VwGH Ro 2020/22/0010

VwGHRo 2020/22/00109.9.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrätin Mag.a Merl und die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des Bundesministers für Inneres gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 25. März 2020, VGW‑151/058/2126/2020‑11, betreffend Wiederaufnahme eines Verfahrens betreffend Dokumentation eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien; mitbeteiligte Partei: J D in W), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §56
AVG §68 Abs4 Z4
AVG §69 idF 2013/I/033
EURallg
FrPolG 2005 §31 Abs1 Z2
FrPolG 2005 §66 Abs1
NAG 2005
NAG 2005 §3 Abs5
NAG 2005 §54
NAG 2005 §55
NAG 2005 §55 Abs2
NAG 2005 §55 Abs3
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §17
VwRallg
32003L0109 Drittstaatsangehörigen-RL Art10
32004L0038 Unionsbürger-RL Art14 Abs2
32004L0038 Unionsbürger-RL Art31
32004L0038 Unionsbürger-RL Art35

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RO2020220010.J00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Die Mitbeteiligte, eine Staatsangehörige von Nordmazedonien, beantragte am 4. Dezember 2014 die Ausstellung einer Aufenthaltskarte gemäß § 54 Niederlassungs‑ und Aufenthaltsrecht (NAG) als Angehörige eines EWR‑Bürgers und berief sich dabei auf die Ehe mit einem italienischen Staatsangehörigen, der sein Recht auf Freizügigkeit in Anspruch genommen hatte. Die Aufenthaltskarte wurde ihr am 8. Mai 2015 ausgestellt. Im März 2017 wurde die Ehe im gegenseitigen Einvernehmen geschieden. Die Mitbeteiligte heiratete im September 2017 einen Staatsangehörigen von Nordmazedonien.

2 Am 16. Oktober 2017 beantragte die Mitbeteiligte die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“ gemäß § 55 Abs. 5 NAG. Aufgrund des Verdachtes des Vorliegens einer Aufenthaltsehe der Mitbeteiligten mit ihrem geschiedenen Ehemann (dem italienischen Staatsangehörigen) erstattete der Landeshauptmann von Wien (Behörde) am 25. Oktober 2017 eine Mitteilung gemäß § 55 Abs. 3 NAG an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA). Das eingeleitete Verfahren zur Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen war zum Zeitpunkt der Erlassung des hier angefochtenen Erkenntnisses noch nicht abgeschlossen; laut Bericht der Landespolizeidirektion Wien vom 1. Februar 2019 habe sich jedoch der Verdacht des Vorliegens einer Aufenthaltsehe erhärtet.

3 Mit Bescheid vom 16. Dezember 2019 nahm die Behörde das rechtskräftig abgeschlossene Verfahren betreffend die Ausstellung einer Aufenthaltskarte gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 und Abs. 3 AVG wieder auf und wies die Anträge auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte sowie auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“ ab.

4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis behob das Verwaltungsgericht Wien (VwG) diesen Bescheid ersatzlos und erklärte eine ordentliche Revision für zulässig.

Begründend führte das VwG im Wesentlichen aus, im vorliegenden Fall liege kein durch Bescheid abgeschlossenes Verfahren vor; der Mitbeteiligten sei mit der Ausstellung der Aufenthaltskarte kein (konstitutiver) Aufenthaltstitel erteilt, sondern es sei ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht (deklarativ) dokumentiert worden. Eine Nichtigerklärung der Dokumentation durch den Bundesminister für Inneres gemäß § 3 Abs. 5 NAG sei nicht erfolgt. In der hg. Entscheidung vom 16. Mai 2019, Ro 2019/21/0004, habe der Verwaltungsgerichtshof zwar ausgesprochen, dass der Dokumentation eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts nicht jegliche Bescheidwirkung abgesprochen werden könne, weil dies nicht mit § 3 Abs. 5 NAG, der eine Nichtigerklärung einer Aufenthaltskarte durch den Bundesminister für Inneres in Ausübung seines Aufsichtsrechts gemäß § 68 Abs. 4 Z 4 AVG vorsehe, vereinbar wäre. Daraus lasse sich jedoch ‑ so das VwG weiter ‑ nicht ableiten, dass eine Wiederaufnahme gemäß § 69 AVG eines mit der Ausfolgung der Aufenthaltskarte abgeschlossenen Dokumentationsverfahrens zulässig sei. Die Beendigung eines durch die Dokumentation eines unionsrechtlichen Aufenthalts- und Niederlassungsrechts vermittelten rechtmäßigen Aufenthaltes habe vielmehr durch die Erlassung eines Bescheides gemäß § 3 Abs. 5 NAG oder durch eine Vorgehensweise gemäß § 55 Abs. 3 NAG zu erfolgen. Eine Wiederaufnahme eines durch Ausfolgung der Aufenthaltskarte abgeschlossenen Dokumentationsverfahrens komme nicht in Betracht.

