VwGH Ro 2019/21/0004

VwGHRo 2019/21/000416.5.2019



Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 7. Dezember 2018, G313 2121289-2/30E, betreffend Ausweisung (mitbeteiligte Partei: M R in M), den Beschluss gefasst:

Normen

EURallg
FrPolG 2005 §31 Abs1 Z2
FrPolG 2005 §66 Abs1
NAG 2005 §3 Abs5
NAG 2005 §54
NAG 2005 §55 Abs2
NAG 2005 §55 Abs3
NAG 2005 §9
VwRallg
32004L0038 Unionsbürger-RL Art14 Abs2

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RO2019210004.J00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Der am 10. Mai 1995 geborene Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger des Kosovo, lebt seit September 2014 in Österreich. Er hatte kurz vor seiner Einreise im Kosovo mit der (in Österreich lebenden und arbeitenden) ungarischen Ehegattin seines (kosovarischen) Cousins, nach Zustimmung seiner Eltern vom 15. September 2014, einen (auf unbefristete Zeit wirksamen) Pflegschaftsvertrag abgeschlossen, durch den er Pflegekind der genannten Ungarin werden sollte.

2 Über hierauf gestützten Antrag vom 23. September 2014 stellte ihm die Bezirkshauptmannschaft St. Pölten am 30. September 2014 gemäß § 54 Abs. 1 NAG eine bis 30. September 2019 geltende Aufenthaltskarte (als Angehöriger der genannten aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgerin) aus.

Eine Nichtigerklärung dieser Ausstellung der Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthalts- und Niederlassungsrechts, etwa nach § 3 Abs. 5 Z 2 NAG, ist nicht erfolgt.

3 Mit Bescheid vom 24. Oktober 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Mitbeteiligten gemäß § 66 Abs. 1 FPG iVm § 55 Abs. 3 NAG aus dem Bundesgebiet aus. Es erteilte ihm gemäß § 70 Abs. 3 FPG einen Durchsetzungsaufschub von einem Monat.

4 In der Begründung legte das BFA dar, dass eine bereits mit Bescheid vom 11. Jänner 2016 erlassene Rückkehrentscheidung (samt Begleitaussprüchen) mit (unbekämpft gebliebenem) Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes (BVwG) vom 13. Juli 2016 ersatzlos aufgehoben worden sei.

Der Mitbeteiligte sei kein begünstigter Drittstaatsangehöriger iSd § 2 Abs. 4 Z 11 FPG, weil ein in dieser Norm genanntes Verwandtschaftsverhältnis fehle. Eine Aufhebung des Bescheides der Bezirkshauptmannschaft St. Pölten (laut Rn. 2) gemäß § 3 Abs. 5 NAG sei weder erforderlich noch vorgesehen. Das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht des Angehörigen eines Unionsbürgers folge nämlich unmittelbar aus der Freizügigkeitsrichtlinie. Die Aufenthaltskarte nach § 54 NAG sei nur die Bescheinigung dieses Rechts, sodass eine Aufhebung "nach §§ 68f AVG mangels Bescheidcharakter nicht in Betracht" komme. Die Karte diene nur der Dokumentation und schaffe keinen Aufenthaltstitel. Die Ungültigkeit der Bescheinigung habe die Zulässigkeit der Ausweisung des Fremden zur Folge.

5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 7. Dezember 2018 gab das BVwG einer dagegen erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten statt und hob den angefochtenen Bescheid des BFA auf. Es erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für zulässig. 6 Begründend führte es aus, dass der Mitbeteiligte, dessen Cousin sich zu (bislang geleisteten) Unterhaltszahlungen bis zur Selbsterhaltungsfähigkeit verpflichtet und - gemeinsam mit seiner Ehegattin - seine "Pflege und Erziehung übernommen" habe, einem Angehörigen gleichzustellen sei. Sein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht sei infolge (näher erläuterten) Vorliegens der Erfordernisse nach § 52 Abs. 1 Z 2 und § 55 Abs. 3 NAG zu bejahen, sodass die Voraussetzungen für eine Ausweisung nicht vorlägen.

Die Zulässigkeit der Revision folge aus dem Fehlen von Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, ob Pflegekinder eines EWR-Bürgers - ebenso wie etwa Adoptiv- und Stiefkinder - Familienangehörige iSd § 2 Abs. 1 Z 9 NAG seien.

