VwGH Ra 2022/11/0042

VwGHRa 2022/11/004214.3.2024

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick, die Hofrätinnen Dr. Pollak, Mag. Hainz‑Sator und MMag. Ginthör sowie den Hofrat Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Janitsch, über die Revision des Dr. J M K in W, vertreten durch MMag. Dr. Christa Schneebauer, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Schellinggasse 3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. Oktober 2020, Zl. W261 2227299‑1/20E, betreffend Ausstellung eines Behindertenpasses mit Zusatzeintragung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Sozialministeriumservice), zu Recht erkannt:

Normen

BBG 1990 §1 Abs2
BBG 1990 §40 Abs1
BEinstG §14 Abs2
BEinstG §14 Abs3
BEinstG §3
EinschätzungsV 2010 §2 Abs1
EinschätzungsV 2010 §2 Abs2
EinschätzungsV 2010 §4

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2024:RA2022110042.L00

 

Spruch:

Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten, beantragte am 14. November 2019 unter Vorlage medizinischer Befunde die Ausstellung eines Behindertenpasses und eines Parkausweises bei der belangten Behörde.

Gestützt auf ein von ihr eingeholtes orthopädisches Sachverständigengutachten vom 12. Dezember 2019 samt nachträglicher gutachterlicher Stellungnahme vom 30. Dezember 2019 und nach Einräumung des Parteiengehörs wies die belangte Behörde den Antrag des Revisionswerbers mit Bescheid vom 30. Dezember 2019 angesichts eines Gesamtgrads der Behinderung (GdB) von 30 % ab. Sie verwies auf das dem Bescheid beigelegte Gutachten, in dem der Sachverständige die Funktionseinschränkung „Plexusparese rechts“ festgestellt hatte, und auf die (ebenfalls beigelegte) ergänzende Stellungnahme, in der der Sachverständige ausgeführt hatte, dass die Handfunktion ungestört und die Beweglichkeit von Schulter und Ellenbogen gering eingeschränkt sei; dies entspreche nicht dem Verständnis der Anlage zur Einschätzungsverordnung, die unter einer Plexuslähmung mit einem GdB von 70 bis 80 % einen kompletten Verlust der Funktion einer oberen Extremität verstehe.

2 In seiner gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde brachte der Revisionswerber zusammengefasst vor, die Einschätzung seiner Funktionseinschränkungen sei zu Unrecht nicht entsprechend Punkt 04.05.01 der Anlage zur Einschätzungsverordnung erfolgt.

3 Mit dem angefochtenen, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergangenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht die Beschwerde ab und erklärte gemäß § 25a VwGG eine ordentliche Revision für nicht zulässig.

4 Das Verwaltungsgericht stellte ‑ nach Einholung eines auf einer persönlichen Untersuchung des Revisionswerbers basierenden Gutachtens einer Ärztin für Unfallchirurgie und Allgemeinmedizin vom 20. Juni 2020 und nach ausführlicher Erörterung dieses Gutachtens mit der Sachverständigen und dem Revisionswerber in der mündlichen Verhandlung ‑ im Wesentlichen fest, der Revisionswerber, ein HNO‑Arzt, der auch kleinere Operationen durchführe, leide geburtsbedingt an einer oberen Plexusparese rechts, die sich darstelle wie folgt:

„Schultergürtel und beide oberen Extremitäten:

Rechtshänder. Der Schultergürtel steht horizontal, Muskelverhältnisse: Bandmaß Oberarm rechts 31,5 cm, links 33 cm, Unterarm rechts27,5 cm, links 29 cm. Die Durchblutung ist ungestört, die Sensibilität wird am rechten Oberarm lateral als gestört angegeben. Die Benützungszeichen sind seitengleich vorhanden.

Schulter rechts: geringgradig verkürzt, geringgradig im Seitenvergleich geschwächte Bemuskelung des Deltoideus, Schulterkopf zentriert, keine Krepitation, keine Impingement-Symptomatik.

Ellbogengelenke rechts, Handgelenk rechts und Finger: unauffällig. Sämtliche weiteren Gelenke sind bandfest und klinisch unauffällig.

