa von einem "kaukasischen Islam", der vom Sufismus und religiösen Bruderschafts- und Ordenswesen geprägt ist. Auf der anderen Seite steht ein vom Ausland beeinflusster Fundamentalismus, der ethnische oder lokale Identifikation in den Bereich religiöser Unwissenheit verweist und traditionelles Brauchtum wie den Besuch von Heiligengräbern als heidnisch diffamiert und bekämpft. Für die Anhänger dieses Fundamentalismus bildete sich in Russland das Schlagwort "Wahabiten" heraus. Der Leiter einer islamischen Gemeinde im Nordkaukasus äußerte sich bereits vor zehn Jahren zum inflationären Gebrauch dieser Bezeichnung. "Wenn jemand das rituelle Gebet korrekt vollzieht, nicht trinkt, nicht raucht, nicht flucht, dann hält man ihn für einen Wahabiten." Hier wird ein Problem angesprochen, das den Diskurs über islamischen Extremismus im postsowjetischen Raum belastet: die mangelnde Unterscheidung zwischen religiös aktiven Muslimen, politisch aktiven, aber nicht gewaltorientierten Islamisten und militanten Jihadisten. Aus der undifferenzierten Wahrnehmung von religiösem Extremismus durch die Staatsmacht resultieren Maßnahmen, die eine Radikalisierung von Muslimen eher beförderten. (SWP April 2013)
Es sind heute 74 religiöse Organisationen in der Republik Tschetschenien registriert, die drei Konfessionen repräsentieren: 72 davon den Islam, eine die Orthodoxie und eine das Evangelische Christentum. Außerdem gibt es mehr als 200 nicht registrierte Gruppen sowohl islamischer als auch orthodoxer Konfession (BAMF-IOM Juni 2013).
Die Bevölkerung Tschetscheniens gehört der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an, wobei traditionell eine mystische Form des Islam, der Sufismus, vorherrschend ist. Gegenwärtig ist eine Zunahme der Anhänger des Salafismus/Wahabismus, eine strenge, radikale Form des Islam, zu verzeichnen (BAMF 10.2013). Laut einem Bericht der tschetschenischen Informationsagentur von 24.08.2011 hat sich Achmat Kadyrow um das Wiedererstarken des Sufismus in Tschetschenien verdient gemacht. Der Sufismus ist eine der Hauptströmungen des Islam und mit der tschetschenischen Mentalität eng verbunden. Der Sufismus steht für den traditionellen Islam und ist eine Gegenkraft gegen den Wahabismus. Sofern sich Personen offen dem Wahabismus zuwenden, werden sie von den Sicherheitsorganen generell als Terroristen angesehen und dementsprechend als Verbrecher behandelt (Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Moskau an BMAF vom 13.8.2012).
Kadyrow hat seine eigene islamisch-nationalistische staatliche Ideologie geschaffen. Er nützt den Sufismus als Staatsideologie, fördert die muslimischen Kleidervorschriften für Frauen und befürwortet Polygamie. Ein Großteil des staatlichen Fernsehens ist religiösen Angelegenheiten gewidmet, Fernsehsprecherinnen tragen Kopftuch. Die heiligen Stätten der Sufi wurden restauriert. Es gibt zwanzig Madrasas, zwei höhere Islamische Schulen, drei Hafiz Koranschulen und mehr als 700 Moscheen. Religiöses Leben und Erziehung sind unter strikter staatlicher Kontrolle. (ICG 19.10.2012)
In Tschetschenien wurde Mitte Jänner 2014 eine eindrückliche Kampagne gegen Salafismus, Habschismus und andere bekannte islamische Denkschulen gestartet. Bei einem Treffen mit Imamen am 23. Jänner 2014 kündigte Ramzan Kadyrow an, Wahabismus, Habschismus und andere radikale Strömungen auszurotten, ebenso wie Sunna und Tariqua, die nie in Tschetschenien existiert hätten. (vgl. auch ICG 19.10.2012) Der Kampf gegen radikale Muslime beginne mit dem persönlichen Erscheinungsbild. Junge Männer, deren Bart eine gewisse Länge überschreite, könnten als Salafisten bezeichnet, eingesperrt und auf die Liste gefährlicher Personen gesetzt werden. Gleiches gelte für Personen, die auf ihrem Mobiltelefon Videos mit salafistischen Gebeten gespeichert hätten. Die Behörden postierten "Sittenwächter" vor dem Eingang der staatlichen Universitäten, um das Auftreten der Studenten zu kontrollieren, insb. die Länge der Bärte und die Art des Hijab. Personen mit zu langem Bart oder mit schwarzem Hijab wurden am Betreten der Universität gehindert. Der Hijab ist in Tschetschenien nicht verboten, aber der schwarze Hijab, der auch das Kinn bedeckt, wird als staatsfeindlich angesehen; sein Tragen wird verfolgt. Vor einigen Jahren zahlte Ramzan Kadyrow noch jeder Frau, die sich bereit erklärte, den Hijab an der Universtität zu tragen, $ 1000. Damals war nicht absehbar, dass das Tragen des Hijab zur Mode unter den jungen Frauen werden und sich die Art des Hijab graduell ändern würde - bis zum Verdecken des gesamten Gesichts. Seit Präsident Putin den Hijab als dem traditionellen russischen Islam fremd bezeichnet hat, war es Kadyrow nicht mehr möglich, das Tragen des Hijab zu fördern. Die aktuelle Kampagne soll nun den Trend, den die regionale Regierung selbst gestartet hat, wieder unter Kontrolle bringen. Kadyrow kündigte auch an, herauszufinden, was tschetschenischen Studenten an ausländischen Universitäten gelehrt werde und sie zu Befragungen zu bestellen. (JF 31.1.2014)
Am 22. Februar 2013 trafen Ramzan Kadyrow und Patriarch Kyrill auf Initiative des Kremls zusammen. Kadyrow forderte - als Repräsentant der gesamten muslimischen Gemeinschaft des Landes - den Bau von Moscheen in Moskau und anderen Regionen des Landes, weil es leichter sei, die Massen in den Moscheen zu kontrollieren, die vom Staat gebaut würden, als junge Leute, die ihr Wissen über den Islam aus dem Internet beziehen. Nach dem Treffen verfügte Kadyrow, dass orthodoxen Priestern in Tschetschenien Unterkünfte zur Verfügung gestellt werden. Allerdings gibt es nur drei Priester in Tschetschenien. Kadyrow stelle überdies in Aussicht, Land an die Kosaken zu verteilen, damit sie Landwirtschaft betreiben könnten; dass diese Maßnahme im großen Stil umgesetzt wird, gilt als unwahrscheinlich. (JF 7.3.2014) Bereits zuvor wurde die orthodoxe Kirche in Grozny wiederaufgebaut, es wurden alle christlichen Friedhöfe gesäubert und für frühere russische Bewohner Transportmittel zur Verfügung gestellt, um deren Familiengräber zu besuchen. Die Rückkehr ethnischer Russen wird befürwortet. (ICG 19.10.2012) Moskau ist an einem Ende des Exodus ethnischer Russen aus dem Kaukasus interessiert. Die russisch-orthodoxe Kirche hat erfolglos versucht, ihre Präsenz im Nordkaukasus aufrecht zu erhalten. Die Zahl der ethnischen Russen im Nordkaukasus ist so gering, dass fraglich ist, ob in zwanzig Jahren noch ethnische Russen in dieser Region leben werden. Tschetschenien kann mittlerweile als mono-ethnisch bezeichnet werden. Der Kreml geht davon aus, dass nur die russisch-orthodoxe Kirche ethnische Russen von einem Verlassen des Kaukasus abhalten kann. (JF 7.3.2014)
Die allgemeine Situation von tschetschenischen Frauen
Grundsätzlich garantiert die Verfassung der Russischen Föderation Männern und Frauen dieselben Rechte. Dennoch sind Frauen von Diskriminierung, z.B. am Arbeitsmarkt betroffen. Von einer gesellschaftlichen Diskriminierung alleinstehender Frauen und Mütter kann zumindest in Kernrussland nicht ausgegangen werden. Ein ernstes Problem in Russland stellt jedoch häusliche Gewalt dar. Dieses wird von Polizei und Sozialbehörden oft als interne Familienangelegenheit abgetan. Es gibt in der Russischen Föderation keine föderale Gesetzgebung zu häuslicher Gewalt. Die Handlungsmöglichkeiten der Polizei sind begrenzt. Eine Bestrafung der Aggressoren ist bei Körperverletzung, Rowdytum oder sonstigen gewalttätigen Übergriffen möglich. Obgleich die Zahl der Frauenhäuser in der Russischen Föderation zunimmt, ist deren Zahl noch gering (derzeit ca. 25 mit insgesamt 200 Betten). Nachdem die gesetzlichen Regelungen den Opfern von häuslicher Gewalt nur teilweise Schutz bieten, fliehen Opfer von häuslicher Gewalt meist zu Freunden oder Bekannten, oder finden sich mit der Situation ab. Ein weit verbreitetes Problem, für das es ebenfalls keine gesetzliche Regelung gibt, ist sexuelle Belästigung. (ÖB Moskau September 2013; vgl. auch UKFCO 10.4.2014; IRB 15.11.2013)
Die Situation im Nordkaukasus unterscheidet sich maßgeblich von der in anderen Teilen Russland. Die menschenrechtliche Situation von Frauen im Nordkaukasus ist nach wie vor problematisch. Berichte von Ehrenmorden, Brautentführungen, "Sittenwächtern" und häuslicher Gewalt im Nordkaukasus sind besorgniserregend. In den meisten Fällen werden diese Verbrechen nicht zur Anzeige gebracht, bzw. keine Strafverfolgung eingeleitet. Eine Quantifizierung des Problems ist schwierig, NGOs in Tschetschenien berichten jedoch von zumindest einem neuen Fall pro Monat. Problematisch scheint auch die Situation von Frauen im Fall einer Scheidung oder bei Tod des Ehemannes. In der Frage der Obsorge für die gemeinsamen Kinder, sowie in der Frage der Aufteilung des gemeinsamen Besitzes spielen traditionelle Vorstellungen eine wichtige Rolle. Oft haben Frauen es deshalb schwer die ihnen nach russischem Gesetz zustehenden Rechte auch in der Realität durchzusetzen. (ÖB Moskau September 2013)
In Tschetschenien hat der Druck auf Frauen erheblich zugenommen, sich gemäß den vom dortigen Regime als islamisch propagierten Sitten zu verhalten und zu kleiden. Russische Menschenrechtsorganisationen sprechen von systematischen Diskriminierungen, die nicht zuletzt im Widerspruch zur russischen Verfassung und anderen geltenden Gesetzen stehen. (AA 10.6.2013)
Als Teil seiner "Bescheidenheitskampagne" verlangte Kadyrow von den Frauen, in der Öffentlichkeit (inkl. Schulen, Universitäten und Regierungsgebäuden) Kopftuch zu tragen (vgl. auch SWP April 2013). Er befürwortet, dass jungen Frauen die Mobiltelefone abgenommen werden um ungebührlichen Umgang mit Männern zu unterbinden. (USDOS 27.2.2014) Swetlana Gannuschkina, Vorsitzende der Organisation "Komitee Bürgerbeteiligung" und Mitglied des "Menschenrechtszentrums Memorial", berichtet über die in Tschetschenien zwingend vorgeschriebene Kleiderordnung für Frauen. Der Kopftuchzwang sei für viele erniedrigend. Immer wieder platzen bewaffnete junge Männer mitten in eine Vorlesung, überprüfen, ob Studentinnen und Professorinnen entsprechend gekleidet sind. (AJ Oktober 2013)
Die Stellung der Frau in der tschetschenischen Gesellschaft wird in starkem Maße von den patriarchalen Gewohnheitsrechten - den Adaten - geprägt, die der Frau die Rolle der Dienerin zuweisen und einen strengen Ehrenkodex beinhalten. Demnach sind Frauen für Haus und Hof verantwortlich. Ob eine Frau heiratet, ob und wo sie arbeitet, eine Ausbildung bekommt oder beispielsweise einen Arzt besucht, entscheidet erst die Familie, später der Ehemann. Eheschließungen werden von den Eltern vereinbart oder durch Brautraub durch den Mann entschieden. In Tschetschenien ist es nach wie vor üblich, Frauen durch Entführung zur Ehe zu zwingen. Die Zwangsehen führen zu schweren psychischen Belastungen der Frauen. Allerdings prägte die Sowjetära vor allem die städtische Bevölkerung und führte dort zu einem Wertewandel und zu einer Orientierung an Rollenbildern der sowjetischen Gesellschaft. So ist ein Großteil der Tschetscheninnen in den Städten gut ausgebildet und berufstätig. (AMICA)
Landinfo berichtet, dass der Einfluss des "Adat" [Gewohnheitsrecht] und teilweise auch die Islamisierung in Tschetschenien während des Regimes von Präsident Ramzan Kadyrov, die Situation für tschetschenische Frauen schwieriger wurde. Die zwei Tschetschenienkriege beeinflussten auch die Familienstruktur und machten Frauen verletzlicher. Sehr wenige Frauen suchen Schutz bei Behörden nachdem sie Opfer von Gewalt wurden. In den wenigen Fällen in denen Frauen Unterstützung bei den Behörden suchen, scheinen sie nicht den Schutz zu erhalten, den sie brauchen. (Anfragebeantwortung 10.3.2014)
Außerehelicher Geschlechtsverkehr gilt im Allgemeinen als Schande für die Familie. Die eigene Familie sorgt aber in der Regel dafür, dass derartiges im Verborgenen bleibt. Hat die Frau keine Kinder, lasse man sie gehen; ihre eigene Familie müsse dann die Verantwortung für sie übernehmen. Habe sie Kinder, könne die Familie des Mannes die Kinder beanspruchen. Würden die Kinder in diesem Fall bei ihr bleiben, würde sie Schande über ihre Kinder bringen. (ACCORD 31.3.2014)
Der Caucasian Knot berichtet, dass sogenannte Ehrenmorde - wenn enge Verwandte junge Mädchen oder Frauen bestrafen, die einer außerehelichen Beziehung oder familiärer Untreue verdächtig sind - sich in Tschetschenien in den 1990er Jahren zu verbreiten begannen. (Anfragebeantwortung 10.3.2014; vgl. auch HRW Jänner 2014; USDOS 27.2.2014). Ramzan Kadyrowerklärte 2008 in einem Interview, wie das Geschlechterverhältnis seiner Ansicht nach auszusehen habe: "Die Frau muss ihren Platz kennen. Die Frau ist ein Besitz, der Mann ist der Besitzer. Und wenn sich bei uns eine Frau nicht entsprechend verhält, sind ihr Mann, ihr Vater und ihr Bruder dafür verantwortlich. Und wenn eine Frau über die Stränge schlägt, wird sie unseren Sitten entsprechend von ihren Verwandten getötet." (AJ Oktober 2013) Sogenannte "Ehrenmorde" werden in Tschetschenien nicht statistisch erfasst. Sie kenne ein Dorf, in dem bereits neun Frauen ermordet worden seien, weil sie angeblich gegen den Ehrenkodex verstoßen hätten, berichtet Gannuschkina. Eine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren, haben die betroffenen Frauen im Land Kadyrows kaum. (AJ Oktober 2013)
In einigen Teilen des Nordkaukasus sind Frauen weiterhin der Brautentführung, Polygynie, Zwangsheirat (inkl. Kinderheirat) und rechtlicher Diskriminierung ausgesetzt. (USDOS 27.2.2014) Es gab in einigen Teilen des Nordkaukasus auch Fälle, in denen Männer vorgaben, nach alter Tradition "Brautraub" zu betreiben, berichtetermaßen aber junge Frauen entführten und vergewaltigten und in einigen Fällen zu einer Heirat zwangen. In den anderen Fällen waren die Frauen für immer "befleckt", weil sie keine Jungfrauen mehr waren und somit nicht in eine legitime Ehe eintreten konnten (USDOS 27.2.2014) Von der Vertreterin einer tschetschenischen NGO wurde angegeben, dass sich eine Frau zum Beispiel bei einer gewalttätigen Brautentführung, durchaus an die staatlichen Organe wenden könnte und auch Hilfe bekommen könnte, es sei aber bisher kein solcher Fall bekannt. (ÖB Moskau 10.5.2013)
Nach Einschätzung einer russischen Menschenrechtsexpertin ist keine staatliche Struktur in Tschetschenien in der Lage oder auch nur willens, die Frauen vor der Gewalt der Behörden und der häuslichen Gewalt zu schützen. Eine Frau zu töten, weil sie sich nicht "richtig" verhalten habe, sein in Tschetschenien nichts Besonderes. Auch von den Bundesbehörden hätten die Frauen keinen Schutz zu erwarten. Morde an Frauen würden praktisch nie aufgeklärt. Besonders aussichtslos sei die Situation, wenn es sich bei den Aggressoren um "Kadyrows Leute" handle. Gem. ho. Recherche gibt es in Tschetschenien nach wie vor kein Frauenhaus, in dem von Gewalt betroffene Frauen, unterkommen könnten. (vgl. auch ÖB Moskau September 2013; UKFCO 10.4.2014; IRB 15.11.2013) Laut einer informellen Anfrage einer tschetschenischen NGO beim Ministerium für Arbeit, Beschäftigung und Soziales der Rep. Tschetschenien, gibt es ein Tageszentrum für Frauen mit Kindern bis zum Alter von 3 Monaten. (ÖB Moskau 10.5.2013) Nachdem die gesetzlichen Regelungen den Opfern von häuslicher Gewalt nur teilweise Schutz bieten, fliehen Opfer von häuslicher Gewalt meist zu Freunden oder Bekannten, oder finden sich mit der Situation ab. (Anfragebeantwortung 10.3.2014)
Die Situation von alleinstehenden Frauen und Witwen
Mehreren Quellen zufolge seien alleinstehende Frauen im Nordkaukasus verwundbar und schutzlos. Nach Angaben einer internationalen Organisation im Nordkaukasus und von Human Rights Watch (HRW) aus dem Jahr 2009 sei eine Familie stark, wenn ein Mann als Familienoberhaupt fungiere. In vielen Familien gebe es jedoch keine Männer mehr, was eine große Last für die Frauen zur Folge habe und sie in eine prekäre Lage bringe. Eine Menschenrechtsorganisation im Nordkaukasus habe 2009 angegeben, dass es für tschetschenische Frauen sehr wichtig sei, verheiratet zu sein und einen Mann zu haben, der sie beschütze. Frauen, die nicht verheiratet seien, seien verwundbarer als verheiratete Frauen. Zudem könnten unverheiratete Frauen in einer prekäreren Lage sein, wenn sie Familienmitglieder hätten, die Rebellen seien. Eine internationale Organisation im Nordkaukasus habe 2009 angegeben, dass es wesentlich für eine Frau sei, Brüder zu haben, die sie schützen könnten, sollte sie keinen Mann haben. Habe eine Frau jedoch einen schlechten Ruf und keinen Schutz, könne sie festgenommen und möglicherweise auch Opfer eines Mordes werden. Frauen mit einem schlechten Ruf seien ebenso gefährdet wie Frauen, die mit Rebellen verwandt seien. Als Beispiel dafür, wie wichtig es für eine Frau im Nordkaukasus sei, einen Bruder oder Mann zu haben, hätten verschiedene Quellen (darunter auch ein tschetschenischer Anwalt im Jahr 2012) angegeben, dass eine Frau, die außerhalb Tschetscheniens studieren wolle, entweder in Begleitung eines Bruders reise oder bei Verwandten vor Ort lebe. Selbst in gebildeten Familien sei es Tradition, dass Frauen die Region nur in Begleitung eines engen männlichen Verwandten verlassen sollten. Nach Angaben von HRW aus dem Jahr 2009 würden Witwen, die nachweisen könnten, dass sie verheiratet gewesen seien, geachtet. Könnten sie das nicht nachweisen, seien sie in einer prekären Lage und hätten eine niedrige Stellung in der Gesellschaft. (ACCORD 4.4.2014)
Landinfo schreibt, dass Frauen in Tschetschenien üblicherweise nicht für Polygamie seien. Dennoch sei die Einstellung dazu gemischt, da Polygamie Möglichkeiten für Frauen biete, die ansonsten weniger Möglichkeiten hätten, zu heiraten. Es handle sich dabei um Witwen, Frauen, die verlassen worden seien, und Frauen über 35 Jahre. Einen Mann zu haben sei im Nordkaukasus von großer Bedeutung. Eine NGO in Moskau habe 2011 angegeben habe, dass Witwen mit Kindern einen höheren Status in Tschetschenien hätten als geschiedene Frauen. Eine Witwe werde sofort gefragt, ob sie zusammen mit den Kindern im Haus der Schwiegereltern bleiben, oder ohne Kinder ein neues Leben beginnen wolle. Dies gebe der Mutter die Möglichkeit, erneut zu heiraten. Wenn die Mutter bei den Schwiegereltern lebe, erwarte man von ihr, dass sie das Gedenken an den verstorbenen Ehemann in Ehren halte und nicht wieder heirate. Es gebe kein Verbot für eine Witwe, wieder zu heiraten, aber in diesem Fall verliere sie für gewöhnlich den Kontakt zu ihren Kindern. (ACCORD 4.4.2014)
Ob eine Witwe wieder heiraten kann, hängt von der sozialen Position der Familie des verstorbenen Mannes ab. Handelt es sich um eine "gute Familie", kann die Frau wieder heiraten und manchmal auch das Kind mitnehmen. Wenn nicht, gibt es ein Problem mit den Kindern, weil diese dann üblicherweise beim Vater bleiben. Es kann auch vorkommen, dass die Kinder bei der Mutter bleiben, bis diese wieder heiratet. Eine Frau könne sich nach dem Tod des Mannes auch zur "freien Witwe" erklären; danach könne sie Männerbesuch bekommen, dürfe aber ihre Kinder nicht sehen und werde nicht geachtet. (ACCORD 31.3.2014)
Hingegen würden Brüder der verstorbenen Männer ihre Schwägerinnen nicht einfach so heiraten, vor allem nicht, wenn sie über 30 sind. Dieser Brauch werde nicht oft in der Praxis umgesetzt. Die Weigerung der Frau, den Schwager zu heiraten, würde nicht zu Blutfehden oder Blutrache führen (ACCORD 4.4.2014).
