VwGH Ra 2019/22/0177

VwGHRa 2019/22/01778.7.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrätin Mag.a Merl und die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision der L K in W, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichtes Wien vom 24. Juni 2019, VGW‑151/039/2598/2019‑1, betreffend Verletzung der Entscheidungspflicht in einer Angelegenheit nach dem NAG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §56
AVG §73
B-VG Art130 Abs1 Z3
EURallg
FrPolG 2005 §110
NAG 2005 §37 Abs4
NAG 2005 §54
NAG 2005 §9 Abs1 Z2
Verwaltungsgerichtsbarkeits-Nov 2012
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §8
VwGVG 2014 §8 Abs1
VwRallg

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019220177.L00

 

Spruch:

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die Revisionswerberin, eine georgische Staatsangehörige, stellte am 18. Juni 2018 einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltskarte gemäß § 54 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG). Nachdem der Landeshauptmann von Wien (Behörde) über diesen Antrag nicht entschieden hatte, erhob die Revisionswerberin am 27. Dezember 2018 eine Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht an das Verwaltungsgericht Wien. Die Revisionswerberin beruft sich auf ihre Ehe mit einem in Österreich aufhältigen und in einem Beschäftigungsverhältnis stehenden bulgarischen Staatsangehörigen.

2 Die Säumnnisbeschwerde wies das Verwaltungsgericht mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG iVm § 37 Abs. 4 NAG als unzulässig zurück. Weiters sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Revision unzulässig sei.

3 Das Verwaltungsgericht stellte fest, dass die Behörde am 4. Juli 2018 ein auf § 37 Abs. 4 NAG gestütztes Ersuchen um Erhebungen bezüglich des Verdachtes des Bestehens einer Aufenthaltsehe an die Landespolizeidirektion Wien gerichtet habe. Die abschließende Stellungnahme der Landespolizeidirektion sei erst am 18. Jänner 2019 erfolgt. Die Entscheidungsfrist gemäß § 73 Abs. 1 AVG sei zum Zeitpunkt der Erhebung der Säumnisbeschwerde noch nicht abgelaufen gewesen.

4 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

5 Die Revisionswerberin führt in der Zulässigkeitsbegründung aus, die Behörde habe am 4. Juli 2018 die Landespolizeidirektion eingeschaltet, weshalb diese verpflichtet gewesen sei, binnen drei Monaten zu berichten. Allenfalls hätte die Frist um zwei Monate verlängert werden können. Bei Erhebung der Säumnisbeschwerde sei jedenfalls die fünfmonatige Maximalfrist der Landespolizeidirektion abgelaufen gewesen. Art. 10 der Richtlinie 2004/38/EG (FreizügigkeitsRL) bestimme, dass die Behörde dem Antragsteller spätestens sechs Monate nach Einreichung eine Aufenthaltskarte auszustellen habe. Diesbezüglich habe auch der EuGH im Urteil vom 27. Juni 2018, C‑246/17, Diallo, festgestellt, dass die Entscheidung über den Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers innerhalb der in dieser Bestimmung vorgesehenen Sechsmonatsfrist erlassen und bekannt gegeben werden müsse. Eine Fristhemmung sei bei Verdacht einer Aufenthaltsehe unionsrechtswidrig. Zu § 37 Abs. 4 NAG fehle es in Bezug auf die Art der Fristhemmung an Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes. Der Verwaltungsgerichtshof habe zu der mit § 37 Abs. 4 NAG vergleichbaren Bestimmung des § 25 Abs. 1 NAG ausgesprochen, dass diese eine „Ablaufhemmung“ normiere, sodass die Behörde nach Beendigung der Hemmung unter Umständen sofort, jedenfalls aber bis zum Ablauf der Sechsmonatsfrist entscheiden hätte müssen (Hinweis auf VwGH, 9.7.2009, 2009/22/0149).

6 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens ‑ eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet ‑ erwogen:

7 Die Revision ist im Hinblick auf ihr Vorbringen zulässig. Sie ist auch begründet.

8 Die entscheidungsrelevanten Vorschriften des NAG lauten auszugsweise:

Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts

§ 9. (1) Zur Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts für mehr als drei Monate werden auf Antrag ausgestellt:

1. eine ‚Anmeldebescheinigung‘ (§ 53) für EWR‑Bürger, die sich länger als drei Monate in Österreich aufhalten, und

2. eine ‚Aufenthaltskarte für Angehörige eines EWR‑Bürgers‘ (§ 54) für Drittstaatsangehörige, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR‑Bürgern sind.