Aktive Beweglichkeit:

Schultern F rechts 0/90, links 0/160

S rechts 0/100, links 0/180

IR/AR rechts 80/0/1 5, links 80/0/40,

Ellbogen rechts 0/20/140, links 0/0/140

Unterarmdrehung rechts 70/0/90, links 90/0/90

Die Beweglichkeit der rechten Schulter ist in der Frontalebene bis 90 Grad möglich, in der Sagittalebene, dh in der Bewegung nach vorne, aktiv bis 100 Grad. Die Innenrotation ist nicht eingeschränkt, die Außenrotation ist geringgradig eingeschränkt, und zwar rechts 15 Grad links 40 Grad, dh die Bewegung nach innen ist dem Beschwerdeführer seitengleich möglich und die Außenrotation ist eingeschränkt. Der rechte Ellenbogen kann nicht ganz gestreckt werden und weist ein Streckdefizit von 20 Grad auf. Die Unterarmdrehung rechts ist in der Supination geringgradig eingeschränkt.

Handgelenke, Daumen und Langfinger seitengleich frei beweglich. Grob- und Spitzgriff sind uneingeschränkt durchführbar. Der Faustschluss ist komplett, Fingerspreizen beidseits unauffällig, die grobe Kraft in etwa seitengleich, Tonus und Trophik unauffällig. Nacken- und Schürzengriff sind rechts endlagig eingeschränkt, links uneingeschränkt durchführbar.“

Das Leiden sei in Form einer Schwäche (Parese) und nicht als Lähmung (Plegie) ausgebildet und bewirke einen GdB von 30 %.

5 Rechtlich führte das Verwaltungsgericht zusammengefasst aus, dem Vorbringen des Revisionswerbers, dass für sein Leiden die Position 04.05.01 der Anlage zur Einschätzungsverordnung einschlägig sei, welche einen GdB von 70 bis 80 % ausweise, sei entgegenzuhalten, dass die Funktionseinschränkungen nicht in einem Ausmaß vorlägen, das im Vergleich zu anderen Behinderungen im Sinne der Anlage zur Einschätzungsverordnung einen GdB von 70 % rechtfertige. So werde dort etwa der Verlust eines Armes im Unterarmbereich nach Punkt 02.06.22 (gemeint: 02.06.44) mit einem GdB von 50 % oder der Verlust eines Armes im Oberarmbereich oder im Ellenbogengelenk nach Punkt 02.06.43 mit einem GdB von 70 % eingestuft. Der Revisionswerber sei nach wie vor in der Lage, den rechten Arm zu nutzen, er habe angegeben, Rechtshänder zu sein.

Da in Position 04.05.01 von einer Lähmung (Plegie) des Plexus brachialis und nicht von einer Parese dieses Nervengeflechtes gesprochen werde, sei davon auszugehen, dass für die Behinderung, welche eine Parese (Schwäche) des Plexus brachialis sei, keine eigene Position in der Anlage zur Einschätzungsverordnung vorliege. In solchen Fällen sei der Grad der Behinderung nach § 2 Abs. 2 der Einschätzungsverordnung in Analogie zu vergleichbaren Funktionsbeeinträchtigungen festzulegen. Demgemäß habe die medizinische Sachverständige die obere Plexusparese rechts richtig als gleichzuhaltend dem Zustand einer Lähmung des Nervus axillaris (eines dem Plexus brachialis entspringenden Oberarmnervs) nach Position 04.05.02 der Anlage zur Einschätzungsverordnung im oberen Rahmensatz dieser Position mit einem GdB von 30 % eingestuft.

6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, unter Anschluss der Verfahrensakten vorgelegte außerordentliche Revision, zu der die belangte Behörde eine Revisionsbeantwortung erstattet hat.

7 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision erwogen:

8 Das Bundesbehindertengesetz ‑ BBG, BGBl. Nr. 283/1990, in der vorliegend maßgeblichen Fassung BGBl. I Nr. 100/2018, lautet auszugsweise:

„§ 1. (1) ...

(2) Unter Behinderung im Sinne dieses Bundesgesetzes ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen zu verstehen, die geeignet ist, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu erschweren. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten.

...

BEHINDERTENPASS

§ 40. (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpaß auszustellen, wenn

...

5. sie dem Personenkreis der begünstigten Behinderten im Sinne des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, angehören.

...“

9 Das Behinderteneinstellungsgesetz (BEinstG), BGBl. Nr. 22/1970 idF BGBl. I Nr. 14/2019, lautet auszugsweise:

„Behinderung

§ 3. Behinderung im Sinne dieses Bundesgesetzes ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen, die geeignet ist, die Teilhabe am Arbeitsleben zu erschweren. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten.

...

Feststellung der Begünstigung

§ 14. (1) Als Nachweis für die Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten gilt die letzte rechtskräftige Entscheidung über die Einschätzung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit mit mindestens 50 vH ...