Im vorliegenden Fall liege kein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht vor, weil die mittlerweile geschiedene Ehe der Mitbeteiligten mit einem Unionsbürger bis zur Einleitung des Scheidungsverfahrens nur eineinhalb Jahre gedauert habe. Die Behörde habe daher zu Recht gemäß § 55 Abs. 3 NAG das BFA vom Verdacht des Vorliegens einer Aufenthaltsehe verständigt. Eine Aufenthaltsbeendigung wäre auch ‑ trotz mittlerweile erfolgter Scheidung vom Unionsbürger ‑ aus Gründen der Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit möglich. Werde eine aufenthaltsbeendende Maßnahme erlassen, sei das Verfahren zur Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 Abs. 6 NAG einzustellen; sofern eine Aufenthaltsbeendigung unterbleibe, sei dem Drittstaatsangehörigen von Amts wegen eine Aufenthaltsbewilligung „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“ zu erteilen (§ 55 Abs. 5 NAG). Eine Befugnis zur Erlassung eines abweisenden Bescheides betreffend den Antrag der Mitbeteiligten auf Erteilung einer „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“ sei nicht vorgesehen.

Da im vorliegenden Fall das Verfahren zur Aufenthaltsbeendigung beim BFA noch anhängig sei, könne keine abschließende Entscheidung im Sinn des § 55 Abs. 4 bis 6 NAG erfolgen.

Die Zulässigkeit der ordentlichen Revision wurde damit begründet, dass eine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu der Frage, ob eine Wiederaufnahme eines mit Ausstellung einer Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts beendeten Dokumentationsverfahrens gemäß § 69 AVG zulässig sei, fehle.

5 Dagegen richtet sich die Amtsrevision des Bundesministers für Inneres.

6 Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

7 Der Revisionswerber bringt in der Zulässigkeitsbegründung vor, das VwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil ein Drittstaatsangehöriger, der im Besitz einer Aufenthaltskarte sei, gemäß § 31 Abs. 1 Z 2 Fremdenpolizeigesetz (FPG) rechtmäßig aufhältig bleibe, auch wenn das zugrunde liegende Recht nicht mehr bestehe (Hinweis auf VwGH 18.6.2013, 2012/18/0005). Einer solchen rechtsfeststellenden Wirkung könne ein normativer Charakter nicht versagt werden. Der Verwaltungsgerichtshof habe auch festgehalten, dass der Ausstellung einer Dokumentation nicht jede Bescheidwirkung abgesprochen werden könne (Hinweis auf VwGH 16.5.2019, Ro 2019/21/0004). Der Dokumentation komme - so der Revisionswerber - in gewissem Umfang selbst bei Sachverhaltsänderungen (außer bei wesentlichen Sachverhaltsänderungen, die zur Einleitung eines Verfahrens gemäß § 55 Abs. 3 NAG befugten) eine „Bestandsgarantie“ zu, weshalb der normative Charakter von Dokumentationen nicht in Abrede gestellt werden könne.