Scheidung und Obsorge
Nach russischem Recht sind grundsätzlich beide Elternteile, unabhängig davon, ob sie verheiratet, unverheiratet oder geschieden sind, im Bezug auf das Sorgerecht für die minderjährigen Kinder gleichberechtigt. Im Zuge einer Scheidung wird nicht automatisch auch das Sorgerecht geregelt. Sorgerechtsfragen, d.h. Aufenthaltsbestimmungsrecht, Besuchsrechte, usw., können, wenn die Eltern nicht zu einer Übereinkunft kommen, gerichtlich geregelt werden. Wird ein Elternteil bei der Durchsetzung seiner Rechte (z.B. Besuchsrechte) vom anderen Elternteil behindert, kann das Gericht eine Geldstrafe verhängen oder die Rechte des Elternteils mit Hilfe von Gerichtsvollziehern durchsetzen. Dies geschieht in der Praxis allerdings äußerst selten. Nach Einschätzung eines Experten für russisches Recht wird in der Russischen Föderation bei getrennten Wohnsitzen der Eltern, das Aufenthaltsbestimmungsrecht bei Kindern unter 10 Jahren a priori der Mutter zugesprochen. Ist das Kind älter als 10 Jahre wird seine Meinung ebenfalls berücksichtigt. Grundsätzlich kann man sagen, so der Experte, dass im russischen Obsorgeverfahren die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit eingehalten werden, davon ausgenommen sind jedoch die russischen Regionen im Nordkaukasus (v.a. Tschetschenien und Dagestan), wo nicht von einer Rechtsstaatlichkeit im Obsorgeverfahren auszugehen ist. (ÖB Moskau 10.5.2013)
Die Republik Tschetschenien ist Teil der Russischen Föderation, das heißt, dass auch dort, die russischen Gesetze gelten. In Tschetschenien sei es laut Vertretern verschiedener NGOs jedoch traditionell bedingt üblich, dass Kinder im Fall einer Scheidung beim Vater bzw. der Familie des Vaters bleiben. Die Realität wird von den NGO-Vertretern unterschiedlich beschrieben. Von manchen wird konstatiert, dass es für die Familie des Vaters eine Schande sei, wenn das Kind nicht bei ihm bzw. seiner Familie bleibt und es sich um Einzelfälle handelt, wenn die Kinder nach der Scheidung bei der Mutter bleiben. Von einer anderen NGO-Vertreterin wiederum heißt es, dass es in Tschetschenien max. 5% der Männer kümmert, was Nachbarn und Verwandte denken, materielle Fragen stünden für die meisten im Vordergrund. Es gäbe durchaus Fälle in denen die Kinder nach einer Scheidung bei der Mutter bleiben, vorausgesetzt, dass diese das überhaupt will. Dabei wäre zu beachten, dass geschiedene Frauen, die gemeinsam mit ihren Kindern leben, in der Regel nicht wieder heiraten können, da traditionell die Frau zum neuen Mann zieht und es hier Animositäten gegen die Kinder des Vorgängers geben kann. Einhellig wurde von den Kontaktpersonen der Botschaft bestätigt, dass Frauen sich in Obsorgefragen (Aufenthaltsbestimmungsrecht, Besuchsrechte) nur sehr selten an ein Gericht wenden und, falls doch, die Unterstützung ihrer Familie bräuchten, um den Gerichtsweg zu bestreiten. In den meisten Fällen würden diese Fragen allerdings in der Familie oder mit Hilfe eines religiösen Vermittlers geregelt. Eine Anwältin aus der Republik Tschetschenien führte im Rahmen eines Seminars im Juni 2012 aus, dass der Weg zum Gericht sei für geschiedene Frauen in Tschetschenien oft der letzte Ausweg ist, wenn andere Vermittlungsversuche (über Verwandte, religiöse Vertreter, usw.) gescheitert sind. Frauen würden diesen Schritt aber scheuen, weil er die Beziehung zum Ex-Mann endgültig zerstört, was viele tschetschenische Frauen für falsch halten. Tschetschenische Gerichte würden ihre Entscheidungen in Obsorgefragen häufig mit den materiellen Verhältnissen der Eltern begründen, wobei eine tschetschenische Frau im Falle einer Scheidung in der Regel leer ausgehe. Nachdem eine geschiedene Frau in der Regel in das Elternhaus zurückkehren würde, brauche sie die Zustimmung ihrer Eltern, ihre Kinder bei sich aufzunehmen. Diese Zustimmung würde von den Eltern, so die Anwältin, manchmal aus Gründen des Stolzes oder aufgrund von Ressentiments gegenüber dem Ex-Mann verwehrt. Aus all diesen Gründen könnten, so die Anwältin, faktisch nur sehr wenige geschiedene Frauen in Tschetschenien ihre von der russischen Gesetzgebung vorgesehenen Rechte im Bezug auf ihre Kinder auch durchsetzen. Bei einer Recherche der Botschaft im Internet konnten insgesamt vier Gerichtsentscheidungen aus den Jahren 2010 - 2011 tschetschenischer Gerichte zum Thema Scheidung und Aufenthaltsbestimmungsrecht der mj. Kinder gefunden werden. Bei diesen vier Entscheidungen wurde bei fehlender Übereinkunft der Eltern in drei Fällen das Aufenthaltsbestimmungsrecht der Mutter zugesprochen, in einem Fall dem Vater. Die Entscheidungen wurden von den Gerichten u.a. auch mit dem Gutachten der Jugendwohlfahrtsbehörde zu den materiellen Umstände, Lebensverhältnissen der Elternteile begründet. (ÖB Moskau 10.5.2013)
Bei Rücksprache der Botschaft mit einer Vertreterin einer tschetschenischen NGO wurde berichtet, dass die Aufteilung des Besitzes im Fall einer Scheidung von den gemeinsamen Ehejahren abhängig ist (egal, ob die Ehe offiziell vor dem Standesamt geschlossen wurde) und abhängig davon, wo die Kinder nach der Scheidung leben würden. Dies sei einer der materiellen Gründe, warum Eltern ein Interesse daran haben, dass die Kinder nach der Scheidung bei ihnen leben. (ÖB Moskau 10.5.2013)
Zugang zu Bildung
Das Netzwerk aus Vorschuleinrichtungen beinhaltet sowohl staatliche als auch nicht-staatliche Kindergärten. Häufig ist die Anzahl von Kindergärten nicht ausreichend, insbesondere in kleinen Städten und Dörfern. Viele staatliche Programme wurden entwickelt, um das Kindergärten-Netzwerk zu vergrößern und die Qualität der Vorschul-Bildung zu erhöhen. Das Hauptproblem für Eltern ist das Finden eines Kindergartenplatzes, da die Plätze streng limitiert sind und die Kinder direkt nach der Geburt auf eine Warteliste gesetzt werden müssen. Die täglichen Kindergartenkosten sind vergleichsweise hoch, insbesondere für große Familien mit niedrigem Einkommen: Die durchschnittlichen Kindergartenkosten liegen bei 1000 RUB (32 USD). Viele Mütter ziehen es daher vor, zu hause zu bleiben und sich um die Kinder zu kümmern, als zu arbeiten und den Großteil des Verdienstes für die Vorschulbetreuung auszugeben. (BAMF-IOM Juni 2013)
In Russland gibt es sowohl staatliche als auch private Bildungseinrichtungen. Jeder russische Staatsbürger hat Anspruch auf kostenlose Bildung. Dieser Anspruch kann an allen staatlichen Bildungseinrichtungen auf allen Ebenen verwirklicht werden (an Hochschulen gibt es ein leistungsbezogenes Auswahlverfahren). Es wird mit jedem Jahr schwerer, einen Platz an den besonders angesehenen kostenlosen Hochschulen zu bekommen. Und selbst die Aufnahme an einer guten Berufsschule ist nicht selbstverständlich. Die Zahl der kostenlosen Studienplätze ist im letzten Jahrzehnt um 50% gesunken. (BAMF-IOM Juni 2013)
Bildungskredite sind eine sehr junge Form der Bankdienstleistung. Die Zahl der Finanzinstitutionen, die solche Dienstleistungen anbieten ist landesweit eher gering. Die Nachfrage nach den Bildungskrediten erregt allgemein jedoch großes Interesse. Banken haben das Recht, eigene Listen von anerkannten Bildungsinstitutionen, Abteilungen und Kursen anzufertigen. Sie ziehen es vor, Kredite an Studenten zu vergeben, die sich für technische und naturwissenschaftliche Fächer entscheiden oder die eine führende russische Universität mit hohen Bildungsgebühren besuchen. (BAMF-IOM Juni 2013)
Schüler an kostenlosen staatlichen Schulen erhalten ein staatliches Stipendium, dessen Höhe bis zu RUB 1199 (ca. 38 USD) im Monat beträgt. Für Schüler weiterführender Fachschulen sind es RUB 436 (ca. 14 USD) im Monat. (BAMF-IOM Juni 2013)
Der Schulbesuch ist in Tschetschenien grundsätzlich möglich und findet unter zunehmend günstigen materiellen Bedingungen statt. Nach Angaben der VN entspricht die Anzahl der Lehrer wieder dem Niveau vor den Tschetschenienkriegen, allerdings sei die Versorgung mit Lernmitteln häufig noch unzureichend. (AA 10.6.2013)
2011 gab es nach Angaben des tschetschenischen Bildungsministers 215.000 Schüler/innen in 454 Schulen. Weiters gibt es 15 Technische Schulen und 3 Hochschulen, an denen insgesamt 60.000 Schüler/innen und Student/innen eingeschrieben sind. Zudem gibt es die Möglichkeit, "zusätzliche Schuleinrichtungen" wie Sport- oder Berufsschulen zu besuchen. An den Schulen unterrichten rund 18.000 Lehrer/innen, dennoch besteht weiterhin Lehrermangel. Dieser wird neben fehlenden Plätzen im Bereich der Vorschulbildung als vordringlichstes Problem im Bildungssektor genannt. (Rüdisser 2012)
Die Politik des Präsidenten der Republik Tschetschenien ist darauf ausgerichtet, das Ansehen von Bildung zu erhöhen. Diese Frage gehört nicht nur zum Aufgabenbereich des Bildungsministeriums, sondern auch der Bezirks-, Stadt- und Dorfadministrationen der Republik. Laut den Angaben des tschetschenischen Ministeriums für Bildung und Wissenschaft wurden 2007-2008 RUB 1 Billion 540 Millionen (USD 50 Millionen) für den Wiederaufbau von 3 Universitäten, 2 Fachhochschulen, 4 Berufsschulen und 25 Schulen ausgegeben. Im Jahre 2007 erhielten die Schulen 169 Lernausstattungen und 65 Busse (vor allem für die Schulen auf dem Land). Über 320 Schulen bekamen einen Internetanschluss und 102 Schulen erhielten je RUB 1 Million (USD 32258) für die Realisation innovativer Entwicklungsprogramme. (BAMF-IOM Juni 2013)
Korruption
Das Gesetz sieht Strafen für Korruption durch Beamte vor, aber die Regierung erkennt an, dass sie Probleme hat, das Gesetz effektiv durchzusetzen und Amtsträger oft in korrupte Praktiken involviert sind, ohne Strafverfolgung ausgesetzt zu sein. Korruption war in Exekutive, Legislative und Gerichtsbarkeit auf allen Ebenen des Staates weit verbreitet. Sie manifestiert sich vor allem in der Bestechung von Beamten, Budgetmissbrauch, Diebstahl von Staatseigentum, Schmiergeldzahlungen in Vergabeverfahren, Erpressung und Amtsmissbrauch zur Erlangung persönlicher Vorteile. Während es Strafverfahren wegen Bestechung gab, bleibt die mangelnde Rechtsdurchsetzung generell ein Problem. Korruption im staatlichen Bereich bleibt ein drängendes Problem in einer Vielzahl von Bereichen, inklusive Bildung, Einberufung zum Militärdienst, Gesundheitswesen, Handel, Wohnungswesen, Pensionen, Sozialleistungen, Rechtsdurchsetzung und im Gerichtssystem. (USDOS 27.2.2014)
Wirtschaftliche Lage
Der Lebensstandard im Nordkaukasus ist weitaus niedriger als im restlichen Russland. Die Einkommen liegen deutlich unter dem russlandweiten Durchschnitt. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt in Armut. (Heller, 6.1.2014)
Das Existenzminimum lag in Tschetschenien im dritten Quartal 2011 bei durchschnittlich 6.559 Rubel pro Monat. Ein Mindestwarenkorb an Lebensmitteln kostete im Dezember 2011 2.750 Rubel. Eine Alterspension betrug im 3. Quartal 2011 durchschnittlich 6.798 Rubel pro Monat. Der monatliche Durchschnittslohn lag im Jahr 2010 bei
13.919 Rubel, wobei man in der Textilbranche, in der Metallverarbeitung oder Kunststoffherstellung lediglich rund 4.500 Rubel verdiente. Der Durchschnittslohn im Föderationskreis Nordkaukasus lag 2010 bei nur 12.569 Rubel, russlandweit hingegen bei 20.952 Rubel. (Rüdisser)
Hinsichtlich der Verfügbarkeit und der Kosten von Grundnahrungsmitteln ist auf die Mentalität des tschetschenischen Volkes zu verweisen, diese hat es laut Einschätzung des tschetschenischen Landwirtschaftsministeriums ermöglicht, dass die Menschen selbst während der beiden Kriege genug zu essen hatten. Laut Beurteilung des Landwirtschaftsministeriums gibt es aufgrund der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung der tschetschenischen Bevölkerung auch heutzutage keine Familie in Tschetschenien, die sich nicht die Lebensmittel kaufen kann, welche sie benötigt. (Bericht 2011)
Die Arbeitslosigkeit in der Nord-Kaukasus-Region ist die höchste in Russland. Die Gesamtzahl der Arbeitslosen beträgt ca. 576.7 Tausend Menschen (bzw. 13% der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung). Die höchste Arbeitslosenquote findet man hierbei in Inguschetien - 47%, Tschetschenien - 33% und Dagestan - 11,6%. Die durchschnittliche Arbeitslosigkeit in Russland liegt bei 5,3%. (BAMF-IOM Juni 2013)
Die hohe Arbeitslosenrate wird von der tschetschenischen Regierung als größtes soziales Problem genannt, dessen Lösung vorrangiges Ziel der Regierungsarbeit ist. Angaben über die Arbeitslosenrate in Tschetschenien gibt es verschiedene. Anfang September 2011 gab es nach Auskunft des tschetschenischen Arbeits- und Sozialministeriums rund 200.000 registrierte Arbeitslose, was etwa 29% der erwerbsfähigen Bevölkerung entspricht. Der Vertreter des Föderationskreises Nordkaukasus gab die Arbeitslosenrate per September 2011 mit rund 38% an. 2007 lag die offizielle Arbeitslosenrate noch bei 66%. Der Herausgeber einer tschetschenischen Wochenzeitung schätzt die tatsächliche Arbeitslosenrate auf 85%. Laut IOM erhielt 2008 lediglich die Hälfte der offiziell als arbeitslos gemeldeten Personen Arbeitslosenunterstützung. (Rüdisser, 2012)
Formale Einkommensmöglichkeiten sind beschränkt. Die besten Chancen auf einen Arbeitsplatz bestehen im öffentlichen Sektor und bei der tschetschenischen Regierung. Einen Privatsektor und dementsprechend Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft gibt es so gut wie nicht. Korruption ist auch in der Wirtschaft weit verbreitet. Um einen Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst zu erhalten, ist vermutlich Bestechungsgeld zu zahlen. Ferner kann die Clanzugehörigkeit die Chancen am Arbeitsmarkt stark beeinflussen. Laut dem tschetschenischen Landwirtschaftsministerium sind etwa 70% der tschetschenischen Bevölkerung auch in der landwirtschaftlichen Produktion tätig. "Beschäftigung im Privathaushalt", also Produktion in den Bereichen Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Jagd oder Fischerei für den Eigenverbrauch oder Verkauf auf dem Markt, ist weit verbreitet. 2008 stand diese Beschäftigungsart auf dem dritten Platz der Beschäftigungsarten in der Republik. Die über Rosstat zu beobachtende Entwicklung lässt nur schwer diesbezügliche Schlüsse zu: Waren es 2008 noch insgesamt 104.000 Personen, die "im Haushalt" beschäftigt waren (32.000 davon produzierten für den Vertrieb, 72.000 ausschließlich für den Eigenverbrauch), so waren es im Jahr 2009 nur noch 24.000 Personen (8.000 für den Vertrieb). Zudem weist bereits eine Studie von IOM aus dem Jahr 2009 darauf hin, dass in Tschetschenien im Vergleich zu anderen Föderationssubjekten Russlands ein übermäßig hoher Anteil der Bevölkerung im semi-formalen und informellen Sektor tätig ist. Gemäß Rosstat waren in der Tschetschenischen Republik 2009 44,7% der gesamten beschäftigten Bevölkerung im informellen Sektor tätig - wesentlich mehr, als in der Russischen Föderation gesamt (19,5%). Im dritten Quartal 2011 sollen es nur mehr 31,3% gewesen sein, was nach wie vor über dem Landesdurchschnitt von 20,2% liegt. Fast alle dieser im informellen Sektor arbeitenden Tschetschenen sind ausschließlich in diesem tätig. (Rüdisser, 2012)
Die wichtigsten Wirtschaftszweige der Republik Tschetschenien sind:
Erdöl- und Erdgasförderung, die petrochemische Industrie, Landwirtschaft, Maschinenbau, Leichtindustrie und Forstwirtschaft. (BAMF-IOM Juni 2013) Nach Angaben des tschetschenischen Landwirtschaftsministeriums kann mittlerweile wieder ein Großteil des Eigenbedarfs selbst produziert werden. Dem Problem der Antipersonenminen tritt man entgegen, indem jährlich Landminen entschärft werden. Dennoch sind noch rund 250 km², also etwa 2,5% der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche Tschetscheniens aufgrund der Verminung nicht nutzbar. Neue Landminen kamen in den letzten Jahren aber nicht hinzu. (Rüdisser)
Mit der Schaffung des "Nord-Kaukasus Distrikts", der Annahme eines umfangreichen Programmes für die sozioökonomische Entwicklung und der Betrauung von Wirtschaftsfachleuten mit hohen politischen Funktionen in der Region verfolgt Moskau seit Anfang 2010 einen neuen, umfassenderen Ansatz zur Stabilisierung der nordkaukasischen Republiken. Anstatt den Fokus auf Sicherheitsaspekte im engeren Sinn zu legen und die nordkaukasischen Republiken durch Transferzahlungen in finanzieller Abhängigkeit zu halten, gehen die geplanten Maßnahmen in Richtung einer strukturellen und nachhaltigeren Konsolidierung. Der damalige Premierminister Putin hat am 6. September 2010 eine Strategie zur Entwicklung des Nordkaukasus bis 2025 signiert. Die Strategie kombiniert föderale Programme und private Geschäftsprojekte und soll bis zu 400.000 Arbeitsplätze schaffen. Im Wirtschaftsbereich sollen vor allem die Bau-, die Energie-, die Agrar- und die Tourismusbranche gefördert werden. Insgesamt wurden Projekte mit dem Gesamtwert von 600 Mrd. Rubel (ca. 15 Mrd. Euro) gebilligt. Als Teil dieses Programmes wurden im Rahmen einer Sitzung der Kommission für sozio-ökonomische Entwicklung im Nordkaukasus Anfang Mai 2011 von der russ. Regierung 30 vorrangige Investitionsprojekte für die Region ausgewählt. Für diese sollen 145 Mrd. Rubel (3,5 Mrd. Euro) zur Verfügung gestellt werden (ÖB Moskau September 2013). An der Umsetzung des Projekts "Nordkaukasus 2025" wird zum Teil auch bereits gearbeitet. Erklärtes Ziel ist es, für die Menschen im Nordkaukasus Arbeitsplätze und Perspektiven zu schaffen und damit Extremismus und Terrorismus den Nährboden zu entziehen. Bisher zeigen die Pläne und Maßnahmen jedoch kaum die offiziell gewünschte Wirkung. (AA 10.6.2013)