7 Die dagegen erhobene Amtsrevision des BFA (zu der - im Rahmen der Durchführung des Vorverfahrens durch das BVwG - keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde) ist entgegen dem nicht bindenden Ausspruch des BVwG (§ 34 Abs. 1a erster Satz VwGG) im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil der Ausgang des Verfahrens von der eben genannten Rechtsfrage nicht abhängt. 8 § 66 Abs. 1 FPG lautet auszugsweise:

"EWR-Bürger, Schweizer Bürger und begünstigte Drittstaatsangehörige können ausgewiesen werden, wenn ihnen aus den Gründen des § 55 Abs. 3 NAG das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht nicht oder nicht mehr zukommt, ..."

§ 55 Abs. 1 bis 3 NAG enthält samt Überschrift folgende Anordnungen:

"Nichtbestehen, Fortbestand und Überprüfung des Aufenthaltsrechts für mehr als drei Monate

§ 55. (1) EWR-Bürgern und ihren Angehörigen kommt das Aufenthaltsrecht gemäß §§ 51, 52, 53 und 54 zu, solange die dort genannten Voraussetzungen erfüllt sind.

(2) Der Fortbestand der Voraussetzungen kann bei einer Meldung gemäß §§ 51 Abs. 3 und 54 Abs. 6 oder aus besonderem Anlass wie insbesondere Kenntnis der Behörde vom Tod des unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgers oder einer Scheidung überprüft werden.

(3) Besteht das Aufenthaltsrecht gemäß §§ 51, 52 und 54 nicht, weil eine Gefährdung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit vorliegt, die Nachweise nach § 53 Abs. 2 oder § 54 Abs. 2 nicht erbracht werden oder die Voraussetzungen für dieses Aufenthaltsrecht nicht oder nicht mehr vorliegen, hat die Behörde den Betroffenen hievon schriftlich in Kenntnis zu setzen und ihm mitzuteilen, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hinsichtlich einer möglichen Aufenthaltsbeendigung befasst wurde.

..."

§ 3 Abs. 5 NAG sieht vor:

"Der Bundesminister für Inneres kann die Erteilung eines Aufenthaltstitels (§ 8) und die Ausstellung einer Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthalts- und Niederlassungsrechts (§ 9) in Ausübung seines Aufsichtsrechtes nach § 68 Abs. 4 Z 4 AVG mit Bescheid als nichtig erklären, wenn die Erteilung oder Ausstellung

1. trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses gemäß § 11 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 oder

2. trotz Fehlens einer besonderen Voraussetzung des 2. Teiles erfolgte oder

3. durch Fälschung einer Urkunde, falsches Zeugnis oder eine gerichtlich strafbare Handlung herbeigeführt oder sonst wie erschlichen worden ist.

In den Fällen der Z 1 und 2 ist die Nichtigerklärung nur binnen drei Jahren nach Erteilung oder Ausstellung zulässig."

9 Die §§ 51 ff NAG dienen der Umsetzung der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 - kurz: RL (vgl. ErläutRV 952 BlgNR 22. GP 141).

Art. 14 Abs. 2 dieser RL (in der Stammfassung), dessen zweiter Satz mit § 55 Abs. 2 NAG umgesetzt werden sollte (vgl. ErläutRV 330 BlgNR 24. GP 53), lautet:

"Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen steht das Aufenthaltsrecht nach den Artikeln 7, 12 und 13 zu, solange sie die dort genannten Voraussetzungen erfüllen.

In bestimmten Fällen, in denen begründete Zweifel bestehen, ob der Unionsbürger oder seine Familienangehörigen die Voraussetzungen der Artikel 7, 12 und 13 erfüllen, können die Mitgliedstaaten prüfen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind. Diese Prüfung wird nicht systematisch durchgeführt."

Art. 15 der RL ordnet an, dass die Verfahren der Art. 30 und 31 sinngemäß auf jede Entscheidung Anwendung finden, die die Freizügigkeit von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen beschränkt und nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit erlassen wird. Gemäß Art. 31 Abs. 1 der RL müssen die Betroffenen gegen eine Entscheidung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einlegen können. Abs. 3 des Art. 31 der RL legt fest, dass in diesem Rechtsbehelfsverfahren, also auch vor dem Gericht, die Rechtmäßigkeit der Entscheidung sowie die Tatsachen und die Umstände, auf denen die Entscheidung beruht, zu überprüfen sind.

10 Dem BFA ist darin beizupflichten, dass eine Aufenthaltskarte nach § 54 NAG zu den Dokumentationen des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts zählt. In diesen Fällen ergibt sich das Aufenthalts- und Niederlassungsrecht nicht aus einer nationalen gesetzlichen Berechtigung, sondern kraft unmittelbar anwendbaren Unionsrechts. Diese Bescheinigung hat bloß deklaratorische Wirkung, ein das Aufenthaltsrecht konstitutiv begründender "Aufenthaltstitel" liegt mit der Aufenthaltskarte nicht vor (vgl. dazu etwa VwGH 26.4.2016, Ra 2015/09/0137, Rn. 10, mwN).