Werde eine Ehe von Beginn an mit der Absicht geschlossen, kein gemeinsames Familienleben zu führen, liege keine wesentliche Sachverhaltsänderung vor, sondern ein Erschleichen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts. Damit werde der Wiederaufnahmetatbestand des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG erfüllt; in § 3 Abs. 5 NAG sei vorgesehen, dass der Bundesminister für Inneres u.a. wegen des Erschleichens eines Rechtes auch die Dokumentation eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts (ex nunc) für nichtig erklären könne. Nur im Wege der ex tunc Wirkung der Wiederaufnahme könne ein etwa aufgrund einer Aufenthaltsehe widerrechtlich erlangtes unionsrechtliches Aufenthaltsrecht beseitigt werden. Ein Verfahren gemäß § 55 NAG sei dafür nicht geeignet, weil es nur pro futuro das Aufenthaltsrecht beende.

Sei hingegen eine Ehe mit der Absicht geschlossen worden, ein gemeinsames Familienleben zu führen, und sei diese Absicht später weggefallen, müsste die Behörde im Verfahren gemäß § 55 Abs. 3 NAG diese wesentliche Sachverhaltsänderung prüfen, sofern sich der Drittstaatsangehörige weiterhin auf ein nicht mehr geführtes Familienleben berufe.

8 Die Revision ist zulässig, sie ist auch begründet.

9 §§ 3 und 55 Niederlassungs- und Aufenthaltsrecht (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 145/2017, lauten (auszugsweise):

Sachliche Zuständigkeit

§ 3. (1) ...

(5) Der Bundesminister für Inneres kann die Erteilung eines Aufenthaltstitels (§ 8) und die Ausstellung einer Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthalts- und Niederlassungsrechts (§ 9) in Ausübung seines Aufsichtsrechtes nach § 68 Abs. 4 Z 4 AVG mit Bescheid als nichtig erklären, wenn die Erteilung oder Ausstellung

1. trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses gemäß § 11 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 oder

2. trotz Fehlens einer besonderen Voraussetzung des 2. Teiles erfolgte oder

3. durch Fälschung einer Urkunde, falsches Zeugnis oder eine gerichtlich strafbare Handlung herbeigeführt oder sonst wie erschlichen worden ist.

...

Nichtbestehen, Fortbestand und Überprüfung des Aufenthaltsrechts für mehr als drei Monate

§ 55. (1) EWR-Bürgern und ihren Angehörigen kommt das Aufenthaltsrecht gemäß §§ 51, 52, 53 und 54 zu, solange die dort genannten Voraussetzungen erfüllt sind.

(2) Der Fortbestand der Voraussetzungen kann bei einer Meldung gemäß §§ 51 Abs. 3 und 54 Abs. 6 oder aus besonderem Anlass wie insbesondere Kenntnis der Behörde vom Tod des unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR‑Bürgers oder einer Scheidung überprüft werden.

(3) Besteht das Aufenthaltsrecht gemäß §§ 51, 52 und 54 nicht, weil eine Gefährdung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit vorliegt, die Nachweise nach § 53 Abs. 2 oder § 54 Abs. 2 nicht erbracht werden oder die Voraussetzungen für dieses Aufenthaltsrecht nicht oder nicht mehr vorliegen, hat die Behörde den Betroffenen hievon schriftlich in Kenntnis zu setzen und ihm mitzuteilen, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hinsichtlich einer möglichen Aufenthaltsbeendigung befasst wurde. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ist unverzüglich, spätestens jedoch gleichzeitig mit der Mitteilung an den Antragsteller, zu befassen. Dies gilt nicht in einem Fall gemäß § 54 Abs. 7. Während eines Verfahrens zur Aufenthaltsbeendigung ist der Ablauf der Frist gemäß § 8 VwGVG gehemmt.

(4) Unterbleibt eine Aufenthaltsbeendigung (§ 9 BFA-VG), hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dies der Behörde mitzuteilen. Sofern der Betroffene nicht bereits über eine gültige Dokumentation verfügt, hat die Behörde in diesem Fall die Dokumentation des Aufenthaltsrechts unverzüglich vorzunehmen oder dem Betroffenen einen Aufenthaltstitel zu erteilen, wenn dies nach diesem Bundesgesetz vorgesehen ist.

