Normen
B-VG Art18 Abs2
B-VG Art139 Abs1 Z1
COVID-19-MaßnahmenG §1, §3
COVID-19-LockerungsV BGBl II 197/2020 idF BGBl II 207/2020 §6 Abs2, §6 Abs3
COVID-19-LockerungsV BGBl II 197/2020 idF BGBl II 231/2020 §6 Abs7
VfGG §7 Abs2
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VFGH:2021:V615.2020
Spruch:
I. 1. §6 Abs2 und 3 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID‑19 ergriffen wurden, BGBl II Nr 197/2020, idF BGBl II Nr 207/2020 war gesetzwidrig.
2. §6 Abs7 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID‑19 ergriffen wurden, BGBl II Nr 197/2020, idF BGBl II Nr 231/2020 war gesetzwidrig.
II. Die als gesetzwidrig festgestellten Bestimmungen sind nicht mehr anzuwenden.
III. Der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt II verpflichtet.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Antrag
Mit dem vorliegenden, auf Art139 Abs1 Z1 B‑VG gestützten Antrag begehrt das Landesverwaltungsgericht Tirol, der Verfassungsgerichtshof möge feststellen, dass §6 Abs2, 3 und 7 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID‑19 ergriffen wurden, BGBl II 197/2020, idF BGBl II 231/2020 gesetzwidrig war.
II. Rechtslage
1. §§1 und 3 des Bundesgesetzes betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 (COVID‑19-Maßnahmengesetz – im Folgenden: COVID‑19‑MG), BGBl I 12/2020, idF BGBl I 23/2020 (§1) und BGBl I 12/2020 (§3) lauteten auszugsweise:
"Betreten von Betriebsstätten zum Zweck des Erwerbs von Waren und
Dienstleistungen sowie Arbeitsorte
§1. Beim Auftreten von COVID‑19 kann der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz durch Verordnung das Betreten von Betriebsstätten oder nur bestimmten Betriebsstätten zum Zweck des Erwerbs von Waren und Dienstleistungen oder Arbeitsorte im Sinne des §2 Abs3 ArbeitnehmerInnenschutzgesetz untersagen, soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 erforderlich ist. In der Verordnung kann geregelt werden, in welcher Zahl und zu welcher Zeit jene Betriebsstätten betreten werden dürfen, die vom Betretungsverbot ausgenommen sind. Darüber hinaus kann geregelt werden, unter welchen bestimmten Voraussetzungen oder Auflagen Betriebsstätten oder Arbeitsorte betreten werden dürfen.
[…]
Strafbestimmungen
§3. (1) Wer eine Betriebsstätte betritt, deren Betreten gemäß §1 untersagt ist, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe von bis zu 3 600 Euro zu bestrafen.
(2) Wer als Inhaber einer Betriebsstätte nicht dafür Sorge trägt, dass die Betriebsstätte, deren Betreten gemäß §1 untersagt ist, nicht betreten wird, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe von bis zu 30 000 Euro zu bestrafen. Wer als Inhaber einer Betriebsstätte nicht dafür Sorge trägt, dass die Betriebsstätte höchstens von der in der Verordnung genannten Zahl an Personen betreten wird, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe von bis zu 3 600 Euro zu bestrafen.
[…]"
2. §6 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID‑19 ergriffen wurden (COVID‑19-Lockerungsverordnung – COVID‑19‑LV), BGBl II 197/2020, idF BGBl II 231/2020 (die angefochtenen Abs2 und 3 wurden zuletzt mit der Verordnung BGBl II 207/2020 geändert; mit Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 1.10.2020, G272/2020 ua, wurden die Abs1 und 4 idF BGBl II 207/2020 als gesetzwidrig aufgehoben und Abs5 idF BGBl II 231/2020 als gesetzwidrig festgestellt) lautete wie folgt (die angefochtenen Bestimmungen sind hervorgehoben):
"Gastgewerbe
§6. (1) Das Betreten von Betriebsstätten sämtlicher Betriebsarten der Gastgewerbe ist unter den in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen zulässig.