(2) Liegt ein Nachweis im Sinne des Abs. 1 nicht vor, hat auf Antrag des Menschen mit Behinderung das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen den Grad der Behinderung nach den Bestimmungen der Einschätzungsverordnung (BGBl. II Nr. 261/2010) einzuschätzen und bei Zutreffen der im § 2 Abs. 1 angeführten sonstigen Voraussetzungen die Zugehörigkeit zum Kreis der nach diesem Bundesgesetz begünstigten Behinderten (§ 2) sowie den Grad der Behinderung festzustellen. ...

(3) Der Bundesminister für Arbeit, Gesundheit und Soziales ist ermächtigt, nach Anhörung des Bundesbehindertenbeirates gemäß § 8 BBG durch Verordnung nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung festzulegen. Diese Bestimmungen haben die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen auf das allgemeine Erwerbsleben zu berücksichtigen und auf den Stand der medizinischen Wissenschaft Bedacht zu nehmen.

...“

10 Die Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz betreffend nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung (Einschätzungsverordnung), BGBl. II Nr. 261/2010 idF BGBl. II Nr. 251/2012, lautet auszugsweise:

„Gemäß § 14 Abs. 3 des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl. I Nr. 81/2010, wird verordnet:

Behinderung

§ 1. Unter Behinderung im Sinne dieser Verordnung ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen zu verstehen, die geeignet ist, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, insbesondere am allgemeinen Erwerbsleben, zu erschweren. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten.

Grad der Behinderung

§ 2. (1) Die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen sind als Grad der Behinderung zu beurteilen. Der Grad der Behinderung wird nach Art und Schwere der Funktionsbeeinträchtigung in festen Sätzen oder Rahmensätzen in der Anlage dieser Verordnung festgelegt. Die Anlage bildet einen Bestandteil dieser Verordnung.

(2) Bei Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen, die nicht in der Anlage angeführt sind, ist der Grad der Behinderung in Analogie zu vergleichbaren Funktionsbeeinträchtigungen festzulegen.

...

Grundlage der Einschätzung

§ 4. (1) Die Grundlage für die Einschätzung des Grades der Behinderung bildet die Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen im körperlichen, geistigen, psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung in Form eines ärztlichen Sachverständigengutachtens. Erforderlichenfalls sind Experten aus anderen Fachbereichen ‑ beispielsweise Psychologen ‑ zur ganzheitlichen Beurteilung heran zu ziehen.

(2) Das Gutachten hat neben den persönlichen Daten die Anamnese, den Untersuchungsbefund, die Diagnosen, die Einschätzung des Grades der Behinderung, eine Begründung für die Einschätzung des Grades der Behinderung innerhalb eines Rahmensatzes sowie die Erstellung des Gesamtgrades der Behinderung und dessen Begründung zu enthalten.“

11 Die Anlage zur Einschätzungsverordnung lautet auszugsweise:

„...

02.02 Generalisierte Erkrankungen des Bewegungsapparates

Es ist die resultierende Gesamtfunktionseinschränkung bei entzündlich rheumatischen Systemerkrankungen, degenerative rheumatischen Erkrankungen und systemischen Erkrankungen der Muskulatur einzuschätzen.

Falls sie mit Lähmungserscheinungen einhergehen, sind sie entsprechend den funktionellen Defiziten nach Abschnitt 04. ‚Neuromuskuläre Erkrankungen‘ im Kapitel ‚Nervensystem‘ zu beurteilen.

...

02.06 Obere Extremitäten

Bei Verlust oder Teilverlust des primären Gebrauchsarms ist nach Abschluss der Rehabilitation und einer Adapatierungsphase eine unzureichende Anpassung zu berücksichtigen, der GdB um 10% anzuheben und zu begründen.

Schultergelenk, Schultergürtel

Instabilität (habituelle Luxation) ist entsprechend dem Ausmaß der Funktionseinschränkungen und der Häufigkeit einzuschätzen.

02.06.01 Funktionseinschränkung geringen Grades einseitig

10 %

Abduktion und Elevation zwischen 90° und 120° eingeschränkt und Einschränkung der Außenrotation

 

02.06.02 Funktionseinschränkung geringen Grades beidseitig

20 %

Abduktion und Elevation bis maximal 120°mit entsprechender Einschränkung der Außen- und Innenrotation

 

02.06.03 Funktionseinschränkung mittleren Grades einseitig

20 %

Abduktion und Elevation bis maximal 90°mit entsprechender Einschränkung der Außen- und Innenrotation

 

02.06.04 Funktionseinschränkung mittleren Grades beidseitig

30 %

Abduktion und Elevation bis maximal 90°mit entsprechender Einschränkung der Außen- und Innenrotation

 

02.06.05 Funktionseinschränkung schweren Grades einseitig

40 %

02.06.06 Funktionseinschränkung schweren Grades beidseitig

50 %

  

...