(5) Unterbleibt eine Aufenthaltsbeendigung von Drittstaatsangehörigen, die Angehörige sind, aber die Voraussetzungen nicht mehr erfüllen, ist diesen Angehörigen ein Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ quotenfrei zu erteilen.

(6) Erwächst eine Aufenthaltsbeendigung in Rechtskraft, ist ein nach diesem Bundesgesetz anhängiges Verfahren einzustellen. Das Verfahren ist im Fall der Aufhebung einer Aufenthaltsbeendigung fortzusetzen, wenn nicht neuerlich eine aufenthaltsbeendende Maßnahme gesetzt wird.“

§ 69 AVG, BGBl. Nr. 51/1991 idF BGBl. I Nr. 33/2013, lautet:

Wiederaufnahme des Verfahrens

§ 69. (1) Dem Antrag einer Partei auf Wiederaufnahme eines durch Bescheid abgeschlossenen Verfahrens ist stattzugeben, wenn ein Rechtsmittel gegen den Bescheid nicht oder nicht mehr zulässig ist und:

1. der Bescheid durch Fälschung einer Urkunde, falsches Zeugnis oder eine andere gerichtlich strafbare Handlung herbeigeführt oder sonstwie erschlichen worden ist oder

2. neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich einen im Hauptinhalt des Spruches anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätten, oder

3. der Bescheid gemäß § 38 von Vorfragen abhängig war und nachträglich über eine solche Vorfrage von der zuständigen Verwaltungsbehörde bzw. vom zuständigen Gericht in wesentlichen Punkten anders entschieden wurde;

4. nachträglich ein Bescheid oder eine gerichtliche Entscheidung bekannt wird, der bzw. die einer Aufhebung oder Abänderung auf Antrag einer Partei nicht unterliegt und die im Verfahren die Einwendung der entschiedenen Sache begründet hätte.

(2) Der Antrag auf Wiederaufnahme ist binnen zwei Wochen bei der Behörde einzubringen, die den Bescheid in erster Instanz erlassen hat. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Antragsteller von dem Wiederaufnahmegrund Kenntnis erlangt hat, wenn dies jedoch nach der Verkündung des mündlichen Bescheides und vor Zustellung der schriftlichen Ausfertigung geschehen ist, erst mit diesem Zeitpunkt. Nach Ablauf von drei Jahren nach Erlassung des Bescheides kann der Antrag auf Wiederaufnahme nicht mehr gestellt werden. Die Umstände, aus welchen sich die Einhaltung der gesetzlichen Frist ergibt, sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen.

(3) Unter den Voraussetzungen des Abs. 1 kann die Wiederaufnahme des Verfahrens auch von Amts wegen verfügt werden. Nach Ablauf von drei Jahren nach Erlassung des Bescheides kann die Wiederaufnahme auch von Amts wegen nur mehr aus den Gründen des Abs. 1 Z 1 stattfinden.

(4) Die Entscheidung über die Wiederaufnahme steht der Behörde zu, die den Bescheid in letzter Instanz erlassen hat.“

Art. 31 Abs. 1 und 35 der Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, lauten:

„Artikel 31

Verfahrensgarantien

(1) Gegen eine Entscheidung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit müssen die Betroffenen einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einlegen können.

...

Artikel 35

Rechtsmissbrauch

Die Mitgliedstaaten können die Maßnahmen erlassen, die notwendig sind, um die durch diese Richtlinie verliehenen Rechte im Falle von Rechtsmissbrauch oder Betrug - wie z.B. durch Eingehung von Scheinehen - zu verweigern, aufzuheben oder zu widerrufen. Solche Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein und unterliegen den Verfahrensgarantien nach den Artikeln 30 und 31.“

10 Nach der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gehört eine Aufenthaltskarte gemäß § 54 NAG zu den Dokumentationen des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechtes. Das Aufenthaltsrecht ergibt sich in diesem Fall nicht aus einer nationalen gesetzlichen Berechtigung, sondern kraft unmittelbar anwendbaren Unionsrechts. Die Bescheinigung hat daher bloß deklaratorische Wirkung und stellt keinen konstitutiv begründeten Aufenthaltstitel dar (vgl. VwGH 8.7.2020, Ra 2019/22/0177, Rz. 11).