(2) Der Betreiber darf das Betreten der Betriebsstätte für Kunden nur im Zeitraum zwischen 06.00 und 23.00 Uhr zulassen. Restriktivere Sperrstunden und Aufsperrstunden aufgrund anderer Rechtsvorschriften bleiben unberührt.
(3) Der Betreiber hat sicherzustellen, dass die Konsumation von Speisen und Getränken nicht in unmittelbarer Nähe der Ausgabestelle erfolgt.
(4) Der Betreiber hat die Verabreichungsplätze so einzurichten, dass zwischen den Besuchergruppen ein Abstand von mindestens einem Meter besteht. Dies gilt nicht, wenn durch geeignete Schutzmaßnahmen zur räumlichen Trennung das Infektionsrisiko minimiert werden kann.
(5) Der Betreiber darf Besuchergruppen nur einlassen, wenn diese
1. aus maximal vier Erwachsenen zuzüglich ihrer minderjährigen Kinder oder minderjährigen Kindern, denen gegenüber Obsorgepflichten vorhanden sind, bestehen oder
2. aus Personen bestehen, die im gemeinsamen Haushalt leben.
Der gemeinsame Einlass von mehreren zusammengehörenden Besuchergruppen ist nach Maßgabe des Abs4 möglich.
(6) Der Betreiber hat sicherzustellen, dass jeder Kunde in geschlossenen Räumen der Betriebsstätte durch den Betreiber oder einen Mitarbeiter platziert wird.
(7) Der Betreiber hat sicherzustellen, dass er und seine Mitarbeiter bei Kundenkontakt eine den Mund- und Nasenbereich abdeckende mechanische Schutzvorrichtung tragen, sofern zwischen den Personen keine sonstige geeignete Schutzvorrichtung zur räumlichen Trennung vorhanden ist, die das gleiche Schutzniveau gewährleistet.
(8) Vom erstmaligen Betreten der Betriebsstätte bis zum Einfinden am Verabreichungsplatz hat der Kunde gegenüber anderen Personen, die nicht zu seiner Besuchergruppe gehören, einen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten und in geschlossenen Räumen eine den Mund- und Nasenbereich abdeckende mechanische Schutzvorrichtung zu tragen. Beim Verlassen des Verabreichungsplatzes hat der Kunde gegenüber anderen Personen, die nicht zu seiner Besuchergruppe gehören, einen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten.
(9) Der Betreiber hat sicherzustellen, dass sich am Verabreichungsplatz keine Gegenstände befinden, die zum gemeinsamen Gebrauch durch die Kunden bestimmt sind. Selbstbedienung ist nur zulässig, wenn die Speisen und Getränke vom Betreiber oder einem Mitarbeiter ausgegeben werden oder zur Entnahme vorportionierter und abgedeckter Speisen und Getränke.
(10) Bei der Abholung vorbestellter Speisen und/oder Getränke ist sicherzustellen, dass diese nicht vor Ort konsumiert werden und gegenüber Personen, die nicht im gemeinsamen Haushalt leben, ein Abstand von mindestens einem Meter eingehalten wird sowie eine den Mund- und Nasenbereich abdeckende mechanische Schutzvorrichtung getragen wird. Bei der Abholung können zusätzlich auch nicht vorbestellte Getränke mitgenommen werden.
(11) Die Abs1 bis 10 gelten nicht für Betriebsarten der Gastgewerbe, die innerhalb folgender Einrichtungen betrieben werden:
1. Krankenanstalten und Kureinrichtungen;
2. Pflegeanstalten und Seniorenheime;
3. Einrichtungen zur Betreuung und Unterbringung von Kindern und Jugendlichen einschließlich Schulen und Kindergärten;
4. Betrieben, wenn diese ausschließlich durch Betriebsangehörige genützt werden dürfen;
5. Massenbeförderungsmittel."
III. Anlassverfahren, Antragsvorbringen und Vorverfahren
1. Dem Antrag liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
1.1. Dem Beschwerdeführer des Verfahrens vor dem Landesverwaltungsgericht Tirol (im Folgenden: antragstellendes Gericht) wurde mit zwei Straferkenntnissen der Bezirkshauptmannschaft Lienz vom jeweils 9. Oktober 2020 zur Last gelegt, er habe als Verantwortlicher für eine näher bezeichnete Betriebsstätte (Betriebsart: Gastgewerbe) am 30. Mai 2020 und am 4. Juni 2020 nicht dafür Sorge getragen, dass die Betriebsstätte nur im Zeitraum zwischen 06:00 Uhr und 23:00 Uhr von Kunden betreten werde, die Konsumation von Speisen und Getränken nicht in unmittelbarer Nähe der Ausgabestelle erfolge und er bei Kundenkontakt eine den Mund‑ und Nasenbereich abdeckende mechanische Schutzvorrichtung trage, weil auch keine sonstige geeignete Schutzvorrichtung zur räumlichen Trennung vorhanden gewesen sei. Über ihn wurden daher Geldstrafen verhängt.
1.2. Gegen diese Straferkenntnisse erhob der Beschwerdeführer des Verfahrens vor dem antragstellenden Gericht jeweils Beschwerde.
2. Das antragstellende Gericht legt die Bedenken, die es zur Antragstellung beim Verfassungsgerichtshof bestimmt haben, zusammengefasst wie folgt dar:
2.1. Zu den Prozessvoraussetzungen führt das antragstellende Gericht aus, dass das in §1 Abs2 VStG normierte "Günstigkeitsprinzip" im vorliegenden Fall nicht anzuwenden sei: Zwar sehe §1 Abs2 VStG vor, dass sich die Strafe nach dem zur Zeit der Tat geltenden Recht richte, es sei denn, dass das zur Zeit der Entscheidung geltende Recht in seiner Gesamtauswirkung für den Täter günstiger wäre. Dies gelte allerdings nicht für "Zeitgesetze": Dabei handle es sich um Gesetze, die von vornherein nur für einen bestimmten Zeitraum gegolten hätten und der Wegfall der Regelung somit nicht auf einem geänderten Unwerturteil des Normgebers basiere (vgl VwGH 22.7.2019, Ra 2019/02/0107). Die COVID‑19‑LV sei spätestens mit der COVID‑19-Schutzmaßnahmenverordnung – COVID‑19‑SchuMaV, BGBl II 463/2020, aufgehoben worden. Die Aufhebung der Verordnung sei jedoch eindeutig auf eine Änderung der für die Anordnung relevanten Sachlage zurückzuführen und nicht auf eine nachträglich andere Beurteilung der Gefährlichkeit des Virus. Da die Handlungen bzw Unterlassungen des Beschwerdeführers unter die zum Tatzeitpunkt geltende COVID‑19‑LV idF BGBl II 231/2020 zu subsumieren und die behördlichen Verfolgungshandlungen auch in Übereinstimmung mit dieser Rechtsgrundlage gesetzt worden seien, sei §6 Abs1, 2, 3 und 7 dieser Verordnung im gegenständlichen Verfahren anzuwenden. Dass die Verordnung bereits außer Kraft getreten sei, sei unter Verweis auf obige Ausführungen zu §1 Abs2 VStG unbeachtlich.
2.2. In der Sache führt das antragstellende Gericht zusammengefasst aus, dass der Verfassungsgerichtshof bereits mit Erkenntnis vom 1. Oktober 2020, G272/2020, die Gesetzwidrigkeit von §6 Abs1 und 4 COVID‑19‑LV idF BGBl II 207/2020 festgestellt habe; dasselbe gelte für §6 Abs5 COVID‑19‑LV idF BGBl II 231/2020. Gegen §6 Abs2, 3 und 7 COVID‑19‑LV idF BGBl II 231/2020 bestünden unter Hinweis auf die Vorjudikatur des Verfassungsgerichtshofes ebenfalls Bedenken ob ihrer Gesetzmäßigkeit.