In der Republik Tschetschenien werden zudem zwei Bundesprogramme realisiert: Das Programm "Der Süden Russlands" und das Programm "Sozialer und wirtschaftlicher Wiederaufbau der Republik Tschetschenien". Diese beinhalten vor allem den Wiederaufbau der Infrastruktur, die Schaffung neuer Arbeitsplätze und die Wiederaufnahme der Landwirtschaft. Im Rahmen dieser Programme werden Kompensationszahlungen für zerstörte Wohnungen und Häuser geleistet und Schulen aufgebaut. Der Wiederaufbau von Städten und (Berg‑)Dörfern schreitet weiter voran. Ähnliche Aufbaumaßnahmen wurden im Nozhay-Yurtovskiy Bezirk 2009 durchgeführt. Selbst Dörfer, die vor dem Krieg nicht an das Gasnetz angeschlossen waren, werden jetzt mit Energie versorgt. Der Wiederaufbau wird mit staatlichen Geldern und über Kredite finanziert. (BAMF-IOM Juni 2013) Die ehemals zerstörte Hauptstadt Tschetscheniens Grosny ist inzwischen dank föderaler Gelder fast vollständig wieder aufgebaut. (AA 10.6.2013)
Finanziell bleibt die Republik Tschetschenien nach wie vor von Förderungen aus Moskau abhängig. Schätzungen zufolge stammen auch heute noch bis zu 90% des tschetschenischen Budgets aus föderalen Geldern, was von Ramsan Kadyrow jedoch bestritten wird. (Rüdisser)
Die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung haben sich dank großer Zuschüsse aus dem russischen Föderalen Budget nach Angaben von internationalen Hilfsorganisationen seit 2007 deutlich verbessert - ausgehend von sehr niedrigem Niveau. Die Durchschnittslöhne in Tschetschenien liegen spürbar über denen in den Nachbarrepubliken. Die Staatsausgaben in Tschetschenien sind pro Einwohner doppelt so hoch wie im Durchschnitt des südlichen Föderalen Bezirks. Gleichwohl bleibt Arbeitslosigkeit und daraus resultierende Armut der Bevölkerung das größte soziale Problem. (AA 10.6.2013)
Medizinische Versorgung:
Die medizinische Versorgung in Russland ist auf einfachem Niveau, aber grundsätzlich ausreichend. Zumindest in den Großstädten, wie Moskau und St. Petersburg, sind auch das Wissen und die technischen Möglichkeiten für anspruchsvollere Behandlungen vorhanden. Nach Einschätzung westlicher NROs ist das Hauptproblem weniger die fehlende technische oder finanzielle Ausstattung, sondern ein gravierender Ärztemangel. Hinzu kommt, dass die Gesundheitsversorgung zu stark auf klinische Behandlung ausgerichtet ist und gleichzeitig Allgemeinmediziner fehlen. Außerdem ist das Gesundheitssystem strukturell unterfinanziert. Russische Bürger haben ein Recht auf kostenfreie medizinische Grundversorgung, doch in der Praxis werden nahezu alle Gesundheitsdienstleistungen erst nach verdeckter privater Zuzahlung geleistet. Nach Angaben des Zentrums für soziale Politik der Russischen Wissenschaftsakademie erhält rund die Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung keine medizinische Versorgung, da diese Menschen keine Zeit für Warteschlangen in den formell kostenlosen medizinischen Einrichtungen haben. (AA 10.6.2013)
Im Rahmen der Krankenpflichtversicherung (OMS) können russische Staatsbürger eine kostenlose medizinische Grundversorgung in Anspruch nehmen, die durch staatliche Finanzmittel, Versicherungsbeiträge und andere Quellen finanziert wird. Die Versicherungsgesellschaften werden für jede Region von staatlicher Seite ausgewählt. Die kostenlose Versorgung soll folgende Bereiche abdecken: - Notfallhilfe - ambulante Versorgung und Vorsorgemedikamente, Diagnose und Behandlung von Krankheiten zuhause und in Polikliniken - Behandlung im Krankenhaus (BAMF-IOM Juni 2013; ÖB Moskau September 2013)
Jede OMS-registrierte Person hat eine Krankenversicherungskarte mit einer individuellen Nummer. Diese wird auf der Basis eines Abkommens zwischen einer Einzelperson und dem Versicherungssystem ausgestellt. Nach der Registrierung im Versicherungssystem erhalten die Bürger die entsprechende Übereinkunft sowie eine Plastikkarte, wodurch ihnen der Zugang zur medizinischen Versorgung auf dem Gebiet der Russischen Föderation garantiert wird; unabhängig von ihrem Wohnort. Bei der Anmeldung in einer Klinik muss zunächst die Karte (oder alternativ das Abkommen mit der Versicherung) vorgelegt werden, es sei denn, es handelt sich um einen Notfall. Die ambulante Behandlung kann von allen russischen Staatsbürgern kostenlos in Anspruch genommen werden. Ehemalige Arbeitnehmer sollten ihre Versicherungskarte nach der Entlassung dem Unternehmen aushändigen. Der Arbeitgeber wird die Karte der Versicherungsgesellschaft aushändigen. Arbeitslose, Kinder und Rentner erhalten ihre OMS-Karte von der Versicherungsgesellschaft in Abhängigkeit von ihrem Wohnort. Es sollten Dokumente zur Bestätigung der Meldung in einem bestimmten Gebiet vorgelegt werden: ein Pass, ein temporärer Ausweis, ein Versicherungszertifikat oder das Formular Nr. 9, für den Fall, dass kein Pass vorhanden ist. Für Kinder ist die Geburtsurkunde und das ausgefüllte Formular Nr. 9 vorzulegen. Für Kinder bis einschließlich 14 Jahren existiert ein gesondertes System der kostenlosen medizinischen Versorgung, sofern eine Registrierung in der Krankenpflichtversicherung (OMS) vorliegt. Kinder, die älter als 14 sind, werden in der Regel in medizinischen Einrichtungen für Erwachsene behandelt. (BAMF-IOM Juni 2013; ÖB Moskau September 2013)
Die Notfallversorgung über die "Schnelle Hilfe" (Telefonnummer 03) ist gewährleistet. Die sogenannten Notfall-Krankenhäuser bieten einen medizinischen Grundstandard. (AA 10.6.2013)
Für einfache medizinische Hilfe, die in der Regel in Polikliniken erwiesen wird, haben Personen das Recht die medizinische Anstalt nicht öfter als einmal pro Jahr, unter anderem nach dem territorialen Prinzip (d.h. am Wohn-, Arbeits- oder Ausbildungsort), zu wechseln. Davon ausgenommen ist ein Wechsel im Falle einer Änderung des Wohn- oder Aufenthaltsortes. In der ausgewählten Organisation können Personen ihren Allgemein- bzw. Kinderarzt nicht öfter als einmal pro Jahr wechseln. Falls eine geplante spezialisierte medizinische Behandlung im Krankenhaus nötig wird, erfolgt die Auswahl der medizinischen Anstalt durch den Patienten gemäß der Empfehlung des betreuenden Arztes oder selbständig, falls mehrere medizinische Anstalten zur Auswahl stehen. Das territoriale Prinzip sieht vor, dass die Zuordnung zu einer medizinischen Anstalt anhand des Wohn-, Arbeits-, oder Ausbildungsorts erfolgt. Das bedeutet aber auch, dass die Inanspruchnahme einer medizinischen Standardleistung (gilt nicht für Notfälle) in einem anderen, als dem "zuständigen" Krankenhaus, bzw. bei einem anderen, als dem "zuständigen" Arzt, kostenpflichtig ist. Selbstbehalte sind nicht vorgesehen. Es wird aber berichtet, dass in der Praxis die Bezahlung von Schmiergeld zur Durchführung medizinischer Untersuchungen und Behandlungen teilweise durchaus erwartet wird. (ÖB Moskau September 2013)
Die Versorgung mit Medikamenten ist zumindest in den Großstädten gut, aber nicht kostenfrei. Neben russischen Produkten sind gegen entsprechende Bezahlung auch viele importierte Medikamente erhältlich. (AA 10.6.2013) Die Versorgung mit Medikamenten erfolgt:
- In ambulanten Kliniken, städtischen und Gebietskrankenhäusern sowie im Falle einer Behandlung zu hause, auf Kosten des Patienten; ausgenommen sind Personen, die einer der Kategorien angehören, die einen Anspruch auf staatliche Unterstützung haben.
- In 24-Stunden-Krankenhäusern und Tageskliniken werden die Ausgaben von der staatlichen Krankenversicherung (OMS) und den lokalen Budgets gedeckt. Dies bedeutet, dass Medikamente kostenlos an entsprechend pflichtversicherte Patienten herausgegeben werden.
- Im Rahmen einer Notfallversorgung sind die benötigten Medikamente kostenlos; nicht nur innerhalb einer Klinik, sondern auch außerhalb. Diese Kosten werden für alle Staatsbürger vom Staatsbudget gedeckt. Dies schließt auch Personen ein, die nicht im OMS-System registriert sind. (BAMF-IOM Juni 2013)
Im Allgemeinen gilt, dass alle russischen Staatsbürger - sowohl im Rahmen einer Krankenpflichtversicherung als auch anderweitig versicherte - für etwaige Medikamentenkosten selbst aufkommen. Ausnahmen von dieser Regelung gelten nur für besondere Personengruppen, die an bestimmten Erkrankungen leiden und denen staatliche Unterstützung zuerkannt worden ist (einschließlich kostenloser Medikation, Sanatoriumsbehandlung und Transport (Nahverkehr und regionale Züge). Die Behandlung und die Medikamente für einige Krankheiten werden auch aus regionalen Budgets bestritten. Die Liste von Erkrankungen, die Patienten berechtigen, Medikamente kostenlos zu erhalten, wird vom Ministerium für Gesundheit und soziale Entwicklung erstellt. Sie umfasst:
Makrogenitosomie, multiple Sklerose, Myasthenie, Myopathie, zerebrale Ataxie, Parkinson, Glaukom, geistige Erkrankungen, adrenokortikale Insuffizienz, AIDS/HIV, Schizophrenie und Epilepsie, systemisch chronische Hauterkrankungen, Bronchialasthma, Rheumatismus, rheumatische Gicht, Lupus Erythematosus, Morbus Bechterew, Diabetes, Hypophysen-Syndrom, zerebral-spastische Kinderlähmung, fortschreitende zerebrale Pseudosklerose, Phenylketonurie, intermittierende Porphyrie, hämatologische Erkrankungen, Strahlenkrankheit, Lepra, Tuberkulose, akute Brucellose, chronisch-urologische Erkrankungen, Syphillis, Herzinfarktnachsorge (6 Monate nach dem Infarkt), Aorten- und Mitralklappenersatz, Organtransplantationen, Mukoviszidose bei Kindern, Kinder unter 3Jahren, Kinder unter 6 Jahren aus sehr kinderreichen Familien, im Falle bettlägeriger Patienten erhält ein Angehöriger oder Sozialarbeiter die Medikamente gegen Verschreibung. (BAMF-IOM Juni 2013)
Die Medikamentenpreise sind von Region zu Region und, teilweise auch in Abhängigkeit von der Lage einer Apotheke unterschiedlich, da es in der Russischen Föderation keine Fixpreise für Medikamente gibt. Die Preise für Aspirin-Tabletten in Moskauer Apotheken liegen beispielsweise zwischen 40 (ca. 1,28 USD) und 180 RUB (ca. 5,80 USD). Um Arzneimittel erhalten zu können, sollte die betreffende Person über einen Personalausweis und eine Krankenpflichtversicherung (OMS) oder eine freiwillige Krankenversicherung (DMS) verfügen. (BAMF-IOM Juni 2013)
Es werden in der Russischen Föderation folgende Formen kostenloser psychiatrischer Hilfe staatlicherseits gewährleistet: psychiatrische Behandlung, dringende psychiatrische Hilfe, konsultative Diagnostik, psychoprophylaktische Hilfe, stationäre wie außerstationäre Rehabilitationshilfe, alle Arten psychiatrischer Gutachten, Feststellung einer vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit, Unterstützung der Menschen mit psychischen Abweichungen im Alltag und bei der Arbeitsbeschaffung, Klärung der mit einer Vormundschaft verbundenen Fragen, Rechtsberatung und andere Arten juristischer Hilfe in psychiatrischen und psychoneurologischen Einrichtungen, soziale Unterstützung körperlich behinderter und älterer psychisch Kranker im Alltag und ihre Pflege, Berufsbildung für körperlich behinderte und minderjährige psychisch Kranker und psychiatrische Hilfe und Betreuung im Notfall. (BAMF-IOM Juni 2013)
Zur aktuellen Lage der medizinischen Versorgung in der Republik Tschetschenien liegen unterschiedliche Einschätzungen vor. Nach Angaben des IKRK soll die Situation der Krankenhäuser für die medizinische Grundversorgung inzwischen das durchschnittliche Niveau in der Russischen Föderation erreicht haben. Problematisch bleibt jedoch auch laut IKRK die Personallage im Gesundheitswesen, da viele Ärzte und medizinische Fachkräfte Tschetschenien während der beiden Kriege verlassen haben. (AA 10.6.2013)
Angaben liegen nur für die tschetschenische Hauptstadt vor: Im Rahmen der Durchführung des vorrangigen nationalen Projekts "Gesundheitswesen" finden in fast allen medizinischen Einrichtungen der im Krieg zerstörten Stadt Grosny Wiederaufbauarbeiten statt. (BAMF-IOM Juni 2013) Nach den massiven Zerstörungen - bis zu 70% der medizinischen Infrastruktur - ist der physische Wiederaufbau auch im Gesundheitswesen mittlerweile weit fortgeschritten. Insgesamt gab es 2011 in Tschetschenien 368 medizinische Einrichtungen, wie (Bezirks- und Republiks‑)Krankenhäuser und Polykliniken. Polykliniken sind Ambulanzen, in denen (Vorsorge‑)Untersuchungen und ambulante Behandlungen durchgeführt werden. In jeder Bezirkshauptstadt - der größte tschetschenische Bezirk hat rund 3.000 km2 - gibt es mindestens ein allgemeines Krankenhaus mit Betten. Spezialisierte Einrichtungen, wie etwa Krankenhäuser für psychisch Kranke, eine Republiksfürsorgestelle für Haut- und Geschlechtskrankheiten, ein Klinisches Republikskrankenhaus für Kriegsveteran/innen oder eine Republiksfürsorgestelle für den Kampf gegen Tuberkulose, finden sich in der Hauptstadt Grosny. Auch bezüglich weiterer von Rosstat veröffentlichter Kennzahlen zeichnen sich Besserungen im Gesundheitswesen ab: So stieg die Anzahl der Ärzt/innen von 17,7 pro 10.000 Einwohner/innen im Jahr 2004 auf 28,6 im Jahr 2010. Im föderationsweiten Vergleich zeigt sich jedoch dennoch weiterer Aufholbedarf, stehen doch in Russland durchschnittlich 50,1 Ärzt/innen pro 10.000 Einwohner/innen zur Verfügung. Ähnliches gilt für die Anzahl an Krankenhausbetten. Hier wird jedoch ersichtlich, dass Tschetschenien zwar unter dem Landesdurchschnitt, aber über dem Durchschnitt des Föderationskreises Nordkaukasus (FKNK) liegt:
Während es landesweit 93,7 Betten sind, so stehen im FKNK durchschnittlich 77,7, in der Tschetschenischen Republik aber 82,5 Betten pro 10.000 Einwohner/innen zur Verfügung. Medizinische Grundversorgung ist flächendeckend verfügbar. Grundsätzlich sind - bis auf Herz- und einige wenige weitere komplizierte Operationen - alle medizinischen Behandlungen in der Republik Tschetschenien möglich. Für nicht vor Ort verfügbare Behandlungen steht die Möglichkeit offen, in andere Teile der Russischen Föderation zu reisen. Medizinische Behandlungen sind über die Pflichtversicherung zudem de jure kostenlos. Dennoch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass einerseits die Qualität der medizinischen Versorgung unter dem Mangel an Fachkräften und Ausstattung leiden kann, sowie andererseits aufgrund der allseits verbreiteten Korruption auch davon ausgegangen werden muss, dass de facto für medizinische Behandlungen von Patient/innen "private Zuzahlungen" geleistet werden müssen. (Rüdisser, 2012)
Wohnsituation:
Die Wohnsituation in der Russischen Föderation ist im Allgemeinen als schwierig zu bezeichnen. Die durchschnittliche Wohnfläche in einem Haus oder einer Wohnung liegt bei 19-20 m² pro Person (2-3 mal weniger als in entwickelten europäischen Ländern). Diese Art der Unterkunft steht Statistiken zufolge jedoch weniger als 50% der Bevölkerung zur Verfügung. 4,2 Millionen Familien warten gegenwärtig auf eine staatliche Unterbringung in neuen bzw. instand gesetzten Unterkünften. Es wird darauf hingewiesen, dass die Wartezeiten bis zum Erhalt einer Unterkunft im Rahmen eines Sozialprogrammes bei 15-20 Jahren liegen können. Anspruchsberechtigt sind Personen mit bestimmten Erkrankungen, Personen, die auf weniger als 10m² leben, Familien mit 4 und mehr Kindern etc. Im Rahmen des Sozialwohnungswesens gibt es folgende Angebote: - Es gibt ein System der sogenannten "Sozialrente", d.h. Personen, die auf die Verbesserung ihrer Wohnsituation warten - zumeist Personen mit niedrigem Einkommen - erhalten eine staatliche oder städtische Unterkunft. Der Wohnstandard in diesen Fällen beträgt 12m² pro Person. Nach einer entsprechenden Entscheidung durch die zuständige Behörde wird die Unterkunft kostenlos gewährt. - Es gibt Programme, die junge Familien mit Kindern unterstützen, in denen die Eltern jünger als 35 sind. Das bedeutet, dass die Familien eine spezielle Subvention erhalten oder der Staat Teile der Wohnkosten übernimmt bzw. ein Kredit zu Vorzugsbedingungen gewährt wird.
- Kinder aus Waisenhäusern haben mit 18 Jahren ein Anrecht auf eine Sozialwohnung vom Staat. - Flüchtlinge und Vertriebene können temporär auf speziellen staatseigenen Grundstücken kostenlos untergebracht werden, sofern ihr Flüchtlingsstatus staatlich anerkannt worden ist.