(2) ...

Aufenthaltsehe, Aufenthaltspartnerschaft und Aufenthaltsadoption

§ 30. (1) Ehegatten oder eingetragene Partner, die ein gemeinsames Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK nicht führen, dürfen sich für die Erteilung und Beibehaltung von Aufenthaltstiteln nicht auf die Ehe oder eingetragene Partnerschaft berufen.

(2) An Kindes statt angenommene Fremde dürfen sich bei der Erteilung und Beibehaltung von Aufenthaltstiteln nur dann auf diese Adoption berufen, wenn die Erlangung und Beibehaltung des Aufenthaltstitels nicht der ausschließliche oder vorwiegende Grund für die Annahme an Kindes statt war.

(3) Die Abs. 1 und 2 gelten auch für den Erwerb und die Aufrechterhaltung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts.

Mitteilungs- und Mitwirkungspflichten

§ 37. (1) ...

(4) Hat die Behörde bei Vornahme einer Amtshandlung nach diesem Bundesgesetz den begründeten Verdacht, dass in Bezug auf einen bestimmten Fremden eine Aufenthaltsehe, Aufenthaltspartnerschaft oder Aufenthaltsadoption besteht, hat sie die Landespolizeidirektion von diesem Verdacht zu verständigen. Diese Verständigung hemmt den Ablauf der Frist gemäß § 8 VwGVG bis zum Einlangen einer Mitteilung der Landespolizeidirektion gemäß § 110 FPG bei der Behörde. Teilt die Landespolizeidirektion mit, dass keine Aufenthaltsehe, Aufenthaltspartnerschaft oder Aufenthaltsadoption besteht, oder erfolgt die Mitteilung der Landespolizeidirektion nicht binnen drei Monaten, hat die Behörde vom Vorliegen einer Ehe, eingetragenen Partnerschaft oder Adoption auszugehen, es sei denn die Landespolizeidirektion gibt binnen dieser Frist begründet bekannt, dass die Erhebungen noch nicht abgeschlossen werden konnten. Diesfalls verlängert sich die Frist für die Mitteilung gemäß § 110 FPG einmalig um weitere zwei Monate.

...

Aufenthaltskarten für Angehörige eines EWRBürgers

§ 54. (1) Drittstaatsangehörige, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR‑Bürgern (§ 51) sind und die in § 52 Abs. 1 Z 1 bis 3 genannten Voraussetzungen erfüllen, sind zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt. Ihnen ist auf Antrag eine Aufenthaltskarte für die Dauer von fünf Jahren oder für die geplante kürzere Aufenthaltsdauer auszustellen. Dieser Antrag ist innerhalb von vier Monaten ab Einreise zu stellen. § 1 Abs. 2 Z 1 gilt nicht.

...“

9 Gemäß § 8 Abs. 1 VwGVG kann Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B‑VG (Säumnisbeschwerde) erhoben werden, wenn die Behörde die Sache (soweit nicht kürzere oder längere gesetzliche Entscheidungsfristen vorgesehen sind) nicht innerhalb von sechs Monaten entschieden hat.

10 Nachdem der Landeshauptmann von Wien nicht binnen sechs Monaten über diesen Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte gemäß § 54 NAG entschieden hatte, brachte die Revisionswerberin am 27. Dezember 2018 eine Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht ein.

11 Eine Aufenthaltskarte nach § 54 NAG gehört gemäß § 9 Abs. 1 Z 2 NAG zu den Dokumentationen des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechtes. In diesen Fällen ergibt sich das Aufenthalts- und Niederlassungsrecht nicht aus einer nationalen gesetzlichen Berechtigung, sondern kraft unmittelbar anwendbaren Unionsrechts. Die Bescheinigung hat bloß deklaratorische Wirkung. Ein das Aufenthaltsrecht konstitutiv begründender Aufenthaltstitel liegt mit der Aufenthaltskarte gemäß § 54 NAG damit nicht vor (vgl. VwGH 26.4.2016, Ra 2015/09/0137).