2.2.1. Der Verfassungsgerichtshof habe mit seinem [im Antrag in Auszügen wiedergegebenen] Erkenntnis vom 14. Juli 2020, V411/2020, ausgesprochen, dass der Gesetzgeber mit §1 COVID‑19‑MG dem Verordnungsgeber (Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz) einen Einschätzungs‑ und Prognosespielraum übertragen habe, ob und inwieweit er zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 auch erhebliche Grundrechtsbeschränkungen für erforderlich halte, womit der Verordnungsgeber seine Entscheidung als Ergebnis einer Abwägung mit den einschlägigen grundrechtlich geschützten Interessen der betroffenen Unternehmen, ihrer Arbeitnehmer und Kunden zu treffen habe. Angesichts der damit inhaltlich weitreichenden Ermächtigung des Verordnungsgebers verpflichte §1 COVID‑19‑MG vor dem Hintergrund des Art18 Abs2 B‑VG den Verordnungsgeber im einschlägigen Zusammenhang auch, die Wahrnehmung seines Entscheidungsspielraumes im Lichte der gesetzlichen Zielsetzungen insoweit nachvollziehbar zu machen, als er im Verordnungserlassungsverfahren festhalte, auf welcher Informationsbasis über die nach dem Gesetz maßgeblichen Umstände die Verordnungsentscheidung fuße und die gesetzlich vorgegebene Abwägungsentscheidung erfolgt sei.
2.2.2. Das antragstellende Gericht verweist weiters auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 1. Oktober 2020, G272/2020 ua In dieser Entscheidung sei der Verfassungsgerichtshof zu dem [im Antrag wörtlich wiedergegebenen] Ergebnis gekommen, dass die angefochtenen §6 Abs1 und 4 COVID‑19‑LV idF BGBl II 207/2020 und §6 Abs5 COVID‑19‑LV idF BGBl II 231/2020 gegen §1 COVID‑19‑MG verstoßen würden, weil es der Verordnungsgeber gänzlich unterlassen habe, jene Umstände, die ihn bei der Verordnungserlassung bestimmt hätten, so festzuhalten, dass entsprechend nachvollziehbar sei, warum der Verordnungsgeber die mit diesen Regelungen getroffenen Maßnahmen für erforderlich gehalten habe.
2.3. Nach Ansicht des antragstellenden Gerichtes träfen die Ausführungen des Verfassungsgerichtshofes in vollem Umfang auch auf die im Anlassverfahren relevanten Regelungen zu.
3. Der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (im Folgenden: BMSGPK) hat eine Äußerung erstattet, in der er vorbringt, er erachte es vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zu §6 Abs5 COVID‑19‑LV idF BGBl II 231/2020 (VfGH 1.10.2020, G272/2020 ua) für aussichtslos, ein inhaltliches Vorbringen zu erstatten. Dadurch solle jedoch nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass die COVID‑19‑LV idF BGBl II 231/2020 inhaltlich als gesetz‑ bzw verfassungswidrig angesehen werde. Hinsichtlich der auf die angefochtene Verordnung bezughabenden Akten verweist der BMSGPK auf die entsprechenden Beilagen zum Verfahren V350‑354/2020.
IV. Erwägungen
1. Zur Zulässigkeit des Antrages
1.1. Das antragstellende Gericht beantragt die Feststellung der Gesetzwidrigkeit des §6 Abs2, 3 und 7 COVID‑19‑LV idF BGBl II 231/2020. Der Umstand, dass mit der Verordnung BGBl II 231/2020 lediglich Abs7, nicht aber Abs2 und 3 des §6 COVID‑19‑LV geändert wurden, führt für sich allein nicht zur Unzulässigkeit des Antrages. §6 Abs2 und 3 COVID‑19‑LV erhielten bereits mit der Verordnung BGBl II 207/2020 den Wortlaut, den das antragstellende Gericht in seinem Antrag wörtlich wiedergibt. Da somit unzweifelhaft erkennbar ist, in welchen Fassungen diese Bestimmungen angefochten werden, ist dem Formerfordernis des §57 Abs1 erster Satz VfGG Genüge getan (vgl VfGH 14.7.2020, V363/2020; 1.10.2020, V405/2020; zu Art140 B‑VG VfGH 26.11.2020, G236/2020 mwN; VfSlg 20.300/2018).