11 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung auch bereits festgehalten, dass ein Fremder, für den eine Dokumentation eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts ausgestellt wurde, selbst bei Wegfall des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts bis zum Abschluss des nach § 55NAG vorgesehenen Verfahrens gemäß § 31 Abs. 1 Z 2 FPG rechtmäßig aufhältig bleibt (vgl. VwGH 14.11.2017, Ra 2017/20/0274, Rn. 46, mwN).

Zumindest in jenem Umfang, in dem ein Drittstaatsangehöriger zwar über eine Aufenthaltskarte, aber kein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht verfügt, basiert sein rechtmäßiger Aufenthalt somit auf dem NAG.

12 In dem sowohl im angefochtenen Erkenntnis als auch in der Revision zitierten hg. Beschluss Ro 2019/21/0004 (vgl. Rn. 12) wird einer Dokumentation eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts nicht jede Bescheidwirkung abgesprochen. Dies wird systematisch damit begründet, dass der Gesetzgeber in § 3 Abs. 5 NAG dem Bundesminister für Inneres die Befugnis einräume, in Ausübung seines Aufsichtsrechts gemäß § 68 Abs. 4 Z 4 AVG eine Dokumentation eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts für nichtig zu erklären; eine Nichtigerklärung wäre nicht erforderlich, wenn eine „unrichtige Dokumentation“ einfach unbeachtlich wäre. Es sei davon auszugehen, dass unabhängig vom Bestand eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts durch die Aufenthaltskarte ein rechtmäßiger Aufenthalt vermittelt werde, was ‑ sofern keine Nichtigerklärung gemäß § 3 Abs. 5 NAG erfolgt sei ‑ ohne Vorliegen einer Sachverhaltsänderung einer Vorgangsweise nach § 66 Abs. 1 FPG (aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen u.a. unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger) iVm § 55 Abs. 3 NAG entgegenstehe.

13 Aus den oben zitierten hg. Entscheidungen ergibt sich, dass die Ausstellung einer Aufenthaltskarte auch die (positive) Feststellung über das Vorliegen der Voraussetzungen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts beinhaltet. Die Beseitigung der Wirkungen einer solchen Dokumentation kann nur mit Bescheid erfolgen, wobei der Drittstaatsangehörige, wenn ihm etwa die Rechtsstellung als langfristig Aufenthaltsberechtigter entzogen wird, gegen diese Entscheidung einen Rechtsbehelf einlegen kann (vgl. dazu auch Art. 10 der Richtlinie 2003/109/EG ). Daraus folgt, dass ‑ entgegen der Auffassung des VwG ‑ mangels spezieller Regelungen betreffend die Aufhebung der Rechtswirkungen diesbezüglich ein Anwendungsbereich des § 69 AVG sehr wohl zu bejahen ist. Daran ändert auch die Möglichkeit für den Bundesminister für Inneres, sowohl Bescheide als auch Dokumentationen gemäß § 3 Abs. 5 NAG aus den dort genannten Gründen für nichtig zu erklären, nichts. Diese Möglichkeit schließt auch im Falle von bescheidmäßig erteilten Aufenthaltstiteln nicht die Anwendung des sonstigen Verfahrensrechts (durch die Verwaltungsbehörde) aus. Es fehlt jeglicher Anhaltspunkt dafür, dass § 3 Abs. 5 NAG im Falle von Dokumentationen die einzige Möglichkeit des Eingriffs in die durch die Ausstellung der Dokumentation verliehene Rechtsposition sein sollte.

14 Da das VwG dies verkannte, war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

15 Für das fortzusetzende Verfahren wird darauf hingewiesen, dass die Behörde bzw. das VwG nach erfolgter Aufhebung der Dokumentation entsprechend § 55 Abs. 3 iVm § 54 Abs. 7 NAG vorzugehen hat.

Wien, am 9. September 2020

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