11 Soweit das BFA daraus aber folgert, jede Bescheidwirkung der Ausstellung müsse in Abrede gestellt werden, kann das mit dem klaren Wortlaut des § 3 Abs. 5 NAG nicht in Einklang gebracht werden. Diese Bestimmung sieht nämlich (in ihrer Z 2) auch für Fälle der Ausstellung einer Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthalts- und Niederlassungsrechts (§ 9 NAG) eine Nichtigerklärung durch den Bundesminister für Inneres in Ausübung seines Aufsichtsrechtes mit Bescheid nach § 68 Abs. 4 Z 4 AVG vor, wenn die Ausstellung trotz (hier geltend gemachten) Fehlens einer besonderen Voraussetzung des 2. Teiles des NAG erfolgte.

Diese Anordnung wäre, ebenso wie die dargestellte Befristung der Möglichkeit einer Nichtigerklärung durch § 3 Abs. 5 letzter Satz NAG, nicht nachvollziehbar, hätte eine unrichtige Dokumentation (wie das BFA meint) einfach - und wohl ohne zeitliche Befristung - unbeachtet zu bleiben.

12 Vielmehr ist davon auszugehen, dass sie (zunächst) - unabhängig vom Bestand eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts -

einen rechtmäßigen Aufenthalt iSd § 31 Abs. 1 Z 2 FPG vermittelt (vgl. VwGH 18.6.2013, 2012/18/0005), was dann bei Fehlen eines Bescheides nach § 3 Abs. 5 NAG ohne Vorliegen einer wesentlichen Sachverhaltsänderung einer Vorgangsweise nach § 66 Abs. 1 FPG iVm § 55 Abs. 3 NAG entgegensteht.

Die in der letztgenannten Gesetzesstelle vorgesehene Tatbestandsvariante, dass die Voraussetzungen für das Aufenthaltsrecht "nicht (oder nicht mehr) vorliegen", kann nach dem Gesagten nur auf den erstmaligen hierüber erfolgenden Abspruch noch vor Ausstellung einer Dokumentation bezogen werden.

Mit anderen Worten: Ohne wesentliche Sachverhaltsänderung können die Wirkungen einer von der Niederlassungsbehörde ausgestellten Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts (rechtmäßiger Aufenthalt nach § 31 Abs. 1 Z 2 FPG) nicht im Wege einer Ausweisung des BFA gemäß § 66 Abs. 1 FPG iVm § 55 Abs. 3 NAG, sondern nur unter den eingeschränkten Voraussetzungen des § 3 Abs. 5 NAG vom Bundesminister für Inneres beseitigt werden, wofür auch die aus § 55 Abs. 2 NAG - in Umsetzung von Art. 14 Abs. 2 zweiter Satz der RL - selbst bei Sachverhaltsänderungen in einem gewissen Umfang ableitbare "Bestandsgarantie" einer solchen Dokumentation spricht. 13 Die dem Erkenntnis VwGH 13.10.2011, 2009/22/0330, zu entnehmende abweichende Ansicht, die zentral mit dem nach der RL erforderlichen Rechtsschutz begründet wurde, wurde zur Rechtslage vor Inkrafttreten des (auf der Grundlage des wiedergegebenen Art. 14 Abs. 2 der RL) die Bestandskraft für Dokumentationen des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts neu regelnden § 55 Abs. 2 NAG idF des FrÄG 2009 - mit 1. Jänner 2010 - sowie vor Einführung der (eine gerichtliche Nachprüfung iSd Art. 31 Abs. 3 der RL insbesondere auch einer Entscheidung des Bundesministers für Inneres nach § 3 Abs. 5 NAG vorsehenden) Verwaltungsgerichte vertreten. Den dort angestellten Überlegungen ist damit durch die geänderte Rechtslage der Boden entzogen.

14 Die Behebung der Ausweisung durch das BVwG ist nach dem Gesagten unabhängig von der Beurteilung der Stellung des Mitbeteiligten als Familienangehöriger einer EWR-Bürgerin nicht zu beanstanden. Damit erweist sich diese als grundlegend erachtete Rechtsfrage jedoch als nicht entscheidungswesentlich.

Auch sonst lässt die Revision keine Rechtsfrage erkennen, der im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Sie war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG - in einem gemäß § 12 Abs. 2 VwGG gebildeten Senat - zurückzuweisen.

Wien, am 16. Mai 2019

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