Ellenbogengelenk

02.06.11 Funktionseinschränkung im Ellenbogengelenkgeringen Grades einseitig

20 %

Streckung/Beugung zwischen 30° und 120° bei freier Unterarmdrehbeweglichkeit

 

02.06.12 Funktionseinschränkung im Ellenbogengelenkgeringen Grades beidseitig

30 %

Streckung/Beugung zwischen 30° und 120° bei freier Unterarmdrehbeweglichkeit

 

02.06.13 Funktionseinschränkung im Ellenbogengelenkmittleren Grades einseitig

30 %

Mittelgradige Einschränkung insbesondere der Beugung, einschließlich Einschränkung der Unterarmdrehbeweglichkeit

Schlottergelenk

Versteifung in günstiger Stellung zwischen 80° und 150°

 

  

...

Verlust oder Teilverlust einseitig

02.06.42 Verlust eines Armes im Schultergelenk oder mit sehr kurzem Oberarmstumpf

80 %

02.06.43 Verlust eines Armes im Oberarmbereichoder im Ellenbogengelenk

70 %

02.06.44 Verlust eines Armes im Unterarmbereich

50 %

  

...

04 Nervensystem

...

04.05 Lähmungen der peripheren Nerven

Es wurde auf die Version Gegenarm und Gebrauchsarm verzichtet, da die Erfahrungen zeigen, dass es relativ rasch zu einer Adaptierung kommt.

Bei den angeführten Einschätzungswerten drückt der untere Wert jeweils die Schwäche aus und der obere Wert die vollständige Lähmung aus.

04.05.01 Plexus brachialis

70 ‑ 80 %

Untere bzw. obere Plexuslähmung

 

04.05.02 Nervus axillaris

20 ‑ 30 %

Leitfunktion ist die Elevation, Arm zum Mund führen, essen

 

04.05.03 Nervus musculocutaneus

20 ‑ 40 %

Leitfunktion ist Ellenbogenbeugung, Supination

 

04.05.04 Nervus radialis

10 ‑ 40 %

Leitfunktion Handgelenks-Fingerstreckung

 

04.05.05 Nervus ulnaris

10 ‑ 40 %

Leitfunktion ist die Opposition des Kleinfingers

 

04.05.06 Nervus medianus

10 ‑ 40 %

Leitfunktion sind Fingerbeugung I bis III, Abduktion und Opposition des

 

Daumens, Spitzengriff, Schreiben

 

04.05.07 Lähmung zweier Armnerven

70 %

04.05.08 Lähmung aller 3 Armnerven

80 %

  

...“

12 Zur Zulässigkeit der Revision wird vorgebracht, es fehle hg. Rechtsprechung zur Frage, ob der Begriff „Lähmung“ in Punkt 04.05.01 der Anlage zur Einschätzungsverordnung einschränkend als „vollständige Lähmung im Sinne von Plegie“ auszulegen sei oder nicht.

13 Die Revision ist aus diesem Grund zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet.

14 Die Ausstellung eines Behindertenpasses setzt nach § 40 Abs. 1 BBG unter anderem einen GdB von mindestens 50 % und nach Z 5 leg. cit. die Zugehörigkeit zum Personenkreis der begünstigten Behinderten iSd. BEinstG voraus. Behinderung im Sinne des BBG (§ 1 Abs. 2), des BEinstG (§ 3) und der Einschätzungsverordnung (§ 1) ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung. Gemäß § 14 Abs. 3 BEinstG haben die Verordnungsbestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Nach § 2 Abs. 1 der gemäß § 14 Abs. 3 BEinstG erlassenen Einschätzungsverordnung sind die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen als Grad der Behinderung zu beurteilen. Alle im Revisionsfall einschlägigen Bestimmungen stellen somit auf die Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung ab.