- Es gibt ein System von staatlichen Institutionen für ältere Menschen, behinderte Erwachsene und Kinder. Sie können dort kostenlos untergebracht werden und erhalten Zugang zur medizinischen Versorgung. - Es gibt staatliche Krisenzentren und Unterkünfte für Erwachsene und Kinder, die vom Ministerium für Gesundheit und soziale Entwicklung geführt werden, sowie ein Netzwerk von sozialen Einrichtungen, die auf die Unterstützung von Kindern und Familien ausgerichtet sind. - Viele nicht-staatliche Unterkünfte werden von NGOs geführt. Staatliche Unterstützung für diese Einrichtungen ist ungewöhnlich und die meisten dieser Unterkünfte werden von internationalen und ausländischen Organisationen finanziert. Aufgrund mangelnder Finanzierung ist die Verfügbarkeit begrenzt und es ist nicht möglich, alle hilfsbedürftigen zu versorgen. (BAMF-IOM Juni 2013)
Wohnraum bleibt ein großes Problem in Tschetschenien. Nach Schätzungen der VN wurden in den Tschetschenienkriegen seit Anfang der neunziger Jahre über 150.000 private Häuser sowie ca. 73.000 Wohnungen zerstört. Die Auszahlung von Kompensationsleistungen für kriegszerstörtes Eigentum ist noch nicht abgeschlossen. Problematisch ist auch in diesem Zusammenhang die Korruption (man geht davon aus, dass 30-50% gewährter Kompensationssummen gleich wieder als Schmiergelder gezahlt werden müssen). (AA 10.6.2013)
Wiedereinreise nach Tschetschenien
Bei der Einreise nach Russland werden die international üblichen Pass- und Zollkontrollen durchgeführt. Personen ohne reguläre Ausweisdokumente wird in aller Regel die Einreise verweigert. Russische Staatsangehörige können grundsätzlich nicht ohne Vorlage eines russischen Reisepasses wieder in die Russische Föderation einreisen (AA 10.6.2013; vgl. auch SFH 22.4.2013). Nach Angaben des Leiters der Pass- und Visa-Abteilung im tschetschenischen Innenministerium haben alle 770.000 Bewohner Tschetscheniens, die noch die alten sowjetischen Inlandspässe hatten, neue russische Inlandspässe erhalten. Noch nicht endgültig gelöst ist die Ausstellung von Reisepässen für die Bewohner Tschetscheniens, weil den dortigen Behörden keine Vordrucke anvertraut wurden. (AA 10.6.2013)
Russische Staatsangehörige, die kein gültiges Personaldokument vorweisen können, müssen eine Geldstrafe zahlen, erhalten ein vorläufiges Personaldokument und müssen bei dem für sie zuständigen Meldeamt die Ausstellung eines neuen Inlandspasses beantragen. Der Inlandspass ermöglicht die Abholung der Pension vom Postamt, die Arbeitsaufnahme, die Eröffnung eines Bankkontos, aber auch den Kauf von Bahn- und Flugtickets. (AA 10.6.2013) Es ist möglich, dass eine Person, die im Reisepass keinen Ausreistempel aus Russland vorweisen kann, von den Behörden genauer überprüft wird. Haben Personen durch ihre Ausreise gegen russische Gesetze verstoßen, wie zum Beispiel im Fall eines Wehrdienstentzuges, droht ihnen bei der Rückkehr nach Russland unter Umständen ein Strafverfahren. (SFH 22.4.2013) Asylantragstellung im Ausland ist in der Russischen Föderation kein Straftatbestand. (ÖB Moskau September 2013)
Es ist grundsätzlich möglich, von und nach Tschetschenien ein- und auszureisen und sich innerhalb der Republik zu bewegen. An den Grenzen zu den russischen Nachbarrepubliken befinden sich jedoch nach wie vor Kontrollposten, die gewöhnlich eine nicht staatlich festgelegte "Ein- bzw. Ausreisegebühr" erheben. (AA 10.6.2013)
Von einer NGO in Tschetschenien, die freiwillige Rückkehrer betreut, wurde mitgeteilt, dass freiwillige Rückkehrer bei Behördenkontakten in der Regel nicht mit besonderen Problemen konfrontiert seien. Es sei weder ein besonders Prozedere für Rückkehrer noch Befragungen vorgesehen. Rückkehrer müssten auch bei der Neuausstellung von Dokumenten keine besonderen Fragen beantworten, viele seien ohnehin noch im Besitz ihres russischen Inlandspasses. Sogar wenn ein Heimreisezertifikat vorgelegt werde, würde dies nicht zu Problemen führen, da den Behörden die Situation in diesem Fall ohnehin klar wäre. Nichtsdestotrotz wurde mitgeteilt, dass es Einzelfälle gab, wo freiwillige Rückkehrer mit Heimreisezertifikaten bei Ankunft am Flughafen Moskau für einige Stunden angehalten wurden. Es sei ein Fall bekannt, wo ein freiwilliger Rückkehrer angeblich als ehemaliger Widerstandskämpfer "mitgenommen worden sei". (ÖB Moskau September 2013)
Die Abschiebung von russischen Staatsangehörigen aus Österreich nach Russland erfolgt in der Regel im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Russischen Föderation über die Rückübernahme (im Folgenden: Rückübernahmeabkommen). Der Abschiebung geht, wenn die betroffene Person in Österreich über kein gültiges Reisedokument verfügt, ein Identifizierungsverfahren durch die russischen Behörden voraus. Wird dem Rückübernahmeersuchen stattgegeben, wird für diese Personen von der Russischen Botschaft in Wien ein Heimreisezertifikat ausgestellt. Gemäß Rückübernahmeabkommen muss die Rückstellung 10 Tage vor Ankunft in der Russischen Föderation den russischen Behörden mitgeteilt werden. Wenn die rückzuübernehmende Person im Besitz eines gültigen Reisedokuments ist, muss kein Rückübernahmeersuchen gestellt werden. Bei Ankunft in der Russischen Föderation wird den Abgeschobenen von einem Mitarbeiter des Föderalen Migrationsdiensts der Russischen Föderation ein Fragebogen ausgehändigt. Das Ausfüllen dieses Fragebogens beruht auf Freiwilligkeit. Darin werden u.a. Fragen zum beabsichtigten Wohnsitz in Russland gestellt, zum Grund des Verlusts des Reisedokuments und ob man in dem Land, aus dem man abgeschoben wurden, ordentlich behandelt wurde. Dieser Fragebogen dient laut Auskunft der russischen Seite dazu, die lokalen Stellen des Föderalen Migrationsdienstes am Ort des beabsichtigten Wohnsitzes zu informieren, dass eine Überprüfung der Identität und der Staatsangehörigkeit bereits im Zuge der Rückübernahme stattgefunden hat und somit nicht nochmals erforderlich ist. Bei der Rückübernahme eines russischen Staatsangehörigen, nach dem in der Russischen Föderation eine Fahndung läuft, wird die ausschreibende Stelle über die Abschiebung informiert wird und, falls ein Haftbefehl aufrecht ist, kann diese Person in Untersuchungshaft genommen werden. (ÖB Moskau September 2013)
Informationen zur weiteren Situation von Abgeschobenen nach ihrer Rückkehr in die Russische Föderation liegen der Botschaft nicht vor. Im November 2012 wurde ein per Sammelflug aus Österreich abgeschobener Tschetschene auf Grundlage eines Haftbefehls wegen KFZ-Diebstahls unmittelbar nach seiner Ankunft am Flughafen in Moskau verhaftet. Wenige Tage später wurde ein weiterer, mit demselben Flug abgeschobener, Tschetschene in Grozny inhaftiert. Über beide Fälle wurde in den österreichischen Medien intensiv berichtet: (ÖB Moskau September 2013) Danial M. und eine weitere tschetschenische Person wurden am 28. November 2012 aus Österreich nach Moskau abgeschoben. Danial M. habe die österreichischen Behörden mehrfach darauf hingewiesen, dass er in Russland nicht sicher sei, weil er Aufständischen geholfen habe. Es gelang ihm bei der Ankunft in Moskau zunächst, sich einer Verhaftung zu entziehen. Er wurde später aufgegriffen und ist zurzeit in Tschetschenien in Haft. Danial M. wird vorgeworfen, dass er Verbindungen zu Aufständischen gehabt und an zwei terroristischen Attacken mitgewirkt haben soll. Wenn Danial M. schuldig gesprochen würde, droht ihm lebenslange Haft. Der 37-jährige Riswan W. wurde fünf Monate nach seiner freiwilligen Rückkehr aus Österreich im August 2011 in Grosny von Spezialeinheiten verhaftet. Ihm wird ebenfalls die Teilnahme am bewaffneten Widerstand vorgeworfen. Ihm drohen 15 bis 20 Jahre Haft. (SFH 22.4.2013; vgl. Die Presse, 30.6.2012)
Dem Auswärtigen Amt sind keine Fälle bekannt, in denen russische Staatsangehörige bei ihrer Rückkehr nach Russland allein deshalb staatlich verfolgt wurden, weil sie zuvor im Ausland einen Asylantrag gestellt hatten. Ebenso liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor, ob Russen mit tschetschenischer Volkszugehörigkeit nach ihrer Rückführung besonderen Repressionen ausgesetzt sind. Solange die Konflikte im Nordkaukasus, einschließlich der Lage in Tschetschenien, nicht endgültig gelöst sind, ist davon auszugehen, dass abgeschobene Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden erfahren. Dies gilt insbesondere für solche Personen, die sich gegen die gegenwärtigen Machthaber engagiert haben bzw. denen ein solches Engagement unterstellt wird, oder die im Verdacht stehen, einen fundamentalistischen Islam zu propagieren. (AA 10.6.2013)
Personen aus Tschetschenien, welche aus dem Ausland zurückkehren, werden oft verdächtigt, mit aufständischen Gruppen in Verbindung zu stehen. Rückkehrende werden in der Regel von Vertretern des Inlandgeheimdiensts FSB und des Innenministeriums verhört. Häufig würden sie bedroht, erpresst oder Strafverfahren gegen sie konstruiert. Tschetschenische Rückkehrende sollen bei den Befragungen geschlagen und gefoltert worden sein. Nach Angaben von Beobachtern soll es Fälle von Entführungen und Tötungen von tschetschenischen Rückkehrenden gegeben haben. Rückkehrende würden bedroht und zur Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst gezwungen. Der Auskunft eines Experten gemäß kann die Flucht einer Person aus Tschetschenien ins Ausland unter den geschilderten Umständen das Risiko einer Verfolgung bei einer Rückkehr erhöhen. Nach Ansicht eines Menschenrechtsaktivisten in Grosny würden Personen, die früher einmal verdächtigt wurden, bei einer Rückkehr wieder in das Visier der Behörden geraten. (SFH 22.4.2013)
Humanitäre Lage der Rückkehrer nach Tschetschenien
Schwierig bleibt die humanitäre Lage der tschetschenischen Flüchtlinge/Binnenvertriebenen innerhalb und außerhalb Tschetscheniens, wiewohl ihre Zahl rückläufig ist. Laut Dänischem Flüchtlingsrat (DRC) leben allein in Tschetschenien und Inguschetien derzeit noch bis zu 5.000 Flüchtlinge in akuter Not. Die Binnenvertriebenen leben in Übergangsunterkünften, aber auch in Privatwohnungen oder bei Verwandten. Auf Drängen der russischen Seite hat UNHCR seine Mission zur Unterstützung von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen im Nordkaukasus 2011 beendet, sieht jedoch weiterhin erheblichen Handlungsbedarf auch in Tschetschenien. Die tschetschenische Diaspora in allen russischen Großstädten ist in den letzten Jahren stark angewachsen (200.000 Tschetschenen sollen allein in Moskau leben). (AA 10.6.2013)
Einerseits stehen Rückkehrer, ebenso wie die restliche Bevölkerung vor den alltäglichen Problemen der Region. Dies betrifft in erster Linie die hohe Arbeitslosigkeit, die Wohnungsfrage und die Beschaffung von Dokumenten sowie die Registrierung. Viele Häuser wurden für den Neubau von Grosny abgerissen und der Kauf einer Wohnung sei für viele unerschwinglich, die Arbeitslosigkeit sei um einiges höher als in den offiziellen Statistiken angegeben und bei der Beschaffung von Dokumenten würden oft Schmiergeldzahlungen erwartet. Darüber hinaus stellen Rückkehrer eine besonders verwundbare Gruppe dar, da sie ein leichtes Opfer im Antiterrorkampf darstellen. Um die Statistiken zur Verbrechensbekämpfung aufzubessern, würden zum Teil Strafverfahren fabriziert und ehemaligen Flüchtlingen angelastet. Andererseits können Rückkehrer auch ins Visier staatlicher Behörden kommen, weil vermutet wird, dass sie tatsächlich einen Grund zur Flucht aus Tschetschenien hatten, d.h. Widerstandskämpfer waren oder welche kennen. Manchmal würden Rückkehrer gezwungen, für staatliche Behörden zu spionieren. Eine allgemein gültige Aussage über die Gefährdung von Personen nach ihrer Rückkehr nach Tschetschenien könne nicht getroffen werden, da dies stark vom Einzelfall und von der individuellen Situation des Rückkehrers abhängt. (ÖB Moskau September 2013)
Zur Wohnungssituation wurde mitgeteilt, dass Rückkehrer in der Regel bei Verwandten unterkommen. (ÖB Moskau September 2013)
Im Juni 2006 wurde in der Russischen Föderation ein Programm zur Unterstützung im Ausland lebender Landsleute bei der freiwilligen Umsiedlung nach Russland verabschiedet. Teilnehmer des Programms "Sootetschestwinniki" (russisch für "Landsleute") und etwaige Familienmitglieder haben der Kategorie des Einzugsterritoriums entsprechend das Recht auf eine Erstattung der Umzugskosten sowie auf Fördergelder und auf den Erhalt des sogenannten Kompensationspakets. Die Teilnahme an diesem staatlichen Programm ermöglicht es Landsleuten mit ausländischer Staatsbürgerschaft, eine Aufenthaltsgenehmigung, unbefristete Aufenthaltserlaubnis bzw. die russische Staatsbürgerschaft in beschleunigtem Verfahren zu bekommen. Zur Teilnahme an diesem Programm ist ein Teilnehmerzeugnis, das in den Vertretungen des Bundesdienstes für Arbeit und Beschäftigung zu erhalten ist, erforderlich. Die Möglichkeit der Teilnahme an diesem Programm wurde im September 2012 verlängert und ist zunächst unbefristet. (BAMF-IOM Juni 2013)
Seit 01.07.2010 implementiert IOM das Projekt "Unterstützung der Freiwilligen Rückkehr und Reintegration von Rückkehrenden in die Russische Föderation / Republik Tschetschenien", das vom Österreichischen Bundesministerium für Inneres und dem Europäischen Rückkehrfonds kofinanziert wird. Im Rahmen des Projekts werden Russische Staatsangehörige aus der Republik Tschetschenien, die freiwillig in ihre Heimat zurückkehren möchten, nicht nur bei der Rückkehr, sondern auch bei ihrer Reintegration im Herkunftsland unterstützt. Die Projektteilnehmer/innen erhalten nach ihrer Rückkehr Unterstützung von der lokalen Partnerorganisation (NGO Vesta), die soziale, rechtliche und wirtschaftliche Beratung zur Verfügung stellt und sie bei der Auswahl ihrer individuellen Reintegrationsmaßnahmen (z.B. Weiterbildungskurse, Geschäftsgründung, Erwerb von Werkzeug oder Materialien, etc.) unterstützt. Die Reintegrationsmaßnahmen erfolgen in Form von Sachleistungen im Wert von bis zu max. EUR 2.000 (pro Haushalt kann nur eine Person teilnehmen); im Fall von Kleingeschäftsgründungen, die eine Registrierung erfordern, ist eine zusätzliche Unterstützung von bis zu EUR 1.000 in Form von Sachleistungen möglich. Zusätzlich werden alle Rückkehrer/innen bei der Deckung der Lebenserhaltungskosten während der ersten Monate nach der Rückkehr mit EUR 500,- pro Fall unterstützt. Die Reintegrationsunterstützung kann z.B. für die folgenden Maßnahmen genutzt werden:
• Berufsausbildung: z.B. Computer- oder Sprachkurse, Buchhaltung, Reparatur von Haushaltsgeräten, Reparatur von Mobiltelefonen, Mechaniker/in, Holzarbeiter/in, Friseurbetrieb, Nagelpflege, Näharbeit, etc. • Ankauf von für die Ausübung eines Berufes benötigtem Werkzeug und geeigneter Ausrüstung • Unterstützung bei der Gründung eines Kleinunternehmens (z.B. in der Landwirtschaft, Milchwirtschaft, Ackerbau, Viehhaltung, Schweißer/in, Schneider/in, Zimmerer/in, kleine Geschäfte, Schönheitssalons, Werkstätten, Internet-Cafes, etc.). Die Unterstützung in Form von Sachleistungen wird unter anderem für den Ankauf von Ausrüstungsgegenständen, die für die Aufnahme des Betriebs nötig sind, sowie bei Bedarf für Geschäftsplanungs- und -managementstrainings verwendet. • Organisation von Kinderbetreuung und medizinischer Versorgung für RückkehrerInnen mit besonderen Bedürfnissen (IOM, Unterstützung)
Die Lage von zurückkehrenden Frauen ist sehr schwierig. Besonders schwierig ist es für Frauen, die als Kinder oder Jugendliche in den Westen gekommen sind, da sie eine ganz andere Mentalität haben. Wenn eine Frau keinen Mann an ihrer Seite hat, kann sie in Tschetschenien praktisch nicht überleben. Sie braucht in dieser patriarchalen Gesellschaft einen Mann an ihrer Seite, einen Bruder, einen Ehemann, einen Vater oder einen Cousin, der für sie die Verantwortung übernimmt und sie schützt. Personen, die aus anderen Regionen der Russischen Föderation, beispielsweise Inguschetien, nach Tschetschenien zurückgekehrt sind, also nicht wirklich aus dem Ausland, wurden in sogenannten ‚Punkten der vorübergehenden Unterbringung' einquartiert. Frauen, die einige Zeit im Ausland waren, zurückkehren und nicht mehr die Möglichkeit haben, in einem solchen ‚Punkt der vorübergehenden Unterbringung' zu wohnen, werden keinen Schutz erhalten. Wenn diese Frauen aber keinen ständigen Wohnsitz haben, können sie sich auch nicht polizeilich registrieren. Alle staatlichen Unterstützungsleistungen sind jedoch nach wie vor an die Registrierung geknüpft. (ACCORD 4.4.2014)
Zurückkehrende unbegleitete Minderjährige können in einem Kinderheim untergebracht werden, wenn sich keine Verwandten zur Aufnahme bereit erklären. Die Zuständigkeit liegt bei den Behörden des registrierten Wohnortes des Minderjährigen. Wie der damalige Präsident Medwedew im Herbst 2010 selbst einräumte, sind die Zustände in solchen Heimen nicht selten schlecht. (AA 10.6.2013)
Relokationsmöglichkeit in der Russischen Föderation
IOM bestätigte, dass die Grenze zwischen Tschetschenien und dem restliche Russland völlig offen ist, weil Tschetschenien ein integraler Bestanteil der Russischen Föderation ist. Es gibt fallweise Kontrollen, aber keine langen Autoschlangen oder lange Schlangen wartender Menschen. Autos können von den Sicherheitskräften bei solchen gelegentlichen Kontrollen kontrolliert werden. (DIS, Oktober 2011, Seite 16)
Die Reise bzw. der Aufenthalt von Personen aus den Krisengebieten im Nordkaukasus in anderen Teilen der Russischen Föderation ist grundsätzlich möglich, wird aber durch Transportprobleme, durch fehlende Aufnahmekapazitäten und durch antikaukasische Stimmung erschwert. Tschetschenen steht wie allen russischen Staatsbürgern das in der Verfassung verankerte Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zu. Jedoch wird der legale Zuzug an vielen Orten durch Verwaltungsvorschriften stark erschwert. In großen Städten wird der Zuzug von Personen reguliert und ist erkennbar unerwünscht. Dies beschränkt die Möglichkeit zurückgeführter Tschetschenen, sich legal dort niederzulassen. (AA 10.6.2013)
Alle erwachsenen russischen Staatsbürger müssen bei Inlandsreisen behördlich ausgestellte "Inlandspässe" mit sich führen und müssen sich nach ihrer Ankunft bei den lokalen Behörden registrieren. Personen ohne Inlandspass oder ohne ordentliche Registrierung wurden von Behörden oft staatliche Dienste verwehrt. (vgl. auch ACCORD 4.4.2014) Viele regionale Regierungen schränken das Recht durch Regelungen für die Registrierung des Wohnsitzes, die an Sowjetzeiten erinnern, ein. (USDOS 27.2.2014, vgl. auch AA 10.6.2013)
Mit dem Föderationsgesetz von 1993 wurde ein Registrierungssystem geschaffen, nach dem Bürger den örtlichen Stellen des Innenministeriums ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort und ihren Wohnsitz melden müssen. Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandspasses (ein von russischen Auslandsvertretungen in Deutschland ausgestelltes Passersatzpapier reicht nicht aus) und nachweisbarer Wohnraum. Nur wer eine Bescheinigung seines Vermieters vorweist, kann sich registrieren lassen.
Die dauerhafte Registrierung wird laut FMS in den Inlandsreisepass gestempelt, eine vorübergehende Registrierung ist auf einem einzulegenden Blatt Papier vermerkt. Bis zu 90 Tage kann man sich ohne jegliche Registrierung an einem Ort aufhalten. Die Registrierung kann in der räumlich zuständigen Zweigstelle des FMS in Russland vorgenommen werden. Besitzt eine Person nicht die für die Registrierung notwendigen Dokumente, so kann der FMS die Identität der Person über Datenbanken verifizieren, und die notwendigen Dokumente ausgestellt werden. (DIS Oktober 2011, Seite 16). Die vorübergehende Registrierung wurde erleichtert, indem sie nunmehr postalisch erledigt werden kann. Persönliches Erscheinen ist nun nicht mehr notwendig. (DIS Oktober 2011, Seite 17) Gemäß IOM besteht betreffend Zugang zur medizinischen Versorgung, Bildung oder sozialen Rechten, kein Unterschied zwischen dauerhafter und vorübergehender Registrierung. (DIS Oktober 2011, Seite 22).