1.2. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art139 Abs1 Z1 B‑VG bzw des Art140 Abs1 Z1 lita B‑VG nur dann wegen Fehlens der Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001, 16.927/2003).
1.3. Dem antragstellenden Gericht ist nicht entgegenzutreten, wenn es davon ausgeht, dass es §6 Abs2 und 3 COVID‑19‑LV idF BGBl II 207/2020 und §6 Abs7 COVID‑19‑LV idF BGBl II 231/2020 im Anlassverfahren anzuwenden hat.
1.4. Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich der Antrag insgesamt als zulässig.
2. In der Sache
2.1. Der Verfassungsgerichtshof ist in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit einer Verordnung gemäß Art139 B‑VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken beschränkt (vgl VfSlg 11.580/1987, 14.044/1995, 16.674/2002). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Verordnung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen gesetzwidrig ist (VfSlg 15.644/1999, 17.222/2004).
2.2. Der Antrag ist begründet.
2.3. Der Verfassungsgerichtshof hat mit seinem Erkenntnis vom 14. Juli 2020, V411/2020, ausgesprochen, dass der Gesetzgeber mit §1 COVID‑19‑MG [idF BGBl I 23/2020] dem Verordnungsgeber (BMSGPK) einen Einschätzungs- und Prognosespielraum, ob und wieweit er zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 auch erhebliche Grundrechtsbeschränkungen für erforderlich hält, überträgt, womit der Verordnungsgeber seine Entscheidung als Ergebnis einer Abwägung mit den einschlägigen grundrechtlich geschützten Interessen der betroffenen Unternehmen, ihrer Arbeitnehmer und Kunden zu treffen hat. Der Verordnungsgeber muss also in Ansehung des Standes und der Ausbreitung von COVID‑19 notwendig prognosehaft beurteilen, inwieweit in Aussicht genommene Betretungsverbote oder Betretungsbeschränkungen von Betriebsstätten zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 geeignete (der Zielerreichung dienliche) erforderliche (gegenläufige Interessen weniger beschränkend und zugleich weniger effektiv nicht mögliche) und insgesamt angemessene (nicht hinnehmbare Grundrechtseinschränkungen ausschließende) Maßnahmen darstellen.
2.3.1. Der Einschätzungs- und Prognosespielraum des Verordnungsgebers umfasst insoweit auch die zeitliche Dimension dahingehend, dass ein schrittweises, nicht vollständig abschätzbare Auswirkungen beobachtendes und entsprechend wiederum durch neue Maßnahmen reagierendes Vorgehen von der gesetzlichen Ermächtigung des §1 COVID‑19‑MG vorgesehen und auch gefordert ist.
2.3.2. Angesichts der damit inhaltlich weitreichenden Ermächtigung des Verordnungsgebers verpflichtet §1 COVID‑19‑MG vor dem Hintergrund des Art18 Abs2 B‑VG den Verordnungsgeber im einschlägigen Zusammenhang auch, die Wahrnehmung seines Entscheidungsspielraums im Lichte der gesetzlichen Zielsetzungen insoweit nachvollziehbar zu machen, als er im Verordnungserlassungsverfahren festhält, auf welcher Informationsbasis über die nach dem Gesetz maßgeblichen Umstände die Verordnungsentscheidung fußt und die gesetzlich vorgegebene Abwägungsentscheidung erfolgt ist. Die diesbezüglichen Anforderungen dürfen naturgemäß nicht überspannt werden, sie bestimmen sich maßgeblich danach, was in der konkreten Situation möglich und zumutbar ist. Auch in diesem Zusammenhang kommt dem Zeitfaktor entsprechende Bedeutung zu.