15 Beim Revisionswerber sind die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigung des rechten oberen Plexus brachialis die festgestellten und laut den eingeholten Gutachten „geringgradigen“ Bewegungs- und Krafteinschränkungen der Schulter und des Ellenbogens ohne Beeinträchtigung der Handfunktionen. Da der Revisionswerber aber seinen rechten Arm, wenn auch eingeschränkt, gebrauchen kann, ist es nicht als unschlüssig zu erkennen, wenn das Verwaltungsgericht die festgestellten Defizite vor dem Hintergrund der Gutachten als nicht mit dem Verlust eines Arms gleichzusetzen ansah, welcher in der Anlage zur Einschätzungsverordnung nach Punkt 02.06.44 mit einem GdB von 50 % bzw. nach Punkt02.06.43 ‑ ebenso wie eine Lähmung des Plexus brachialis ‑ mit einem GdB von 70 % eingestuft wird.

16 Der Revisionswerber bringt dazu vor, ein derartiger Vergleich sei unzulässig, weil Nervenerkrankungen anders zu beurteilen seien als die in der Anlage zur Einschätzungsverordnung unter 02 angeführten Erkrankungen des Bewegungsapparats, weshalb das Gutachten eines Neurologen erforderlich gewesen wäre. Abgesehen davon, dass der Revisionswerber selbst noch in seiner an die belangte Behörde gerichteten Stellungnahme vom 24. Dezember 2019 zur Qualifikation seiner Funktionsdefizite auf die Punkte 02.06.05 und 02.06.13 der Anlage zur Einschätzungsverordnung zurückgegriffen hat, ist diesem Vorbringen entgegenzuhalten, dass nicht die Ursache (hier: neurologisch oder orthopädisch), sondern die Auswirkung der Funktionsbeeinträchtigung Gegenstand der Einschätzung des GdB ist (vgl. etwa VwGH 25.5.2004, 2003/11/0304).

17 Soweit der Revisionswerber unter Bezugnahme auf den Wortlaut von Punkt 04.05 der Anlage zur Einschätzungsverordnung vorbringt, sein in den Gutachten als „Plexusparese“ bezeichnetes Leiden sei zu Unrecht nicht unter Punkt 04.05.01 subsumiert und mit einem GdB von 70 % eingeschätzt worden, weil entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts der in Punkt 04.05.01 gebrauchte Begriff der Lähmung sowohl die Plegie (vollständige Lähmung) als auch die Parese (Schwäche) umfasse, ist über die bisherigen Erwägungen hinaus Folgendes auszuführen: Zwar geht aus dem zweiten Einleitungssatz des Punktes 04.05 der Anlage zur Einschätzungsverordnung hervor, dass bei den darunter angeführten Einschätzungswerten der untere Wert jeweils die Schwäche und der obere Wert die vollständige Lähmung ausdrücken soll. Da aber, wie zuvor ausgeführt, lediglich die Auswirkungen der jeweiligen Funktionsbeeinträchtigungen einzuschätzen sind, kann bei einer systematischen Betrachtung der in der Anlage zur Einschätzungsverordnung angeführten Leiden und ihrer Wertungen nur davon ausgegangen werden, dass der Verordnungsgeber bei der Einstufung in Punkt 04.05.01 „Plexus brachialis, Untere bzw. obere Plexuslähmung“ mit einem GdB von 70‑80 % einen Zustand vor Augen hatte, bei dem typischerweise ein Gebrauch des betroffenen Arms weitestgehend ausgeschlossen ist. Das vom Revisionswerber intendierte Auslegungsergebnis trägt den Vorgaben des § 1 Abs. 2 BBG und der §§ 3 und 14 Abs. 3 BEinstG nicht Rechnung.

18 Im Revisionsfall ist unstrittig eine Funktionsbeeinträchtigung des oberen Plexus brachialis die Ursache des Leidens des Revisionswerbers. Die ‑ vorliegend allein zu beurteilenden (vgl. abermals VwGH 25.5.2004, 2003/11/0304) ‑ Auswirkungen bestehen allerdings nicht in einer weitestgehenden Unbrauchbarkeit des rechten Arms. Vielmehr ist der Revisionswerber, wie aus seinem im Verfahren erstatteten Vorbringen hervorgeht, trotz seiner Einschränkung in der Lage, die im Rahmen seiner Tätigkeit als HNO‑Arzt anfallenden kleineren Operationen auszuführen.