Kaukasier haben jedoch größere Probleme als Neuankömmlinge anderer Nationalität, überhaupt einen Vermieter zu finden. Es sind Fälle von Tschetschenen in Moskau bekannt, die sich gegenüber ihren Vermietern als Tataren ausgaben, weil sie sich so weniger Schwierigkeiten bei ihrer Registrierung erhofften. (AA 10.6.2013) Zudem verheimlichen Tschetschenen oft ihre Volksgruppenzugehörigkeit, da Annoncen Zimmer oft nur für Russen und Slawen anbieten. Auch in St. Petersburg werden in Mietanzeigen Wohnungen oft nur für Russen angeboten. Tschetschenen nutzen aber ihre Netzwerke, um Wohnungen zu finden. (DIS August 2012, Seite 31; vgl. auch ACCORD 4.4.2014). Der Menschenrechtsbeauftragte der Russischen Föderation hat bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass Tschetschenen landesweit, insbesondere in den Großstädten häufig die Registrierung verweigert wird. (AA 10.6.2013) Gemäß einem Anwalt der Memorial Migration & Rights Programme and Civic Assistance Committee (CAC) haben Tschetschenen bei einer Registrierung in St. Petersburg nicht mehr Probleme als andere russische Bürger. Gemäß einem Vertreter der Chechen Social and Cultural Association ist die Registrierung des Wohnsitzes kein Problem für Tschetschenen. (DIS Oktober 2011, Seite 18) Laut SOVA leben viele Tschetschenen in der Region Stavropol, es gibt viele tschetschenische Studenten an der Universität der Stadt Stavropol. Dies führte bereits zu kleineren Spannungen im Süden der Region. (DIS Oktober 2011, Seite 15) Laut einem Vertreter des Committee Against Torture sind tschetschenische Familien, die in andere Regionen Russlands kommen, nicht automatisch schweren Rechtsverletzungen ausgesetzt. Öffentlich Bedienstete haben kein Recht, einem Tschetschenen die Registrierung zu verweigern, weshalb im Endeffekt jeder registriert wird. Tschetschenen können Diskriminierung durch die Behörden ausgesetzt sein, nicht aber Gewalt. Laut einer Vertreterin des House of Peace and Non-Violence und einer westlichen Botschaft zufolge könnten aber temporäre Registrierungen nur für drei Monate anstatt für ein Jahr ausgestellt werden, weshalb dann die betroffene Person öfter zum Amt kommen muss. (DIS August 2012, Seite 44) Mehrere Quellen gaben an, dass im Zuge der Registrierung vermutlich Bestechungsgeld zu zahlen ist. Es kann vorkommen, dass Personen aus dem Nordkaukasus eine höhere Summe zu zahlen angehalten werden. (DIS August 2012)
Memorial geht davon aus, dass der FMS die Polizei über die Registrierung eines Tschetschenen informieren muss. Einer internationalen Organisation zufolge ist es für jemanden, der einen Machtmissbrauch von lokalen Behörden in einem Föderationssubjekt fürchtet schwierig, einen sicheren Ort in einer anderen Region in Russland zu finden. Ist die Person registriert, ist es für die Behörden leichter, sie zu finden. (DIS August 2012) Gemäß einer Vertreterin des House of Peace and Non-Violence ist es für Tschetschenen leichter, in kleineren Orten als Moskau und St. Petersburg zu leben, jedoch ist es in großen Städten leichter, unterzutauchen. Personen, die Kadyrow fürchten, würden ihren Aufenthalt nicht registrieren lassen. (DIS August 2012, Seite 31)
Die regionalen Strafverfolgungsbehörden haben grundsätzlich die Möglichkeit, auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation Personen in Gewahrsam zu nehmen und in ihre Heimatregion zu verbringen. Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich häufig auch in russischen Großstädten vor dem "langen Arm" des Regimes von Ramsan Kadyrow nicht sicher. (AA 10.6.2013)
Was die Sicherheit von Tschetschenen in anderen Teilen der Russischen Föderation betrifft, so kann eine Beurteilung der Gefährdung nur im Einzelfall erfolgen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Tschetschenen, die in Tschetschenien keine Probleme hatten und etwa nur zur Arbeitssuche in einen anderen Teil der Russischen Föderation kommen (diese haben möglicherweise mit Diskriminierung und Anfeindungen aufgrund der weit verbreiteten Fremdenfeindlichkeit in Russland zu kämpfen) und Tschetschenen, die in Tschetschenien tatsächlich verfolgt werden (diese sind gegebenenfalls auch in anderen Teilen der Russischen Föderation nicht sicher), (ÖB Moskau September 2013). Swetlana Gannuschkina und Oleg Orlov (Memorial) gehen davon aus, dass Tschetschenen in andere Regionen Russlands ziehen können, und einige tun dies auch. Ist eine Person nicht offenkundig kritisch gegenüber Kadyrow, so kann diese überall in der Russischen Föderation leben, ohne Angst haben zu müssen getötet oder in die Republik Tschetschenien zurückgeschickt zu werden. (DIS Oktober 2011, Seite 35)
Eine Person, die dem Risiko der Verfolgung durch Staatsbeamte oder Personen, die im Einverständnis mit diesen handeln, ausgesetzt ist, kann sich nicht auf einen wirklich effektiven und dauerhaften Schutz in anderen Teilen der Russischen Föderation als ihrer Herkunftsregion verlassen. Das jeweilige Risiko besteht in der gesamten Russischen Föderation, in Einzelfällen sogar darüber hinaus. Amnesty International liegen Fälle vor, in denen Personen aus dem Nordkaukasus, die in andere Teile der Russischen Föderation übersiedelten (in einem Fall sogar bis nach Yakutia in Ostsibirien), zurück in den Nordkaukasus gebracht und dort wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in bewaffneten Gruppierungen inhaftiert, gefoltert und misshandelt wurden. Amnesty International sind auch umgekehrt Fälle bekannt, in denen Personen im Nordkaukasus gewaltsam verschwanden. Erst später stellte sich heraus, dass diese in Moskau als mutmaßliche Mitglieder bewaffneter Gruppen inhaftiert worden waren, die Familien nicht über den Aufenthaltsort informiert worden waren und die Gefangenen unterdessen Verhören ohne Zugang zu einem Anwalt ausgesetzt waren. (ACCORD 4.4.2014) Wird eine Person tatsächlich von Kadyrow gesucht, so könnte jener die Person überall in der Welt, auch in Kopenhagen, Wien, Dubai oder Moskau finden. Laut einem Anwalt von Memorial könnten Personen in Verbindung mit Oppositionsführern mit hohem Bekanntheitsgrad, aktive Rebellenkämpfer oder bekannte und tatverdächtige Terroristen der Bedrohung einer Entführung oder Tötung durch tschetschenische Behörden ausgesetzt sein. Ein Vertreter der Chechen Social and Cultural Association betrachtet es als unmöglich für die tschetschenischen Behörden, einen low-profile-Unterstützer der Rebellen in anderen Teilen der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens zu finden (DIS Oktober 2011, Seite 35).
‚Racial profiling' ist ein Problem bei der Arbeit russischer Polizeibehörden: Die Polizei nimmt also verstärkt Menschen - oftmals allein aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes - gezielt ins Visier. Die Personalpapiere der betroffenen Personen werden unverhältnismäßig häufiger auf eine ordnungsgemäße Anmeldung hin überprüft. Dabei kommt es nicht selten zu tätlichen Übergriffen oder anderen Einschüchterungsversuchen durch die Polizei. Die betroffenen Personen werden genötigt, Bestechungsgelder zu zahlen, um weiteren Schikanen zu entgehen. Darüber gibt es Informationen über Wohnungsdurchsuchungen bei Tschetschenen. Im Zuge der genannten Kontrollen und der Durchsuchungsaktionen laufen die Betroffenen Gefahr, willkürlich inhaftiert zu werden. Oft werden sie von der Polizei automatisch als potentielle Straftatverdächtige betrachtet. (ACCORD 4.4.2014) Personen mit dunklerer Hautfarbe aus dem Kaukasus oder afrikanischer oder asiatischer Herkunft wurden oft zur Überprüfung ihrer Dokumente herausgegriffen. Es gab glaubhafte Berichte, dass die Polizei nicht registrierte Personen willkürlich und über das gesetzlich vorgesehene Maß hinaus strafte oder Bestechungsgelder verlangte (USDOS 27.2.2014, vgl. auch AA 10.6.2013). Mehrere Quellen gaben an, dass Tschetschenen heutzutage weniger oft für Personenkontrollen herausgegriffen werden, als etwa Zentralasiaten. (DIS 8.2012, Seite 18). Der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen ist aus Angst vor Terroranschlägen und anderen extremistischen Straftaten aber immer noch erheblich. Russische Menschenrechtsorganisationen berichten von häufig willkürlichem Vorgehen der Miliz gegen Kaukasier allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Kaukasisch aussehende Personen stünden unter einer Art Generalverdacht. Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen (häufig ohne Durchsuchungsbefehle) finden weiterhin statt. (AA 10.6.2013) Laut einem Vertreter des Committee Against Torture ist Diskriminierung von Tschetschenen durch Behörden (etwa Polizisten) nicht auf einen Erlass oder Befehl der Regierung zurückzuführen, sondern auf persönliche Vorurteile und das Misstrauen einzelner. (DIS August 2012, Seite 6).
Zumindest gelegentlich kommt es nach Aussage mehrerer Quellen vor, dass Tschetschenen Drogen oder Waffen untergeschoben werden, um einen Strafrechtsfall zu fabrizieren. Jedoch kommen solche Fälle falscher Anschuldigungen weniger oft vor als vor einigen Jahren und sind nicht systematisch; betroffen von solchen Praktiken sind nicht nur Tschetschenen. (DIS August 2012, Seite 26).
Humanitäre Lage von Tschetschenen in der Russischen Föderation
Einem Vertreter einer NGO zufolge könnte es für einen Tschetschenen schwer sein, in einen anderen Teil der Russischen Föderation zu ziehen, wenn man dort keinerlei Verwandte hat. Jedoch gibt es Tschetschenen in fast allen Regionen Russlands. Das Bestehen einer tschetschenischen Gemeinschaft in einer Region kann Neuankömmlingen zur Unterstützung oder zum Schutz gereichen, es sei denn, es handelt sich um einen Clan-Konflikt. (DIS Oktober 2011, Seite 15).
Die russische Volkszählung 2010 zeigte, dass Tschetschenen in verschiedenen Teilen der Russischen Föderation leben. Zum Beispiel 14524 in Moskau (wobei hier die de facto Anzahl sicher um ein vielfaches höher ist), 1482 in Sankt Petersburg, 3343 in der Republik Kalmykien, 7229 im Gebiet Astrachan, 9649 im Gebiet Wolgograd, 5738 im Gebiet Saratov, 10502 im Gebiet Tjumen, 6889 im autonomen Kreis der Chanten und Mansen, 1309 im Gebiet Woronesch, 1075 im Gebiet Orlov, 1867 im Gebiet Twer, etc. (ÖB Moskau September 2013) Im Mai/Juni 2012 schätzte eine westliche Botschaft die Anzahl der Tschetschenen in Moskau auf Hunderttausende. Außerhalb Tschetscheniens leben die meisten Tschetschenen in Moskau und der Region Stawropol, eine größere Anzahl an Tschetschenen kann in St. Petersburg, Jaroslawl, Wolgograd und Astrachan gefunden werden. SK-Strategy schätzt die Zahl der in Moskau lebenden Tschetschenen auf 100.000 bis 200.000, rund 70.000 Tschetschenen seien in Moskau registriert, rund 50.000 in Jaroslawl. Die NRO Vainakh Congress schätzt die Zahl der Tschetschenen in der Region St. Petersburg auf 20.000 bis 30.000. (DIS August 2012, Seite 31). Ein Vertreter der Chechen Social and Cultural Association gab an, dass sein Verein in 60 Regionen in Russland Zweigstellen hat. Jede Zweigstelle erfasst 10.000 bis 20.000 Tschetschenen. Die meisten tschetschenischen Einwohner gibt es in Moskau und St. Petersburg, und in vielen der umgebenden Regionen. Beträchtliche tschetschenische Gemeinschaften gibt es auch in den Städten und Regionen im südlichen Russland, darunter in Volgograd, Saratov, Samara und Astrachan. Von den rund 100.000 Tschetschenen, die 1996 nach Moskau flohen, halten sich heutzutage noch rund 25.000 in der Region Moskau auf. Diese haben dort eine dauerhafte Registrierung. Zusätzlich lebt eine große Gruppe von Tschetschenen in Moskau und der Region Moskau, die nicht registriert ist, oder nur vorübergehend registriert ist. Ein großer Anteil der außerhalb Tschetscheniens lebenden Tschetschenen hätte keine Registrierung und arbeitet im Handel, auf Märkten und in Cafes. (DIS Oktober 2011, Seite 13). In St. Petersburg bevorzugen es viele Tschetschenen für 90 Tage unregistriert dort zu leben, und nach 90 Tagen neue Papiere zu suchen, die eine erst kürzliche Ankunft bestätigen, wie etwa ein Zugticket. (DIS Oktober 2011, Seite 18)
Sk-Strategy (Center for strategic studies and development of civil society in the North Caucasus) gab im Juni 2011 an, dass es unter Tschetschenen verbreitet sei, in andere Teile der Russischen Föderation zu ziehen, die Mehrheit tue dies aus wirtschaftlichen Gründen. Jene, die es sich leisten könnten, würden sich in Moskau oder St. Petersburg niederlassen, aber der durchschnittliche Tschetschene könne sich dies aufgrund der dortigen hohen Lebenshaltungskosten nicht leisten. Die meisten durchschnittlichen Tschetschenen ließen sich typischerweise in Städten mit weniger Einwohnern nieder und bevorzugten hier Hafenstädte, wie Murmansk, Arkhangelsk und Städte in der Region Leningrad. In kleineren Städten gibt es weniger Wettbewerb um Arbeitsplätze und tschetschenische Migranten fänden daher leichter Arbeit. Hafenstädte haben öfter eine heterogene Bevölkerung, das heißt eine Migrantengemeinde. Von einem solchen kosmopolitischen Klima können tschetschenische Migranten profitieren. (DIS Oktober 2011, Seite 13).
Die russische Verfassung garantiert gleiche Rechte und Freiheiten unabhängig von Rasse, Nationalität, Sprache und Herkunft. Entsprechend bemüht sich die Zentralregierung zumindest in programmatischen Äußerungen um eine ausgleichende Nationalitäten- und Minderheitenpolitik. (AA 10.6.2013; vgl. auch DIS Oktober 2011, Seite 25) In Russland ist man sich der Risiken, die Rassismus in einem traditionell multiethnischen Staat wie Russland darstellt, bewusst. Regelmäßig wird auf hoher und höchster politischer Ebene gegen Rassismus und Intoleranz appelliert. Es fehlt jedoch nach wie vor eine kohärente Politik zur Bekämpfung des grassierenden Rassismus. (vgl. auch AA 10.6.2013)
Immer wieder kommt es zu Fällen, in denen Auseinandersetzungen entlang ethnischer Linien verlaufen. Ethnische Stereotypen im Boulevardjournalismus und in der Alltagskultur verstärken besonders unter den russischen Moslems (12% der Bevölkerung) ein Gefühl der Entfremdung. (ÖB Moskau September 2013) Gemäß der Chechen Social and Cultural Association ist die negative Stimmung nicht nur gegen Tschetschenen, sondern gegen Personen aus dem Kaukasus insgesamt gerichtet. Eine zunehmende Anzahl von jungen Kaukasiern studiert an Universitäten in Moskau, diese würden ihre ethnische Zugehörigkeit und Kultur offen zur Schau stellen; gelegentlich käme es zu (auch physischen) Auseinandersetzungen. (DIS August 2012, Seite 9).
SOVA gab an, dass die Haltung gegenüber Personen aus dem Nordkaukasus negativer wird. Russen haben verschiedene Gründe, warum ihnen Personen aus dem Nordkaukasus unbehaglich seien: Diese werden als anders oder als gewalttätig betrachtet, oder man hat Angst vor terroristischen Aktivitäten. In großen Städten werden sie zudem als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt betrachtet (DIS August 2012, 6). Fremdenfeindliche und rassistische Ressentiments sind in der Bevölkerung und in den Behörden weit verbreitet und richten sich insbesondere gegen Kaukasier und Zentralasiaten. Regelmäßige Medienberichte über Schlägereien und Vandalismus zeigen, dass Ressentiments in Gewalt umschlagen können. Menschen "nichtslawischen Aussehens" werden Ziele fremdenfeindlicher Angriffe durch "Skinheads", obwohl seit einiger Zeit ein Rückgang der Opferzahlen zu verzeichnen ist. Für 2011 verzeichnete die Menschenrechts-NRO "Sowa" 20 Todesopfer (2010: 42) und 148 Verletzte (2010: 401) durch fremdenfeindliche Übergriffe. 2009 waren 84 Todesopfer und 433 Verletzte zu beklagen. (AA 10.6.2013) SOVA zufolge wurden bis Dezember [2013] durch rassistisch motivierte Gewalt 20 Personen getötet und 173 weitere verletzt. Neun Personen erhielten Todesdrohungen. Es wurden in 32 Regionen Vorfälle gemeldet. Die Gewalt konzentrierte sich auf Moskau und St. Petersburg. Die Opfer stammten hauptsächlich Zentralasien und dem Kaukasus. (USDOS 27.2.2014) Einer internationalen Organisation zufolge sind Moskau und St. Petersburg nicht mit anderen Städten Russlands vergleichbar, da dort die Menschen mehr Vorurteile gegenüber Migranten haben. Nicht nur Tschetschenen sind in den großen Städten Diskriminierung ausgesetzt. Die internationale Organisation geht jedoch nicht davon aus, dass im Allgemeinen diese Diskriminierung eine Verfolgung darstellt. (DIS August 2012, Seite 11). Betreffend rassistisch motivierter Gewalt gibt es keine allein Tschetschenen betreffenden Daten, Tschetschenen gehören hier zur Gruppe der Kaukasier. Es gibt keine Hinweise, dass Tschetschenen mehr als andere ethnische Gruppen aus dem Kaukasus Hassverbrechen zum Opfer fallen. Untererfassung von Hassverbrechen ist gemäß SOVA ein Thema und dürfte im Steigen begriffen sein. Im Verlauf der letzten 10 Jahre konzentrierten sich ultranationalistische Banden bei rassistisch motivierter Gewalt immer mehr auf Zentralasiaten, nicht zuletzt weil sich Kaukasier dieser Gewalt zunehmend widersetzten. (DIS Oktober 2011, Seite 24).
Ethnische Tschetschenen und Angehörige anderer nordkaukasischer Nationalitäten können in der Russischen Föderation (Kernrussland) von Diskriminierung am Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche sowie vor Gericht betroffen sein. (ÖB Moskau September 2013).
Russische Staatsbürger benötigen keine gesonderte Genehmigung, um eine Arbeit außerhalb der Region ihres Wohnsitzes anzunehmen, da sie landesweit freien Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Mit dem Erreichen des 14. Lebensjahres und der Ausstellung eines Personalausweises - dem wichtigsten internen Dokument - hat eine Person das Recht darauf, zu arbeiten. Für Personen, die jünger als 18 Jahre sind, gibt es Vorschriften zur verkürzten Arbeitszeit. Personen im Rentenalter können ebenfalls arbeiten. Es existiert darüber hinaus ein System von Leistungen zum Schutz der Arbeitnehmerrechte bestimmter Bürgergruppen, wie z.B. schwangeren Frauen und Müttern mit Kindern, die jünger als drei Jahre sind. In den meisten Fällen muss für eine Anstellung ein Personalausweis vorgelegt werden. Zusätzlich gibt es ein Dokumentations-System über die Arbeitshistorie einer Person im sogenannten "Arbeits-Nachweis-Buch". Dieses Buch wird beim Arbeitgeber hinterlegt, der es im Falle einer Auflösung des Arbeitsverhältnisses an den Arbeitnehmer aushändigt. Der Anteil der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung entsprach zuletzt 75,2 Millionen Menschen bzw. etwa 53% der Gesamtbevölkerung des Landes. Der vorwiegende Teil der arbeitenden Bevölkerung ist in großen und mittelständischen Unternehmen beschäftigt, die nicht dem Kleinunternehmertum zugerechnet werden. (BAMF-IOM Juni 2013) Mehreren Quellen zufolge finden nur sehr wenige Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens einen Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst und bei der Polizei (DIS August 2012, Seite 29).