2.4. All dies hat der Verfassungsgerichtshof bei seiner Prüfung, ob der BMSGPK den gesetzlichen Vorgaben bei Erlassung der angefochtenen Bestimmungen in §6 Abs2 und 3 COVID‑19‑LV idF BGBl II 207/2020 und §6 Abs7 COVID‑19‑LV idF BGBl II 231/2020 entsprochen hat, zu berücksichtigen. Dass es damit dafür, ob die angefochtenen Verordnungsbestimmungen mit den Zielsetzungen des §1 COVID‑19‑MG im Einklang stehen, auch auf die Einhaltung bestimmter Anforderungen der aktenmäßigen Dokumentation im Verfahren der Verordnungserlassung ankommt, ist kein Selbstzweck. Auch in Situationen, die deswegen krisenhaft sind, weil für ihre Bewältigung entsprechende Routinen fehlen, und in denen der Verwaltung zur Abwehr der Gefahr gesetzlich erhebliche Spielräume eingeräumt sind, kommt solchen Anforderungen eine wichtige, die Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns sichernde Funktion zu (vgl zu alldem auch VfGH 1.10.2020, G272/2020 ua; 1.10.2020, V405/2020; 1.10.2020, V429/2020).
2.5. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits ausgesprochen hat, machen weder der Verordnungsakt zur Stammfassung der COVID‑19‑LV, BGBl II 197/2020 (vgl VfGH 1.10.2020, V429/2020), noch die Verordnungsakten zu den Novellen BGBl II 207/2020 und BGBl II 231/2020 (vgl VfGH 1.10.2020, G272/2020 ua) ersichtlich, welche Umstände im Hinblick auf welche möglichen Entwicklungen von COVID‑19 den Verordnungsgeber bei seiner Entscheidung (unter anderem) hinsichtlich der in den angefochtenen Bestimmungen genannten Voraussetzungen für das Betreten von Betriebsstätten sämtlicher Betriebsarten der Gastgewerbe geleitet haben.
2.6. §6 Abs2 und 3 COVID‑19‑LV idF BGBl II 207/2020 und §6 Abs7 COVID‑19‑LV idF BGBl II 231/2020 verstoßen somit gegen §1 COVID‑19‑MG, weil es der Verordnungsgeber gänzlich unterlassen hat, jene Umstände, die ihn bei der Verordnungserlassung bestimmt haben, so festzuhalten, dass entsprechend nachvollziehbar ist, warum der Verordnungsgeber die mit diesen Regelungen getroffenen Maßnahmen für erforderlich gehalten hat. Da diese Bestimmungen bereits außer Kraft getreten sind, genügt es festzustellen, dass §6 Abs2 und 3 COVID‑19‑LV idF BGBl II 207/2020 und §6 Abs7 COVID‑19‑LV idF BGBl II 231/2020 gesetzwidrig waren.
V. Ergebnis
1. Die COVID‑19‑LV, BGBl II 197/2020 (seit der Verordnung BGBl II 407/2020 als COVID‑19-Maßnahmenverordnung bezeichnet), ist mit Ablauf des 2. November 2020 außer Kraft getreten (vgl §19 Abs1 und 2 COVID‑19-Schutzmaßnahmenverordnung, BGBl II 463/2020, und §19 Abs3 COVID‑19-Notmaßnahmenverordnung, BGBl II 479/2020). Der Verfassungsgerichtshof hat sich daher gemäß Art139 Abs4 B‑VG auf die Feststellung zu beschränken, dass §6 Abs2 und 3 COVID‑19‑LV, BGBl II 197/2020, idF BGBl II 207/2020 und §6 Abs7 COVID‑19‑LV, BGBl II 197/2020, idF BGBl II 231/2020 gesetzwidrig waren.
2. Der Ausspruch, dass die unter Punkt 1. genannten Bestimmungen nicht mehr anzuwenden sind, stützt sich auf Art139 Abs6 zweiter Satz B‑VG.
3. Die Verpflichtung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz zur unverzüglichen Kundmachung der Aussprüche erfließt aus Art139 Abs5 zweiter Satz B‑VG iVm §4 Abs1 Z4 BGBlG.
4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
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