19 Dem Verwaltungsgericht ist daher ‑ ungeachtet der verwendeten Terminologie (Plegie bzw. Parese) ‑ nicht entgegenzutreten, wenn es davon ausging, dass im Fall des Revisionswerbers die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigung nicht durch Punkt 04.05.01 der Anlage zur Einschätzungsverordnung abgebildet würden und dass deshalb, mangels Anwendbarkeit eines in der Anlage angeführten (Rahmen‑)Satzes, iSd. § 2 Abs. 2 der Verordnung auf eine in der Anlage aufgelistete Funktionsbeeinträchtigung zurückzugreifen sei, die gleichartige Auswirkungen aufweiste wie sie die Beeinträchtigung des Revisionswerbers zur Folge hat.

20 In der Revision wird weiters vorgebracht, es sei nicht nachvollziehbar dargestellt worden, warum auf Grundlage des § 2 Abs. 2 der Einschätzungsverordnung für das Leiden des Revisionswerbers Punkt 04.05.02 der Anlage („Nervus axillaris, Leitfunktion ist die Elevation, Arm zum Mund führen, essen“) mit einem GdB von 20‑30 % als vergleichbare Funktionsbeeinträchtigung herangezogen und dabei ein Zustand nach vollständiger Lähmung des Nervus axillaris angenommen worden sei. Dazu führte die Sachverständige bereits in ihrem Gutachten vom 20. Juni 2020 und neuerlich in der mündlichen Verhandlung aus, dass die Auswirkungen des Leidens des Revisionswerbers, nämlich die geringgradige Einschränkung der Beweglichkeit von Schulter und Ellbogen und die geringgradige Kraftminderung, jenen der von Punkt 04.05.02 erfassten Funktionsbeeinträchtigung gleichzuhalten seien. Davon ging auch das Verwaltungsgericht aus, wenn es in seiner Beweiswürdigung festhielt, die getroffene Einschätzung entspreche vor dem Hintergrund der erhobenen Befunde den festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen. Angesichts der in Punkt 04.05.02 beschriebenen Funktion des Nervus axillaris (Elevation, Arm zum Mund führen, essen) ist eine Unschlüssigkeit der Einschätzung der beim Revisionswerber festgestellten Funktionsdefizite auch nicht zu erkennen. Überdies hat der Revisionswerber, der in seiner Revision betont, als Arzt der vom Verwaltungsgericht beigezogenen Sachverständigen auf gleicher fachlicher Ebene entgegentreten zu können, nicht dargelegt, inwiefern sein Zustand anders gelagert sein sollte als jener, der typischerweise nach einer vollständigen Lähmung des Nervus axillaris vorliegt.

21 Soweit die Revision weitere Verfahrensmängel, wie etwa eine mangelnde Auseinandersetzung mit den vom Revisionswerber im Verfahren vorgelegten Unterlagen oder die Einräumung einer zu kurzen Stellungnahmefrist, behauptet, wird deren Relevanz für den Verfahrensausgang nicht dargetan. Entgegen der Revisionsbehauptung hat sich das Verwaltungsgericht auch mit dem im Beschwerdeverfahren erstatteten Vorbringen des Revisionswerbers auseinandergesetzt, welches im Wesentlichen darauf abgezielt hatte, die diagnostizierte Plexusparese unter Punkt 04.05.01 der Anlage zur Einschätzungsverordnung zu subsumieren und mit einem GdB von 70 % zu bewerten. Soweit der Revisionswerber vorbringt, seine zahlreichen im Verfahren gemachten Ausführungen zu seinen Beschränkungen im Alltag, die mit einer „geringgradigen Funktionseinschränkung in Schulter und Ellenbogen“ nicht vereinbar seien (weil er bestimmte Tätigkeiten nicht ausführen könne, die die Kraft beider Arme voraussetzten), seien unberücksichtigt geblieben, gelingt es ihm nicht, eine Unschlüssigkeit der fachärztlichen Gutachten darzulegen.

22 Wenn daher das Verwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis in der Frage der Einschätzung des Leidens des Revisionswerbers aus den in seiner Beweiswürdigung dargestellten Gründen den Sachverständigengutachten gefolgt ist, kann dies im Lichte des Revisionsvorbringens im Ergebnis nicht als unschlüssig beanstandet werden.

23 Da somit die vom Verwaltungsgericht getroffene Einschätzung der Leidenszustände des Revisionswerbers nicht als rechtswidrig zu erkennen ist, war die Revision gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

24 Die Durchführung der beantragten Verhandlung von dem Verwaltungsgerichtshof konnte angesichts der vor dem Verwaltungsgericht durchgeführten mündlichen Verhandlung gemäß § 39 Abs. 2 Z 6 VwGG unterbleiben (vgl. etwa VwGH 14.3.2023, Ra 2022/22/0037, mwN).

Wien, am 14. März 2024

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