Jeder Arbeitslose (außer Schülern, Studenten und Rentnern) kann einen Antrag auf Arbeitslosenhilfe stellen. Um die Arbeitslosenhilfe zu erhalten, müssen russische Staatsbürger bei den Beschäftigungszentren des Bundesarbeits- und Beschäftigtendienstes ("Rostrud") an ihrem Wohnort (entsprechend dem Meldestempel im Pass) gemeldet sein. (BAMF-IOM Juni 2013)
Die Arbeitsagentur wird dem Arbeitsuchenden innerhalb von 10 Tagen nach der Übermittlung seiner Dokumente entsprechende Stellen anbieten. Nimmt der Arbeitsuchende keine der angebotenen Stellen an, erhält er den Arbeitslosen-Status und die Arbeitslosenhilfe wird für ihn berechnet. Die Beihilfe wird auf Basis des Durchschnitts-Einkommens berechnet, das die Person während der letzten Beschäftigung bezogen hat; die Beihilfe ist jedoch begrenzt durch ein Minimum und ein Maximum, das durch die Russische Gesetzgebung festgelegt wurde. Seit 2009 liegt die minimale Beihilfe bei RUB 850 (27 USD) im Monat und das Maximum bei RUB 4900 (156 USD). Die Beihilfe wird monatlich gezahlt, vom ersten Tag der offiziellen Anerkennung der Arbeitslosigkeit. (BAMF-IOM Juni 2013)
Seit 2000 haben sich die Realeinkünfte der Bevölkerung im Durchschnitt mehr als verdoppelt, gleichzeitig ging die Armut zurück. Während nach offiziellen Angaben im Jahr 2000 in Russland über 29 % der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebten, waren es 2011 etwa 14 %. Staatliche Unterstützung reicht häufig jedoch nicht zur Deckung des Grundbedarfs. Die zwischenzeitlich gestiegene Arbeitslosenquote sank nunmehr wieder auf das Niveau vor der Wirtschaftskrise. (AA 10.6.2013)
Humanitäre Lage von Frauen und Müttern in der Russischen Föderation
Schwangerschaftsgeld: Vom 1. Januar 2007 an erhalten schwangere Frauen ein spezielles Schwangerschaftszertifikat (seit 2011: RUB 10.000 (ca. 319) USD), das sie für die Bezahlung der gynäkologischen Betreuung und Behandlung während der Schwangerschaft und der Geburt verwenden können. (BAMF-IOM Juni 2013)
Anlässlich der Geburt eines Kindes bzw. zu dessen Pflege gibt es in der Russischen Föderation ein Geburtengeld. Das Geburtengeld beträgt in Russland/in Tschetschenien 2013 ca. EUR 327,-. (ÖB Moskau, 10.5.2013)
Mutterschafts-Kapital: Die Kosten für den Kin Laut einem am 01. Januar 2007 erlassenen Gesetz erhalten russische Frauen, die mehr als zwei Kinder haben, vom Staat eine Einmalzahlung (in 2013 liegt diese bei RUB 408960 [USD 13065]), die bei einer Bank hinterlegt werden. Das zweite oder weitere Kind muss nach dem 1. Januar 2007 geboren worden sein. Dieses Geld nennt sich "Mutterschafts-Kapital" und wird auf einem speziellen Bankkonto hinterlegt, für das den Frauen ein Zertifikat ausgehändigt wird, das ihren Anspruch auf das Kapital bestätigt. Auf dieses Geld, das grundsätzlich nicht bar ausgezahlt wird, kann erst zugegriffen werden, wenn das Kind 3 Jahre alt ist (d.h. Frauen, die das Kapital im Januar 2007 erhalten, haben erst im Januar 2010 Zugriff darauf). Der hinterlegte Betrag darf nicht in bar ausgezahlt werden, sondern nur zu Investitionszwecken dienen, z.B. der Verbesserung der familiären Wohnverhältnisse, der Ausbildung der Kinder oder der Rente der Mutter. Diese Beihilfe erhält die Frau nur einmalig, auch wenn sie mehrere Kinder hat. Seit dem 01. Januar 2009 kann dieses Mutterschaftsgeld, unabhängig vom Alter des Kindes, auch zur Hypothekentilgung herangezogen werden. (BAMF-IOM Juni 2013)
Kindergeld: Diese finanzielle Unterstützung gibt es in zwei verschiedenen Formen: eine einmalige Zahlung an die Eltern nach der Geburt des Kindes in Höhe von RUR 13.087 (USD 418) und monatliche Zahlungen bis das Kind 1,5 Jahre alt ist. Seit 2012 beträgt das monatliche Kindergeld für berufstätige Frauen während des Mutterschaftsurlaubs beim ersten Kind mindestens 2326 RUB (ca. USD 74) und 4.651 RUB (ca. USD 148) für weitere Kinder. Für arbeitslose Frauen beträgt das monatliche Kindergeld während des Mutterschaftsurlaubs beim ersten Kind 2.453 RUB (78 USD) und 4.907 RUB (156 USD) für weitere Kinder. (BAMF-IOM Juni 2013)
Die Kosten für den Kindergartenbesuch dürfen 20% der laufenden Kosten (bei Familien mit einem Kind) nicht überschreiten. Familien mit zwei Kindern erhalten eine 50%ige Rückerstattung, Familien mit drei und mehr Kindern eine Kompensation in Höhe von 70%. Dieses Geld wird au das Konto eines Elternteils überweisen. Familien, in denen ein Kind eine Verhaltensstörung aufweist, zahlen keine Gebühren für den Besuch eines staatlichen Kindergartens. Die monatliche Kindergartengebühr liegt bei 1.500 RUB (USD 48), die Höhe schwankt je nach Wohnort. (BAMF-IOM Juni 2013)
In verschiedenen Regionen Russlands gibt es weitere ergänzende finanzielle Hilfsprogramme für alleinstehende Mütter. So sieht z.B. das Moskauer Programm abgesehen von den oben erwähnten Hilfen zusätzliche städtische Zahlungen vor, die auf die individuelle Sozialkarte überwiesen werden (monatliche Kompensation der Lebensmittelausgaben in Höhe von RUB 3.200 (USD 102) für Kinder bis 3 Jahre und RUB 1.600 (51 USD) für Kinder bis 16 Jahre. Alleinstehende Mütter erhalten außerdem Preisnachlässe für viele Waren, Konsumgüter und pharmazeutische Erzeugnisse, sowie materielle Hilfe in Naturalien. Zusammen mit der Sozialkarte bekommt man eine Auflistung von Geschäften, Apotheken und Dienstleistungsunternehmen, die Preisnachlässe gewähren. Gemäß den Rechtsnormen föderaler und kommunaler Gesetzgebung haben alleinstehende Mütter (und Väter) ein Vorrecht auf eine Wohnungszuteilung aus den kommunalen Wohnungsbeständen. (BAMF-IOM Juni 2013)
Das Existenzminimum in der Republik Tschetschenien lag Ende 2012 bei etwa 170 EUR pro Kopf (127 EUR für Pensionisten, 164 EUR für Kinder, 185 EUR für arbeitsfähige Personen). Für bedürftige Bürger, das heißt für Familien deren pro Kopf Einkommen geringer als ca. EUR 38,- ist, gibt es eine soziale Unterstützung in Höhe von 2,50 EUR für die Dauer von 6 Monaten. Nach Einschätzung von verschiedenen Mitarbeitern von internationalen NGOs im Nordkaukasus sind die Sozialleistungen nicht ausreichend, damit eine alleinstehenden Frau mit Kindern allein davon leben könnte, andererseits wurde bestätigt, dass sich in Tschetschenien wohl immer ein Verwandter finden würden, der bereit sei die Familie mit Wohnraum als auch finanziell zu unterstützten. (ÖB Moskau, 10.5.2013)
Von einer Vertreterin einer tschetschenischen NGO wurde mitgeteilt, dass das System von Alimentenzahlungen in Russland/Tschetschenien im Fall einer Scheidung noch nicht besonders ausgereift ist. Im Fall des Todes des Ehemanns würden der Ehefrau ebenso wie jedem Kind jedoch eine Rente "aufgrund des Verlusts des Versorgers" zustehen, die durchaus ein vernünftiges Einkommen darstelle. (ÖB Moskau, 10.5.2013)
Im Rahmen verschiedener "gender projects" unterhalten diverse Nichtregierungsorganisationen in einigen Regionen der Russischen Föderation Frauenasyle. Die meisten Nichtregierungsorganisationen, die solche Asyle betreiben, werden von internationalen oder ausländischen Organisationen finanziert. Leider ist die fehlende Finanzierung der Hauptgrund dafür, dass längst nicht alle Bedürftige Hilfe dieser Art bekommen können. Es gibt faktisch in jeder russischen Region Krisenzentren für Frauen. Diese werden sowohl von staatlichen Sozialdiensten als auch von internationalen Programmen gesponsert und bieten soziale, psychologische und juristische Beratung für folgende Gruppen an: - Frauen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind (darunter auch Minderjährige) - Frauen, die Angehörige verloren haben - Frauen, die behinderte Kinder haben - Frauen, die selbst behindert sind - Frauen, die schwanger und minderjährig oder allein stehend sind - Frauen mit Kindern aus nicht vollständigen Familien - Frauen, die sich im Konflikt mit ihrer Familie befinden - Frauen, die sich im Schwangerschafts- oder Kinderbetreuungsurlaub befinden (BAMF-IOM Juni 2013)
Echtheit der Dokumente
Die von den staatlichen Behörden ausgestellten Dokumente, die russische Staatsangehörige aus den russischen Kaukasusrepubliken mit sich führen (insbesondere Reisedokumente), sind nicht selten mit unrichtigem Inhalt ausgestellt. Immer wieder werden auch bei der Botschaft gefälschte Dokumente vorgelegt. In Russland ist es darüber hinaus auch möglich, Personenstands- und andere Urkunden zu kaufen, wie z.B. Staatsangehörigkeitsausweise, Geburts- und Heiratsurkunden, Vorladungen, Haft-befehle, Gerichtsurteile. Die Verwaltungsstrukturen in Tschetschenien sind größtenteils wieder aufgebaut, so dass die Echtheit von Dokumenten aus Tschetschenien grundsätzlich überprüft werden kann. (AA 10.6.2013; vgl. auch IRB 15.11.2013)
Probleme ergeben sich allerdings dadurch, dass bei den kriegerischen Auseinandersetzun-gen viele Archive zerstört wurden. Häufig sind Fälschungen primitiv und leicht zu identifizieren. Es gibt aber auch Fälschungen, die mit chemischen Mitteln auf Originalvordrucken professionell hergestellt wurden und nur mit speziellen Untersuchungen erkennbar sind. (AA 10.6.2013)
Aus der ACCORD-Anfragebeantwortung XXXX vom 03.06.2014 zur Situation von alleinstehenden Müttern mit unehelichen Kindern in der Russischen Föderation/Tschetschenien:
Swetlana Gannuschkina, die für die russischen Menschenrechtsorganisationen Memorial und das Komitee Bürgerbeteiligung tätig ist, schreibt in einer E-Mail-Auskunft vom 29. Mai 2014 in Bezug auf die Lage alleinstehender bzw. alleinerziehender Frauen, dass im Fall des Todes des Mannes fast ausnahmslos die Kinder zu dessen Verwandten kommen würden. Man könne sogar Treffen der Mutter mit den Kindern unterbinden. Wenn es sich um ein uneheliches Kind handle, sei dies eine "Katastrophe" für die Frau. Sie würde gezwungen, mit dem Kind wegzufahren und es zu verstecken. Es gebe auch die Tradition, uneheliche Kinder heimlich einer verheirateten Verwandten zu übergeben. Dabei erwecke man den Anschein, es handle sich um ein fremdes, adoptiertes Kind oder ein Findelkind. Wenn offensichtlich würde, dass die Frau das Kind außerhalb einer Ehe zur Welt gebracht habe, sei ein tragischer Ausgang, ein "Ehrenmord", sehr wahrscheinlich.
Es sei nicht davon auszugehen, dass die Familie der Frau diese bei einer Rückkehr offen
unterstütze. Aber die Familie bemühe sich häufig, in der oben beschriebenen Weise zu helfen. Ein normales Leben mit einem unehelichen Kind sei in Tschetschenien nicht möglich.
Es gebe Berichte darüber, dass Frauen in Tschetschenien wegen unehelicher Kinder davongejagt, zum Teil sogar getötet worden seien. Das zurückbleibende Kind sei in einem solchen Fall mit Verachtung, Kränkungen und Erniedrigungen konfrontiert. Es sei möglich (allerdings nicht immer der Fall), dass für derartige Kinder schlecht gesorgt werde. Sie, Swetlana Gannuschkina, kenne sogar einen Fall, in dem man dem Kind nicht ausreichend zu Essen gegeben habe, sich aber geweigert habe, es der Mutter zurückzugeben.
In Bezug auf die Frage, ob es möglich sei, dass der Ex-Mann einer Frau ihr alle Kinder, auch die von anderen Männern, wegnehme, antwortete Swetlana Gannuschkina, dass dies möglich sei. Es gebe so etwas Ähnliches wie die Stellung der "freien Witwe". Einer solchen Frau würde man die Kinder nicht überlassen, dafür würde man ihre sexuellen Beziehungen zu Männern zulassen. Eine solche Frau werde in der Gesellschaft jedoch gering geschätzt. (Gannuschkina, 29. Mai 2014)
Der russische staatliche Fernsehsender Pjerwyj kanal (Deutsch: erster Kanal) veröffentlicht im Jänner 2014 einen Beitrag zur Lage von geschiedenen Frauen mit Kindern in Tschetschenien. Nach Angaben des Muftiats der Republik Tschetschenien sei es manchmal schwieriger, die Rechte von Frauen bei Scheidungen zu schützen, als Feinde miteinander zu versöhnen. Am meisten würden die Kinder leiden, denen man den Kontakt zur Mutter verbiete. Als Beispiel wird das Schicksal einer Frau namens Amina angeführt, die nicht erkannt werden möchte. Nach der Scheidung habe der Ex-Mann ihr den Kontakt zu den drei gemeinsamen Kindern verboten. Anrufe und Überredungsversuche durch Verwandte und nahestehende Personen hätten nichts gebracht. Nach Anhaben von Amina erhalte sie immer nur die Auskunft, dass die Kinder auch ohne sie glücklich seien, dass sie sich absolut keine Sorgen machen müsse und dass die neue Mutter sie, Amina, schon zu Gänze ersetzt habe. Eine der wenigen Möglichkeiten für geschiedene Frauen, ihre Kinder zu sehen, seien geheime Treffen in Bildungseinrichtungen. Die Organisation "Frauen für Entwicklung" der Menschenrechtlerin Lipkan Bassajewa leiste schon seit mehr als zehn Jahren juristische und psychologische Hilfe für geschiedene Mütter. Nach Angaben von Lipkan Bassajewa sei eine Scheidung für eine tschetschenische Frau eine "Katastrophe". Den lokalen Traditionen zufolge würden Kinder häufiger von den Vätern und deren Verwandten aufgezogen. Auf die Frauen würde von zwei Seiten Druck ausgeübt. Einerseits würden der Mann und seine Verwandten der Mutter kategorisch den Kontakt zu den Kindern verbieten. Andererseits würden die Verwandten der Frau erwarten, dass diese, jetzt wo sie sich habe scheiden lassen, in das Haus ihres Vaters zurückkehre, das Kind aber dort, im Haus seines Vaters, bleiben solle.
Der Fernsehsender erläutert, dass Mütter in Tschetschenien gewöhnlich nicht vor Gericht gehen würden und kaum einer gegen die alten Traditionen verstoße. Saidmagomed Saajew, der Leiter der Verwaltung des Föderalen Dienstes der Gerichtsvollzieher in der Republik Tschetschenien, gibt an, dass niemand vor Gericht gehe, weil die Gesetze nicht bekannt seien, weil es sich seiner Meinung nach bei derartigen Fragen um persönliche Angelegenheiten handle und es in Tschetschenien nicht gutgeheißen werde, wenn man solche Streitigkeiten von staatlichen Organen lösen lassen wolle. Dies seien immer Fragen der Familie, der Gemeinschaft, des Stammes gewesen.
Der Fernsehsender fügt an, dass das Problem in Tschetschenien derart akut sei, dass sogar
eine eigene Kommission dafür beim lokalen Muftiat eingerichtet worden sei. Mithilfe von Gesprächen und Verhandlungen seien dadurch bis zum Zeitpunkt des Erscheinens des Berichts mehr als dreitausend familiäre Konflikte gelöst worden. Der stellvertretende Mufti der Republik Tschetschenien gibt an, dass niemand nach dem Islam das Recht habe, den Kontakt einer Mutter zu ihren Kindern zu unterbinden.
Auch Amina habe sich an das Muftiat gewandt. Es sei gelungen, den Ex-Mann davon zu überzeugen, dass er nicht im Recht sei. Nach einer Weile habe es jedoch keine weiteren Treffen mit den Kindern mehr gegeben. Daher habe sich Amina doch dazu entschlossen, sich an das Gericht zu wenden. Dieses habe den Beschluss erlassen, dass die Kinder einen Tag in der Woche bei Amina sein dürften. Seitdem seien zwei Jahre vergangen, ihre Kinder habe Amina aber nicht mehr wiedergesehen. (Pjerwyj kanal, 16.01.2014)
Das Ministerie van Buitenlandse Zaken (BZ), die für auswärtige Angelegenheiten zuständige niederländische Regierungsbehörde, schreibt in einem Bericht vom Jänner 2012, dass geschiedene Frauen in Tschetschenien in einer besonders verwundbaren Lage seien. Sie hätten die Ehre der Familie verletzt und würden unter Druck gesetzt, wieder zu heiraten. Dies führe dazu, dass Frauen gezwungen würden, einen bereits verheirateten Mann zu heiraten. Frauen würden sich nicht schnell von ihren Männern scheiden lassen, auch nicht wenn häusliche Gewalt im Spiel sei, weil sie ihre Kinder verlieren würden. Im Fall der Scheidung oder des Todes des Mannes würden die Kinder zur Familie des Mannes gehen. Von Witwen würde erwartet, dass sie zu ihrer Familie zurückkehren und die Kinder, das Geld und die Besitztümer bei der Familie des verstorbenen Mannes zurücklassen würden. (BZ, Jänner 2012, S. 53-54)
Im Juni 2013 schreibt das Ministerie van Buitenlandse Zaken (BZ), dass Paare häufig nur traditionell, nicht standesamtlich verheiratet seien. In Tschetschenien sei die Mehrheit der Ehen nicht registriert. Frauen könnten nicht auf die Registrierung der Ehe bestehen, da dies als Beleidigung des Mannes angesehen werde. Nach einer Scheidung bleibe die Frau oft mittellos und ohne Rechte zurück. Die Kinder würden nach der Scheidung traditionell bei der Familie des Vaters bleiben. Eine Frau würde sich daher nicht schnell dafür entscheiden, sich von einem Mann scheiden zu lassen, auch nicht, wenn häusliche Gewalt im Spiel sei. Nach einer Scheidung sei es für Frauen oft so gut wie unmöglich, Kontakt zu den Kindern zu halten. (BZ, 04.06.2013, S. 72)
Das norwegische Herkunftsländerinformationszentrum Landinfo, ein unabhängiges Organ der norwegischen Migrationsbehörden, das verschiedenen AkteurInnen innerhalb der Migrationsbehörden Herkunftsländerinformationen zur Verfügung stellt, veröffentlicht im Februar 2014 einen Bericht zu Ehe und Traditionen der Eheschließung in Tschetschenien. Eine diplomatische Quelle habe 2012 angegeben, dass eine Frau bei einer Trennung oder Scheidung froh sein könne, wenn sie jemanden habe, der sie schütze. Ein tschetschenischer Anwalt habe im Oktober 2013 angegeben, dass Frauen sich oft nicht scheiden lassen wollten, aus Angst den Kontakt zu ihren Kindern zu verlieren. Der Vertreter einer internationalen Organisation im Nordkaukasus habe im Juni 2009 berichtet, dass geschiedene Frauen Schwierigkeiten hätten, einen neuen Mann zu finden, der sie heirate. Die Quelle habe den Ausdruck verwendet, dass die Frau "markiert" sei. Viele Männer wollten keine Frau heiraten, die zuvor schon einmal verheiratet gewesen sei. Vor allem, wenn die Frau Kinder habe und Kinder bei ihr leben würden, sei es schwierig, erneut zu heiraten.
In dem Bericht erläutert Landinfo weiters, dass die Organisation auf einer Reise im November 2011 nach Tschetschenien mit mehreren tschetschenischen geschiedenen Frauen gesprochen habe, die für eine ausländische NGO gearbeitet hätten. Keine der Frauen habe angedeutet, dass geschiedene Frauen keine Jobs bekommen würden. Es wäre jedoch möglich, dass die Situation dieser Frauen besonders sei, weil sie für die ausländische NGO arbeiten würden. (Landinfo, 28.02.2014, S. 9)
In Bezug auf Kinder bei Scheidung oder Tod eines Ehepartners schreibt Landinfo im Februar 2014, dass laut einem 2008 erschienenen Artikel der Journalistin Jane Armstrong in der kanadischen Zeitung The Globe and Mail üblicherweise der Mann nach einer Scheidung das Sorgerecht für die Kinder erhalte. Nach Angaben einer humanitären Organisation aus dem Jahr 2011 und eines tschetschenischen Anwalts von 2012 entspreche dies den Vorgaben des Adat, in dem es heiße, dass die Kinder in der Familie des Vaters leben sollten und dass Kinder das Eigentum des Vaters und dessen Familie seien.
Eine NGO habe bei einem Treffen im Oktober 2012 angegeben, dass gemäß der Scharia junge Kinder bei der Mutter bleiben würden, bis sie sieben Jahre alt seien, erst wenn sie älter seien, würden sie beim Vater bleiben. Präsident Kadyrow habe gefordert, dass dies in Tschetschenien respektiert werde. Dennoch folge man dem Adat, dass Kinder beim Vater oder dessen Familie bleiben sollten.