12 Mit Erkenntnis vom 10. September 2003, 2002/18/0152, hat der Verwaltungsgerichtshof zu Rechtslage vor Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit ausgesprochen, dass der Devolutionsantrag gemäß § 73 AVG einen Rechtsschutz gegen die Säumnis einer Behörde bei Bescheiderlassung bietet, jedoch nicht dazu geeignet ist, die Ausstellung einer Urkunde zu begehren. Wird die Behörde aber mit der Ausstellung einer nicht als Bescheid zu qualifizierenden Urkunde säumig, hat die im Devolutionsweg angerufene Behörde ‑ falls sie den Anspruch als gegeben erachtet ‑ mit Bescheid festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Urkundenausstellung gegeben sind. Diese Rechtsprechung lässt sich auf die Rechtslage nach Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz mit 1. Jänner 2014 in Bezug auf Säumnisbeschwerden an das Verwaltungsgericht übertragen.

13 Im vorliegenden Fall hat das Verwaltungsgericht angenommen, dass durch die Mitteilung der Behörde an die Landespolizeidirektion am 4. Juli 2018 (betreffend den Verdacht einer Aufenthaltsehe mit ihrem freizügigkeitsberechtigten Ehemann nach § 30 Abs. 1 und Abs. 3 NAG) die sechsmonatige Entscheidungsfrist gemäß § 73 Abs. 1 AVG wegen eingetretener Fristhemmung gemäß § 37 Abs. 4 NAG zum Zeitpunkt der Erhebung der Säumnisbeschwerde noch nicht abgelaufen sei.

14 Dazu ist auszuführen, dass gemäß § 37 Abs. 4 zweiter Satz NAG die Verständigung den Ablauf der Frist gemäß § 8 VwGVG bis zum Einlangen einer Mitteilung der Landespolizeibehörde gemäß § 110 FPG bei der Behörde hemmt. Erfolgt die Mitteilung der Landespolizeidirektion nicht binnen drei Monaten hat die Behörde gemäß § 37 Abs. 4 dritter Satz NAG vom Vorliegen einer Ehe auszugehen.

15 Gemäß dem eindeutigen Wortlaut sieht § 37 Abs. 4 NAG eine Ablaufhemmung der Frist gemäß § 8 VwGVG vor (vgl. VwGH 8.10.2019, Ra 2018/22/0300), weshalb die Behörde nur dann nicht säumig wird, wenn sie im Fall des Wegfalls der Hemmung gemäß § 73 AVG unverzüglich weitere Schritte setzt.

16 Das Verwaltungsgericht stellte nicht fest, dass die Landespolizeidirektion der Behörde gemäß § 37 Abs. 4 dritter Satz NAG bekannt gegeben hätte, dass die Erhebungen noch nicht abgeschlossen seien. Es ist daher davon auszugehen, dass die Ablaufhemmung der Frist mit Ablauf des 4. Oktober 2018 geendet hatte und die Behörde nach Ablauf der Frist unverzüglich zu entscheiden gehabt hätte. Das Verwaltungsgericht legte nicht dar, inwiefern der Behörde eine Entscheidung innerhalb der sechsmonatigen Entscheidungsfrist bzw. bis zum Einlangen der Säumnisbeschwerde nicht möglich gewesen wäre, um ihrer Pflicht zur Entscheidung „ohne unnötigen Aufschub“ gemäß § 73 AVG nachzukommen. Für diese Beurteilung ist unerheblich, dass die Landespolizeidirektion erst am 18. Jänner 2019 einen Bericht übermittelt hat.

17 Auf die von der Revisionswerberin aufgeworfene unionsrechtliche Fragestellung, wonach gemäß Art. 10 FreizügigkeitsRL die Behörde dem Antragsteller spätestens sechs Monate nach Einreichung eine Aufenthaltskarte auszustellen habe und Ermittlungen wegen des Vorliegens einer Aufenthaltsehe die Entscheidungsfrist gemäß § 37 Abs. 4 NAG nicht hemmen würden, war daher im vorliegenden Fall nicht weiter einzugehen.

18 Der angefochtene Beschluss war bereits aus den angeführten Gründen wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

19 Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 8. Juli 2020

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