Der tschetschenische Anwalt habe im November 2012 angegeben, die generelle Haltung in Tschetschenien und im Nordkaukasus sei, dass Kinder zur Familie des Mannes gehören würden. Je größer eine Familie sei, desto einflussreicher sei sie und es sei von großer Wichtigkeit, so viele Söhne bzw. Männer wie möglich in der Familie zu haben.
Vertreter einer internationalen humanitären Organisation hätten im November 2011 angegeben, dass es in unterschiedlichen Familien auch unterschiedliche Lösungen für Kinder nach der Scheidung oder dem Tod eines Ehepartners gebe. Es sei üblich, dass der Vater oder seine Familie das Sorgerecht erhalte, aber es komme vor, dass die Mutter ein Besuchsrecht habe und in Ausnahmefällen lebten die Kinder bei der Mutter. Verschiedene Umstände, etwa die finanzielle Situation, würden bei der Vorgehensweise hinsichtlich der Kinder eine Rolle spielen. Gebe es väterlicherseits keine Großeltern und sei der Vater nicht in der Lage, für die Kinder zu sorgen, würden die Kinder bei der Mutter bleiben. Die Hauptverantwortung für die Kinder liege aber in der Familie des Vaters. Tue das Kind etwas Falsches, sei der Vater verantwortlich, auch wenn das Kind bei der Mutter lebe.
Der mit Sorgerechtsfällen befasste tschetschenische Anwalt habe im November 2012 angegeben, dass im Fall des Todes des Mannes oft die Familie väterlicherseits die Kinder übernehme, da eine Frau nicht wieder heiraten können, wenn sie das Sorgerecht für die Kinder habe. Sollte eine Witwe alleine mit ihren Kindern leben und Kontakt zu Männern haben, würde die Familie des Vaters der Kinder wahrscheinlich das Sorgerecht für die Kinder fordern und der Mutter den Kontakt zu den Kindern verweigern.
Human Rights Watch (HRW) habe im November 2011 angegeben, dass es manchmal ein Abkommen zwischen den ehemaligen Eheleuten gebe, was es der Mutter ermögliche, regelmäßigen Kontakt zu den Kindern zu haben. Dies komme jedoch nur in wenigen Fällen vor. Der tschetschenische Anwalt habe im November 2012 angegeben, dass Frauen nur in Ausnahmefällen vor Gericht gehen würden, wenn alle Optionen ausgeschöpft seien. Familienangelegenheiten vor einem Gericht zu klären, sei das letzte Mittel. Dies bedeute, alle Verbindungen abzubrechen und der Familie des Mannes den Krieg zu erklären. Dies könne zu Drohungen durch Verwandte des Mannes führen. Eine NGO in Moskau habe im Oktober 2012 von einer tschetschenischen Frau erzählt, die auf der Straße von den Verwandten ihres verstorbenen Mannes angegriffen worden sei, nachdem sie vor Gericht das Sorgerecht für ihre Tochter erhalten habe.
Der tschetschenische Anwalt habe zudem angeführt, dass es sich bei Familienangelegenheiten, die vor Gericht gebracht würden, gewöhnlich um Fragen des Besuchsrechts handle, beispielsweise, ob die Mutter ihre Kinder sehen dürfe. Es gehe nur in sehr wenigen Fällen um das alleinige Sorgerecht für die Mutter. Der tschetschenische Anwalt habe die Mehrheit der Fälle gewonnen, in denen es um Besuchsrechte gegangen sei. In nur wenigen Fällen sei das Ergebnis gewesen, dass die Kinder dauerhaft bei der Mutter leben würden. Es sei jedoch selten, dass eine Frau die Mittel habe, die Kinder bei sich zu behalten. Das volle Sorgerecht zu haben sei schwer, unter anderem wegen der Armut und des Jobmangels. Viele Frauen wollten auch wegen der großen Verantwortung nicht das volle Sorgerecht. Wenn eine Frau erfolgreich sei, was das Besuchsrecht anlange, benötige sie die Hilfe ihrer Familie und Verwandten.
Die Herausforderungen würden bei der Umsetzung eines Urteils liegen. Die Familie des Vaters der Kinder würde oft Hindernisse schaffen und Besuchsfristen würden nicht eingehalten. Wenn eine Person aus der Familie des Vaters für die Regierung arbeite, handle es sich um eine einflussreiche Familie und es sei schwer, gegen diese anzukommen. Die Ehre der Familie des Vaters würde verletzt, wenn die Mutter zu viele Rechte erhalte.
Eine NGO in Moskau habe im November 2011 angegeben, dass Witwen mit Kindern in Tschetschenien einen höheren Status hätten als geschiedene Frauen. Eine Witwe mit Kindern würde sofort gefragt, ob sie mit den Kindern bei den Schwiegereltern leben wolle, oder ob sie ein "neues Leben" ohne Kinder beginnen wolle. In diesem Fall habe die Mutter die Möglichkeit, erneut zu heiraten. Wenn die Mutter bei den Schwiegereltern lebe, erwarte man von ihr, dass sie das Andenken ihres verstorbenen Mannes in Ehren halte und nicht wieder heirate. Es gebe kein Verbot, wieder zu heiraten, aber die Frau würde dann vermutlich den Kontakt zu ihren Kindern verlieren. Eine geschiedene Frau würde sofort ohne Kinder zu ihren Verwandten zurückkehren. Die Angst vor dem Verlust der Kinder würde dazu führen, dass viele Frauen Gewalt und Misshandlungen in der Ehe ertragen und eine Scheidung vermeiden würden. (Landinfo, 28.02.2014, S.10-11)
Iwona Kaliszewska, eine auf den Nordkaukasus spezialisierte Mitarbeiterin am Institut für Ethnologie und Kulturanthropologie in Warschau, schreibt in einem im Jahr 2010 verfassten Bericht über den Nordkaukasus, dass junge Frauen, wenn sie geschlagen würden, sich oft dafür entscheiden würden, ihren Ehemann zu verlassen. Wenn es Kinder gebe, hätten die meisten Frauen Angst, diese zu verlieren oder mit ihnen allein zu bleiben, weshalb sie Beleidigungen und Schläge ertragen würden. Es gebe mehrere Organisationen, an die sich Frauen wenden könnten. Es werde jedoch nicht gut aufgenommen, wenn man "externe Hilfe" suche, und Frauen würden nicht immer von ihrer Familie unterstützt, wenn sie eine Scheidung anstrebten.
Es werde im Islam immer üblicher, eine Witwe, eine Frau mit Kindern oder eine Frau, die von ihrem Mann verlassen wurde, als Zweitfrau zu nehmen, um ihr zu helfen und sie zu unterstützen. Derartige Fälle gebe es seit Kurzem auch im Kaukasus, allerdings nicht häufig. Paare würden sich gewöhnlich im ersten Jahr nach der Hochzeit scheiden lassen. Im Gegensatz zu den üblichen Annahmen hätten die jungen Frauen keine Schwierigkeiten, ein zweites Mal zu heiraten. Der einzige Unterschied sei, dass der zweite Mann auch geschieden sein sollte. Es komme nur selten vor, dass eine Familie das Einverständnis dazu gebe, dass die geschiedene Tochter einen Mann heirate, der zuvor nicht verheiratet gewesen sei.
In Tschetschenien würden die Kinder nach einer Scheidung beim Vater bleiben und die Mutter könne sie besuchen. Seien die Kinder sehr klein, würden sie zunächst bei der Mutter belassen und der Vater würde sie später zu sich nehmen. In jenen Fällen, wo die Kinder tatsächlich bei der Mutter geblieben seien, würde sie der Vater dann zu sich nehmen, wenn die Mutter beschließe, erneut zu heiraten. Wenn die Kinder bei der Mutter geblieben seien und diese wieder heirate, würden die Kinder die ersten sechs Monate in der Familie leben. Wenn der neue Ehemann damit einverstanden sei, könnten die Kinder später in die neue Familie aufgenommen werden.
Eine geschiedene Frau habe eine spezielle Stellung im Nordkaukasus. Obwohl sie gewöhnlich in das Haus ihrer Familie zurückkehre und genau wie eine unverheiratete Frau gewissen Beschränkungen unterliege, habe sie mehr Freiheiten, vor allem in urbanen Ballungsgebieten. In Wahrheit inkludiere diese Stellung viele Freiheiten, auch in sexueller Hinsicht, da niemand von der Frau erwarte, dass sie eine Jungfrau sei. Geschiedene Frauen seien für sehr junge Männer, die sexuelle Erfahrungen sammeln wollten, sehr attraktiv. (Kaliszewska, 2010, S. 101-104)
Das US-Außenministerium (US Department of State, USDOS) erwähnt in seinem im Februar 2014 veröffentlichten Jahresbericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2013), dass im Nordkaukasus traditionell der Mann nach Scheidungen das Sorgerecht für die Kinder erhalte, was dazu führe, dass Frauen sich, auch bei Misshandlungen, oft nicht scheiden lassen wollten. (USDOS, 27.02.2014, Section 6)
Eva Adensamer, eine allgemein beeidete und gerichtlich zertifizierte Dolmetscherin für Russisch, verfasste 2012 eine Diplomarbeit zum tschetschenischen Familienrecht. Die in der Arbeit verwendeten Informationen stammten nach Angaben der Autorin aus Interviews mit sechs tschetschenischen Frauen sowie ExpertInnen. Bei den interviewten Frauen, die alle bereits länger in Österreich lebten, handle es sich um eine Buchhalterin (Rita), eine Hausfrau (Sarema), eine Psychologin (Elvira), eine Lehrerin (Vera), eine Wirtschaftswissenschaftlerin (Lidia) und eine Kinderpsychologin (Merima). Als ExpertInnen seien ein tschetschenischer Imam, Mag. Andrea Götzelmann und Mag. Evelyn Rainer von der Internationalen Organisation für Migration (IOM), die russische Soziologin Dr. Anna Schor-Tschudnowskaja, sowie ein tschetschenischer Jurist und Rechtsberater von der Organisation Vesta, Dr. Tagir Shamsudinov, befragt worden. In Bezug auf Scheidungen und Kinder finden sich folgende Informationen in der Arbeit:
"Einigkeit bei meinen Interviewpartnerinnen herrscht darüber, dass es heute mehr Scheidungen gibt als früher, weil es leichter geworden ist, sich scheiden zu lassen. [...]
Die Interviewpartnerinnen sind sich darüber einig, dass Scheidungen in den meisten Fällen von den Männern ausgehen, die ihre Familien verlassen oder ihre Frauen fortschicken. Es kommt aber auch - wenn auch seltener - vor, dass Frauen ihre Familie verlassen. Frauen sind in der Regel sehr abhängig von ihren Familien, sowohl bei der Entscheidung, ob sie ihren Mann verlassen oder nicht, als auch, ob sie sich an ein staatliches Gericht wenden oder nicht. [...]
Tatsächlich können Frauen, die von den Männern weggeschickt werden, zumeist nur in ihr Elternhaus zurückkehren. Vera: ‚Er jagt sie fort und überlässt sie ihrem Schicksal.' ‚Kommt es zu einer Trennung, wird die Frau wieder in die Obhut ihres Vaters oder ihres ältesten Bruders übernommen.' (Dietrich 2009: 222). Laut Lidia kann der Mann eine Frau mit Kindern nicht einfach hinauswerfen, was aber trotzdem immer wieder vorkommt. In diesem Fall kann sich die Frau an das Schariagericht oder an das russische Gericht wenden. Die Familie des Mannes kann die Frau im Haus wohnen lassen oder wegschicken. In der Realität kommt beides vor. Manchmal bleibt die Frau mit den Kindern im Haus und der Mann geht weg. Bleibt er da, hat er kein Recht mehr auf die Frau als Frau. Auf jeden Fall muss er die Kinder erhalten, ‚ob er das tut, weiß man nicht'. [...]
Entgegen anderen Quellen berichtet Veronika Brandstetter, dass einige Witwen oder geschiedene Frauen nicht zu ihrer Familie zurückkehren, sondern allein leben. Die NGO Vesta hält jedenfalls alleinerziehende Frauen für ‚normal'. Der UNHCR betont allerdings, dass diese Frauen stark von der Unterstützung ihrer Verwandten abhängen. Haben diese Frauen ihre Männer wegen häuslicher Gewalt verlassen, kehren sie eher wieder in ihre Familien zurück (vgl. Brandstetter 2010: 16-18).
Bei der Obsorge, unter der grundsätzlich in beiden Kulturen die materielle und geistige Fürsorge für Kinder verstanden wird, sind in Russland nach russischem Recht die Eltern gleichberechtigt, während in der grundsätzlich patriarchalen tschetschenischen Gesellschaft auch die Obsorge patriarchal ausgestaltet ist. Während in Russland sowohl der Vater als auch die Mutter für Erziehung und materielle Unterstützung der Kinder zuständig sein können, ist in der tschetschenischen Gesellschaft mit ihrer starren Rollenverteilung die finanzielle und erzieherische Verantwortung grundsätzlich Aufgabe eines Mannes und die alltägliche Fürsorge Aufgabe einer Frau. In Tschetschenien gelten die Kinder der Söhne als leibliche Kinder der Familie, die Kinder der Töchter als fremde.
‚Auch die Kinder der Brüder, der Cousins, gelten als leibliche Kinder, näher als die Kinder
der Schwester.' (Rita).
Obsorge für minderjährige Kinder nach der Scheidung
Familiengesetzbuch der RF
Im Fall der Scheidung können die Ehegatten dem Gericht einen Vorschlag vorlegen, bei wem die minderjährigen Kinder in Zukunft leben werden, wer in welcher Höhe Unterhalt für die Kinder [...] zu bezahlen hat [...]. In Ermangelung eines solchen Vorschlags, oder wenn diese Vereinbarung den Interessen des Kindes [...] widerspricht, setzt das Gericht die geeigneten Maßnahmen (§ 24, 1.).
Schariarecht nach Imam B.
Die Mutter hat das Recht, ihre Kinder bis zum Alter von 7 Jahren aufzuziehen, dann geht dieses Recht auf den Vater über. Solange die Kinder bei der Mutter leben, muss der Vater der Kinder für den Unterhalt von Mutter und Kindern aufkommen. Der Vater ist verpflichtet, die Bedingungen zu schaffen, damit die Mutter mit den Kindern leben kann. Ändert die Mutter ihren Wohnort, kann der Vater die Kinder sofort zurückverlangen. ‚Es kann auch vereinbart werden, dass die Kinder bis zum Erreichen des Volljährigkeitsalters der Mutter anvertraut werden.' (Bergmann/ Ferid/Henrich 1983: 20).
Adat
Für den Unterhalt der Kinder ist der Vater zuständig, egal, ob die Kinder bei ihm leben oder nicht. Auch die Verwandten des Vaters tragen Verantwortung für die Kinder der Söhne. Kinder bleiben nach der Scheidung in der Regel beim Vater, und zwar unabhängig davon, ob die Mutter den Mann freiwillig verlassen hat oder von ihm fortgejagt wurde. Nach Shamsudinov bleibt ein Kind bis zum Alter von 2-3 Jahren bei der Mutter, jedenfalls aber, solange es gestillt wird. Die Eltern können auch vereinbaren, bei wem die Kinder bleiben, je nach teip [patrilineare exogame Gruppe, die sich auf einen gemeinsamen Ahnen und eine bestimmte territoriale Herkunft zurückführt] (Sarema und Elvira). [...]
Auf der Grundlage der von mir geführten Interviews und der recherchierten Literatur zu diesem Thema kann davon ausgegangen werden, dass die Mehrheit der Kinder nach einer Scheidung den tschetschenischen Müttern weggenommen wird und beim Vater bzw. dessen Familie bleibt, dass den Müttern aber nicht prinzipiell die Kinder nach einer Scheidung entzogen werden. In den Interviews mit den Interviewpartnerinnen wird die Situation der Frauen günstiger dargestellt als mit den ExpertInnen oder in der Literatur, wo von Fällen berichtet wird, in denen der Mutter sogar ganz kleine Kinder weggenommen werden.
Laut Rita hat sich im Laufe der Zeit Vieles geändert. Sie selbst blieb nach der Trennung der Eltern beim Vater und wurde von dessen Mutter aufgezogen. Ihrer Einschätzung nach hätte sie heute durchaus Chancen, ihre Kinder nach einer Scheidung behalten zu können.
Dass die Kinder beim Vater bleiben, ist heute nicht mehr so normal wie früher. Es gibt zunehmend mehr Fälle, in denen die Kinder bei den Müttern bleiben können.
Auch Lidia erzählte, dass die Familie des Mannes manchmal die Kinder, vor allem kleine Kinder, mit der Mutter mitgehen lassen. Sie meinte auch, dass ein vernünftiger Mann die Kinder bei der Mutter lassen würde, denn ‚es ist nirgends besser als bei der Mutter, nur sie wird sich immer um die Kinder kümmern.' Es gibt auch Fälle, in denen die Mütter die Kinder einfach mitnehmen und sie auf Verlangen nicht herausgeben. Laut Sarema bleiben die Kinder ohnehin fast immer bei der Mutter und leben mit ihr im gemeinsamen Haus.
Dagegen sind die Expertinnen der IOM der Ansicht, dass die Kinder meistens beim Vater bleiben und von dessen Mutter aufgezogen werden. Dabei ist es nicht immer der Vater, der das Kind behalten will, sondern häufig dessen Familie. Sie berichteten, dass es immer wieder vorkommt, dass der Vater kein besonderes Interesse an den Kindern hat, die Familie aber diesen Anspruch erhebt. Auch Lidia erzählte, dass die Frauen ihre Kinder leichter behalten könnten, wenn dies nur von den Vätern abhinge, und dass es vielmehr die Familien sind, die die Frauen zum Zurücklassen ihrer Kinder zwingen. Die Mitarbeiterinnen der IOM erzählten einen Fall, in dem die Schwester des Mannes zu dessen Frau sagte: ‚Wenn du gehen willst, dann geh, aber die Kinder bleiben beim Vater.'
Sie erzählten sogar von einem Fall, in dem der eigene Vater Druck auf seine Tochter ausübte, ihre Kinder bei ihrem Mann zu lassen, weil sie ihm gehören. Würde das Kind bei der Mutter bleiben, würde sich das negativ auf seinen Ruf auswirken. Jedenfalls kann einem Vater nach den tschetschenischen Adaten ein Kind nicht weggenommen werden. Eine Herausgabe kann nur auf Freiwilligkeit beruhen.
Laut Elvira werden die Kinder - sowohl nach Schariarecht als auch nach Adat - ab einem bestimmten Alter selbst gefragt, wo sie leben wollen. Gegen diese Entscheidung können die Eltern keinen Einwand erheben. Auch das russische Gericht befragt die Kinder selbst, wo sie leben wollen, weil § 57 des Familiengesetzbuches der RF vorschreibt, dass ein Kind ab dem Alter von 10 Jahren das Recht hat, seine Meinung über Entscheidungen in der Familie zu äußern, wenn seine Interessen davon betroffen sind. Laut Shamsudinov entscheiden sich die meisten Kinder aufgrund der Sozialstruktur für den Vater.
Kehrt eine geschiedene Frau zu ihren Eltern zurück, was in vielen Fällen die einzige Möglichkeit ist, so muss sie oft ihre Kinder beim Mann zurücklassen, weil die eigenen Eltern oder Brüder keine ‚fremden' Kinder im Haus haben wollen.
Während es aber laut Vera früher völlig inakzeptabel war, dass eine geschiedene Frau mit ihren Kindern zu den Eltern zurückkehrt, ist dies heute jedenfalls denkbar. Früher wurde darüber gar nicht diskutiert. Merima hingegen findet, dass es in kommunistischen Zeiten leichter war, mit einem Kind zu den Eltern zurückzugehen, während heute die Traditionen wieder mehr an Bedeutung gewonnen haben. Sie selbst ist bei ihren Großeltern mütterlicherseits aufgewachsen. Das zeigt, wie sehr die Aussagen meiner Interviewpartnerinnen von persönlichen Erlebnissen geprägt sind.
In manchen Fällen erlauben die Eltern ihrer Tochter, die Kinder vom geschiedenen Mann zu holen, werden aber von dessen Familie nicht herausgegeben. Oder umgekehrt kann es vorkommen, dass die Familie des Mannes der Frau erlaubt, die Kinder mitzunehmen, die eigenen Eltern das aber ablehnen. [...]
Die von mir interviewten Frauen sind sich einig, dass viele Frauen eine unerträgliche Ehe erdulden, weil sie Angst haben, im Fall der Scheidung ihre Kinder zu verlieren. Es ist zwar möglich, ein russisches Gericht anzurufen und die Obsorge zu beantragen; diese Möglichkeit wird aber nach wie vor nur von wenigen Frauen in Anspruch genommen. Rita nannte als Beispiel Frauen, deren Männer Alkoholiker sind und die ihnen deswegen die Kinder nicht überlassen wollen.
Laut Anfragebeantwortung des UNHCR entscheiden die staatlichen Gerichte in der Regel zugunsten der Mütter (vgl. URL 10), auch wenn in der Theorie Vater und Mutter gleichberechtigt sind, außer die Mutter ist eindeutig nicht in der Lage, die Verantwortung für ihre Kinder zu tragen, z.B. wegen Alkohol- oder Drogensucht. Dies wurde von Tagir Shamsudinov bestätigt. Laut Imam B. gibt es aber auch staatliche Richter, die der Mutter das Obsorgerecht nur für Kinder bis zum Alter von 7 Jahren zusprechen und diese Entscheidung nach Schariarecht so begründen, dass auch dem russischen Recht Genüge getan ist.
Andere Instanzen zur Konfliktlösung sind der adatrechtliche Ältestenrat oder das Schariagericht. Letzteres entscheidet laut Lidia manchmal zugunsten der Mutter, aber wenn der Mann ein ‚normaler Mensch ist, wird mir kein Schariagericht die Kinder geben und die Kinder würden auch nicht wollen.' Die Ältestenräte entscheiden in den meisten Fällen zugunsten der Väter. [...]
Obsorge für minderjährige Kinder bei Wiederverheiratung der Frau nach Scheidung oder Tod
Familiengesetzbuch der RF
Dies ist im Familiengesetzbuch der RF nicht ausdrücklich geregelt, weil sich dadurch an der rechtlichen Lage der Kinder nichts ändert.
Schariarecht nach Imam B.
Heiratet eine geschiedene oder verwitwete Frau wieder, hat der Mann das Recht, ihr die Kinder, auch wenn sie klein sind, wegzunehmen. Laut Vera kann eine verwitwete Mutter, die ihr Kind aufzieht und keinen Vater für ihr Kind hat, wieder heiraten, wenn der neue Mann bereit ist, den Vater für dieses Kind zu ersetzen.
Adat
Heiratet eine geschiedene oder verwitwete Frau noch einmal, dann darf sie ihre Kinder keinesfalls in die neue Ehe mitnehmen Das kann nicht nur vom geschiedenen Ehemann, sondern auch von dessen Bruder oder Onkel verboten werden. Sogar die ehemalige Schwiegermutter kann einer Frau im Fall der Wiederverheiratung ein Kind wegnehmen (vgl. Scholl 2007: 27).
Nach einer Wiederverheiratung der Frau ist der Spielraum wesentlich kleiner als nach der Scheidung oder nach dem Tod des Mannes. Die Zahl der Fälle, in denen Frauen ihre Kinder in eine neue Ehe mitnehmen können, ist sehr gering. Dagegen stellen sich sowohl die Familie des Mannes als auch die der Frau.
Sogar die Interviewpartnerinnen, die es nicht richtig finden, dass sie die Kinder nach der Scheidung bei der Familie des Vaters lassen müssen, halten diese Regelung für sinnvoll. Dafür wurden mehrere Gründe genannt:
- Ein Mann darf nicht mit den Kindern eines anderen Mannes zusammenleben. Das wird als Schande für den Vater empfunden und ist inakzeptabel.
- Elvira erklärte, dass nur e i n Mann, und zwar der leibliche Vater, die Verantwortung für ein Kind tragen kann. Ein Mann kann nicht mit einem Kind leben, für das ein anderer verantwortlich ist.
- Die Gefahr, dass der Mann das Kind schlecht behandelt oder gar schlägt, ist laut Lidia sehr hoch. Ihrer Meinung nach sollten die tschetschenischen Gesetze es absolut verbieten, dass ein Kind bei einem fremden Mann lebt. Die einzige Ausnahme könnte eine Witwe mit ganz kleinen Kindern sein.
- Für Merima ist es vor allem unmöglich, dass ein Mädchen bei einem fremden Mann lebt. Das würde sie niemals akzeptieren." (Adensamer, 2012, S. 73-85)"
2. Die oben angeführten Feststellungen gründen auf der folgenden Beweiswürdigung:
Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in die Akten der belangten Behörde und den Akten des Asylgerichtshofes, nunmehr Bundesverwaltungsgericht, sowie die darin aufliegenden Dokumente und durch Einholung von Länderberichten, insbesondere einer ACCORD-Anfrage zur Situation von alleinstehenden Frauen mit unehelichen Kindern in der Russischen Föderation/Tschetschenien.
2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers und seinen Fluchtgründen:
Die Feststellungen zur Identität und zu den Verwandtschaftsverhältnissen des Beschwerdeführers ergeben sich aus den Angaben seiner Mutter. Zudem legte die Mutter des Beschwerdeführers der belangten Behörde die Geburtsurkunde des Beschwerdeführers vor, aus der auch hervorgeht, dass XXXX, der Vater des Beschwerdeführers ist.
Die Feststellung zur Identität der Mutter des Beschwerdeführers ergibt sich aus ihrem, im ersten Verfahren vor der belangten Behörde bereits vorgelegten russischen Reisepass (XXXX). Die Feststellung ihrer Einreise (Überstellung aus Polen) mit der ältesten Schwerster des Beschwerdeführers Ende Mai 2007 ergibt sich aus dem Akt der belangten Behörde (XXXX). Die Feststellung, dass die Mutter des Beschwerdeführers alleinerziehend ist, beruht auf ihren eigenen Angaben.
Die aufrechte Ehe der Mutter des Beschwerdeführers zu XXXX im Zeitraum der Jahre 2004 bis 2008 ergibt sich aus der der belangten Behörde vorgelegten Heiratsurkunde (XXXX) und einer vorgelegten Vergleichsausfertigung des Bezirksgerichtes XXXX vom XXXX (XXXX).
Die Feststellungen hinsichtlich im Heimatland aufhältiger Familienangehöriger des Beschwerdeführers beruhen auf den Angaben seiner Mutter im Laufe des Verfahrens.
Die Feststellung betreffend die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten für die Mutter und die Schwestern des Beschwerdeführers ergibt sich aus den diesbezüglichen in den jeweiligen Verwaltungsakten befindlichen ersten Bescheiden des Bundesasylamtes (XXXX).
Die Feststellung zur Wiederaufnahme der Verfahren der Mutter und Schwestern des Beschwerdeführers und der in diesem Zusammenhang erfolgten Abweisung ihrer Anträge auf internationalen Schutz bezüglich des Status eines Asylberechtigten und bezüglich dem Status einer subsidiär Schutzberechtigten und ihrer verfügten Ausweisung in die Russische Föderation, ergibt sich aus den sich ebenfalls in den jeweiligen Verwaltungsakten befindlichen zweiten Bescheiden des Bundesasylamtes (XXXX).
Die Feststellung betreffend den Ausgang der Verfahren der Mutter sowie der drei Schwestern des Beschwerdeführers vor dem Asylgerichtshof beruht auf den jeweiligen Akten des Asylgerichtshofes (XXXX).
Die Feststellung, dass die Entscheidungen des Asylgerichtshofes betreffend der Mutter und den Schwestern des Beschwerdeführers in weiterer Folge insoweit aufgehoben wurden, als ihnen der Status eines subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt worden war und sie aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russischen Föderation ausgewiesen wurden, beruht auf dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom XXXX, XXXX.
Die Feststellung betreffend den Ausgang der Verfahren der Mutter sowie der drei Schwestern des Beschwerdeführers vor dem Bundesverwaltungsgericht beruht auf den jeweiligen Akten des Bundesverwaltungsgerichtes (XXXX, XXXX, XXXX und XXXX).
Die Feststellung zur Abweisung des Antrages des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich des Status eines Asylberechtigten und bezüglich dem Status eines subsidiär Schutzberechtigten und seiner verfügten Ausweisung in die Russische Föderation, ergibt sich aus den sich ebenfalls im Verwaltungsakt befindlichen Bescheid des Bundesasylamtes (XXXX).
Die Feststellung, dass dem Beschwerdeführer in der Russischen Föderation, konkret in Tschetschenien, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keine an asylrelevante Merkmale anknüpfende aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität - oder eine sonstige Verfolgung maßgeblicher Intensität - droht, beruht auf dem Umstand, dass für den minderjährigen Beschwerdeführer keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht wurden. Vielmehr stützen sich diese auf die Fluchtgründe seiner Mutter. Da in den gegenständlichen Fällen der Mutter sowie den drei Schwestern des Beschwerdeführers bereits rechtskräftig entschieden wurde, dass kein Fluchtgrund im Sinne der GFK vorgelegen ist, kann auch nichts anderes für den minderjährigen Beschwerdeführer gelten.
2.2. Zu den Feststellungen zur Lage in Tschetschenien
Die Feststellungen zur Lage in Tschetschenien wurden dem Beschwerdeführer im Zuge eines schriftlichen Parteiengehörs mit Schreiben vom 05.06.2014 übermittelt. Die Feststellungen gründen auf einer ausgeglichenen Mischung von Berichten von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen aus den vergangenen vier Jahren. Insofern ist darauf hinzuweisen, dass die älteren Quellen noch aktuell sind, d.h. keine neueren Berichte dieser Quellen zu dem jeweiligen Thema vorliegen, weshalb von der Aktualität der entsprechenden Berichte auszugehen ist. Das erkennende Gericht legt diese Berichte seinen Feststellungen zugrunde.
In concreto gründen diese Länderfeststellungen auf den folgenden Berichten:
AA 7.3.2011 - Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 07.03.2011, Seite 25;
AA 10.6.2013 - Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation, 10.6.2013;
ACCORD 12.8.2010 - ACCORD Anfragebeantwortung a-7349 vom 12.8.2010;
ACCORD 7.9.2010 - ACCORD Anfragebeantwortung a-7371 vom 07.09.2010;
ACCORD 1.10.2010 - ACCORD Anfragebeantwortung a-7387 vom 01.10.2010;
ACCORD 31.3.2014 - ACCORD Anfragebeantwortung a-8631, 31.3.2014;
ACCORD 4.4.2014 - ACCORD Anfragebeantwortung a8633-3 (8648), 4.4.2014;
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Wikipedia, Tschetschenien -
http://de.wikipedia.org/wiki/Tschetschenien (Zugriff am 28.4.2014).
3. Rechtliche Beurteilung
3.1. Zur Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts und zum anzuwendenden Verfahrensrecht :
Gemäß Art. 151 Abs. 51 Z 7 B-VG wird der Asylgerichtshof mit 01.01.2014 zum Verwaltungsgericht des Bundes und hat daher das vorliegende Beschwerdeverfahren zu führen.
Gemäß § 75 Abs. 19 AsylG 2005 sind alle mit Ablauf des 31.12.2013 beim Asylgerichtshof anhängigen Beschwerdeverfahren ab 1.01.2014 vom Bundesverwaltungsgericht nach Maßgabe des Abs. 20 zu Ende zu führen. Das gegenständliche Verfahren war mit Ablauf des 31.12.2013 beim Asylgerichtshof anhängig.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I 33/2013 idF BGBl. I 122/2013, geregelt (§ 1 leg. cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 6 BVwGG, BGBl. I 10/2013, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Aufgrund des Fehlens einer derartigen Regelung in den einschlägigen Gesetzen (VwGVG, BFA-VG, AsylG) liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.
Gemäß § 17 VwGVG, BGBl. I 33/2013 idF BGBl. I 122/2013, sind, soweit nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG ua. die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes (AVG), mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte (siehe dazu § 1 BFA-VG, BGBl. I 87/2012 idF BGBl. I 144/2013).
Im gegenständlichen Verfahren ist daher gemäß § 1 des Bundesgesetzes, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden, BGBl. I Nr. 87/2012 in der Fassung BGBl. I Nr. 144/2013 (in Folge: BFA-VG) dieses sowie weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG 2005 und im Bundesgesetz über die Ausübung der Fremdenpolizei, die Ausstellung von Dokumenten für Fremde und die Erteilung von Einreisetitel, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 144/2013 (in Folge: FPG) anzuwenden.
Soweit das Verwaltungsgericht nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, hat es gemäß § 27 VwGVG u. a. den angefochtenen Bescheid auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs.1 Z 3 und 4) zu überprüfen. Gemäß § 9 Abs.1 VwGVG hat die Beschwerde u. a. (Z 3) die Gründe, auf die sich die Behauptung der Rechtswidrigkeit stützt, sowie (Z 4) das Begehren zu enthalten. In den Erläuterungen zur Regierungsvorlage zur Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012, BGBl. I 51/2012, wurde zu § 27 VwGVG ausgeführt: "Der vorgeschlagene § 27 legt den Prüfungsumfang des Verwaltungsgerichtes fest. Anders als die Kognitionsbefugnis einer Berufungsbehörde (vgl. § 66 Abs. 4 AVG) soll die Kognitionsbefugnis des Verwaltungsgerichtes durch den Inhalt der Beschwerde beschränkt sein."
Der angefochtene Bescheid wurde dem Beschwerdeführer zuhanden seines rechtsfreundlichen Vertreters am 19.02.2013 zugestellt, die am 05.03.2013 eingebrachte Beschwerde erweist sich damit als zulässig.
3.2.1. Zu A) I. zur Abweisung der Beschwerde des Beschwerdeführers gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz (Spruchpunktes I. des angefochtenen Bescheides):
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie verweist).
Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 09.03.1999, 98/01/0370). Verlangt wird eine "Verfolgungsgefahr", wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 27.01.2000, 99/20/0519). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 28.03.1995, 95/19/0041; 26.02.2002, 99/20/0509 mwN; 17.09.2003, 2001/20/0177) ist eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen - würden sie von staatlichen Organen gesetzt - asylrelevant wären. Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (vgl. VwGH vom 22.03.2003, 99/01/0256 mwN).
Nach der Rechtsprechung des VwGH ist der Begriff der "Glaubhaftmachung" im AVG oder in den Verwaltungsvorschriften iSd ZPO zu verstehen. Es genügt daher diesfalls, wenn der [Beschwerdeführer] die Behörde von der (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu bescheinigenden Tatsachen überzeugt. Diesen trifft die Obliegenheit zu einer erhöhten Mitwirkung, dh er hat zu diesem Zweck initiativ alles vorzubringen, was für seine Behauptung spricht (Hengstschläger/Leeb, AVG § 45 Rz 3 mit Judikaturhinweisen). Die "Glaubhaftmachung" wohlbegründeter Furcht setzt positiv getroffene Feststellungen seitens der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit der "hierzu geeigneten Beweismittel", insbesondere des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (vgl. VwGH 19.03.1997, 95/01/0466). Die Frage, ob eine Tatsache als glaubhaft gemacht zu betrachten ist, unterliegt der freien Beweiswürdigung der Behörde (VwGH 27.05.1998, 97/13/0051).
Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
Wie bereits im Rahmen der Beweiswürdigung unter 2.1. dargestellt wurde, wurden für den minderjährigen Beschwerdeführer keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht. Der Beschwerdeführer stütze sein Vorbringen auf jenes seiner Mutter. Dieser ist es in ihrem Asylverfahren nicht gelungen, eine konkret und gezielt gegen ihre Person gerichtete aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität, welche ihre Ursache in einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe hätte, glaubhaft zu machen. Da in ihrem Asylverfahren bereits rechtskräftig entschieden wurde, dass kein Fluchtgrund im Sinne der GFK vorgelegen ist, kann somit auch nicht erkannt werden, dass dem Beschwerdeführer im Herkunftsstaat eine asylrelevante Verfolgung droht.
Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides ist daher gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abzuweisen.
3.2.2. Zu A) II. und III. zur Stattgebung der Beschwerde des Beschwerdeführers gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides) und zur Zuerkennung einer befristeten Aufenthaltsberechtigung:
"§ 8. (1) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist einem Fremden zuzuerkennen,
1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder
2. dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist,
wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
(2) Die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 ist mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.
(3) Anträge auf internationalen Schutz sind bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht.
(3a) Ist ein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht schon mangels einer Voraussetzung gemäß Abs. 1 oder aus den Gründen des Abs. 3 oder 6 abzuweisen, so hat eine Abweisung auch dann zu erfolgen, wenn ein Aberkennungsgrund gemäß § 9 Abs. 2 vorliegt. Diesfalls ist die Abweisung mit der Feststellung zu verbinden, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist, da dies eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Dies gilt sinngemäß auch für die Feststellung, dass der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen ist.
(4) Einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, ist vom Bundesamt oder vom Bundesverwaltungsgericht gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Die Aufenthaltsberechtigung gilt ein Jahr und wird im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen über Antrag des Fremden vom Bundesamt für jeweils zwei weitere Jahre verlängert. Nach einem Antrag des Fremden besteht die Aufenthaltsberechtigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, wenn der Antrag auf Verlängerung vor Ablauf der Aufenthaltsberechtigung gestellt worden ist.
(5) In einem Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 1 Z 2 gilt Abs. 4 mit der Maßgabe, dass die zu erteilende Aufenthaltsberechtigung gleichzeitig mit der des Familienangehörigen, von dem das Recht abgeleitet wird, endet.
(6) Kann der Herkunftsstaat des Asylwerbers nicht festgestellt werden, ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen. Diesfalls ist eine Rückkehrentscheidung zu verfügen, wenn diese gemäß § 9 Abs. 1 und 2 BFA-VG nicht unzulässig ist.
(7) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten erlischt, wenn dem Fremden der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird."
§ 34 AsylG 2005 lautet in der nunmehr geltenden Fassung BGBl. I 144/2013 wie folgt:
"§ 34. (1) Stellt ein Familienangehöriger von
1. einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist;
2. einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8) zuerkannt worden ist oder
3. einem Asylwerber
einen Antrag auf internationalen Schutz, gilt dieser als Antrag auf Gewährung desselben Schutzes.
(2) Die Behörde hat auf Grund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn
1. dieser nicht straffällig geworden ist;
2. die Fortsetzung eines bestehenden Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK mit dem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, in einem anderen Staat nicht möglich ist und
3. gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (§ 7).
(3) Die Behörde hat auf Grund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn
1. dieser nicht straffällig geworden ist;
2. die Fortsetzung eines bestehenden Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK mit dem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, in einem anderen Staat nicht möglich ist;
3. gegen den Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (§ 9) und
4. dem Familienangehörigen nicht der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen ist.
(4) Die Behörde hat Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Abs. 2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Entweder ist der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wobei die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vorgeht, es sei denn, alle Anträge wären als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen. Jeder Asylwerber erhält einen gesonderten Bescheid. Ist einem Fremden der faktische Abschiebeschutz gemäß § 12a Abs. 4 zuzuerkennen, ist dieser auch seinen Familienangehörigen zuzuerkennen.
(5) Die Bestimmungen der Abs. 1 bis 4 gelten sinngemäß für das Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht.
(6) Die Bestimmungen dieses Abschnitts sind nicht anzuwenden:
1. auf Familienangehörige, die EWR-Bürger oder Schweizer Bürger sind;
2. auf Familienangehörige eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten oder der Status des subsidiär Schutzberechtigten im Rahmen eines Verfahrens nach diesem Abschnitt zuerkannt wurde, es sei denn es handelt sich bei dem Familienangehörigen um ein minderjähriges lediges Kind."
Gemäß § 2 Abs. 1 Z. 22 AsylG 2005 ist Familienangehöriger, wer Elternteil eines minderjährigen Kindes, Ehegatte oder zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers oder eines Fremden ist, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten zuerkannt wurde, sofern die Ehe bei Ehegatten bereits im Herkunftsstaat bestanden hat; dies gilt weiters auch für eingetragene Partner, sofern die eingetragene Partnerschaft bereits im Herkunftsstaat bestanden hat, sowie für den gesetzlichen Vertreter der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, wenn diese minderjährig und nicht verheiratet ist, sofern dieses rechtserhebliche Verhältnis bereits im Herkunftsstaat bestanden hat.
Da der Beschwerdeführer der minderjährige Sohn der Beschwerdeführerin zu XXXX ist, somit Familienangehörige iSd § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005, waren sämtliche Verfahren damit gemäß § 34 Abs. 5 iVm § 34 Abs. 1 bis Abs. 4 AsylG 2005 als Familienverfahren zu führen.
Da der Mutter des Beschwerdeführer mit Erkenntnis des Bundesveraltungsgerichtes vom heutigen Tag der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, ist sohin auch dem Beschwerdeführer der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, zumal kein Anhaltspunkt dafür besteht, dass die Fortsetzung eines bestehenden Familienlebens des Beschwerdeführers im Sinne des Art. 8 EMRK in einem anderen Staat möglich wäre, keine Anhaltspunkte für eine Straffälligkeit bestehen und der Mutter des Beschwerdeführers erst mit Erkenntnis vom heutigen Tag der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, also kein Aberkennungsverfahren anhängig ist.
Gemäß § 8 Abs. 4 ASylG 2005 ist somit auch dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 17.09.2015 zu erteilen.
Es ist damit spruchgemäß zu entscheiden.
3.2.3. Zu A) IV.:
Aufgrund der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten war Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides (Ausweisung) ersatzlos zu beheben.
3.3. Zu B) Zur Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der unter den einzelnen Spruchpunkten zu Spruchteil
A) dargetanen bisherigen umfassenden Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer derartigen Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.
Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
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