Normen
AlVG 1977 §6
MRK Art6
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §24
VwGVG 2014 §24 Abs1
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020080124.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
1 Mit Bescheid vom 9. August 2019 wies die regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Klagenfurt (im Folgenden: AMS) den Antrag des Revisionswerbers auf Zuerkennung von Notstandshilfe vom 31. Juli 2019 ab.
2 Begründend führte das AMS aus, der Revisionswerber sei aufgrund seiner Eingaben aus April 2019, wonach er für Projektanträge und Betreuung von Studierenden mehr als 40 Stunden in der Woche ‑ bei zeitweise bis zu 16 Stunden am Tag ‑ aufwende, für eine auf dem Arbeitsmarkt angebotene Beschäftigung nicht verfügbar im Sinne des § 7 Abs. 2 AlVG.
3 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde des Revisionswerbers vom 3. September 2019 legte das AMS mit Schreiben vom 16. September 2019 ‑ ohne Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung ‑ dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor.
4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht ‑ ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ die Beschwerde als unbegründet ab und sprach aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
5 Das Bundesverwaltungsgericht stellte im Wesentlichen fest, der Revisionswerber habe seit Beginn seiner Arbeitslosigkeit mit 1. Jänner 2019 mehr als 40 Wochenstunden, manchmal sogar bis zu 16 Stunden am Tag, für seine Projektanträge verwendet und mehrmals Universitäten besucht, um im wissenschaftlichen Bereich, so etwa an der Technischen Universität Graz, eine Anstellung zu erlangen. Darüber hinaus sei er intensiv und federführend damit beschäftigt gewesen, mehrere wissenschaftliche Abhandlungen zu verfassen und zu veröffentlichen. Weiters habe er sich vom AMS erbeten, „in Ruhe gelassen zu werden“, um an den Projektanträgen, die ihm eine Anstellung als Wissenschaftler an einer Universität ermöglichen sollten, zu arbeiten.
6 In rechtlicher Hinsicht folgerte das Bundesverwaltungsgericht, der Revisionswerber sei aufgrund seiner bis dahin gemachten Angaben ‑ in Verbindung mit seiner Ablehnung, sich um die ihm vom AMS zugewiesenen Stellen zu bewerben ‑ weder bereit, noch in der Lage, jederzeit eine sich bietende Arbeitsmöglichkeit tatsächlich aufzunehmen, womit die Verfügbarkeit gemäß § 7 Abs. 2 AlVG nicht gegeben sei.
7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem das AMS eine Revisionsbeantwortung erstattet hat, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
8 Zur Zulässigkeit und Begründung der außerordentlichen Revision wird ‑ auf das Wesentliche zusammengefasst ‑ u.a. geltend gemacht, das Bundesverwaltungsgericht habe sich nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob im konkreten Fall tatsächlich eine Bindung rechtlicher oder faktischer Art bestand, die eine Verfügbarkeit des Revisionswerbers ausgeschlossen hätte. Aufgrund der Nichtdurchführung einer mündlichen Verhandlung, obwohl die Voraussetzungen gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG nicht gegeben gewesen seien, habe der Revisionswerber keine Gelegenheit gehabt, sich zu den näheren Umständen seiner Tätigkeit im Zusammenhang mit der Erstellung von Projektanträgen zu äußern, womit sein Parteiengehör verletzt worden sei. Der Revisionswerber habe dadurch insbesondere keine Möglichkeit gehabt darzulegen, dass die Erstellung der Projektanträge ‑ wie in der Beschwerde ausgeführt ‑ auf freiwilliger Basis erfolgte und eine Einstellung dieser Tätigkeit jederzeit möglich gewesen sei.
9 Die Revision ist aus den dargelegten Gründen zulässig. Sie ist auch begründet.
10 Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.
11 Bei Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung handelt es sich um „civil rights“ im Sinn des Art. 6 EMRK (vgl. VwGH 8.7.2020, Ra 2020/08/0084, mwN). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gehört es im Fall widersprechender prozessrelevanter Behauptungen zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichts, dem auch in § 24 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzip Rechnung zu tragen und sich als Gericht im Rahmen einer ‑ bei der Geltendmachung von „civil rights“ in der Regel auch von Amts wegen durchzuführenden (vgl. VwGH 25.2.2019, Ra 2018/08/0251) ‑ mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen bzw. Parteien zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen (vgl. etwa VwGH 9.12.2020, Ra 2020/08/0092, mwN).
12 Im vorliegenden Fall hatte der Revisionswerber in der Beschwerde vorgebracht, dass das Verfassen von Anträgen für Forschungsprojekte dem Schreiben von Bewerbungen gleichzuhalten sei; es handle sich dabei um eine von mehreren Bemühungen seinerseits um eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Nach Vermittlung einer „adäquaten Stelle“ bestehe kein Grund mehr, diese Tätigkeiten fortzuführen. Mit diesem Vorbringen widersprach der Revisionswerber der Feststellung des AMS, dass er für eine auf dem Arbeitsmarkt angebotene Beschäftigung nicht verfügbar sei. Es lagen daher widersprechende prozessrelevante Behauptungen vor, zu deren weiterer Klärung das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung hätte durchführen müssen. Dabei wäre dem Revisionswerber auch Gelegenheit zu geben gewesen, zu dem im Bescheid des AMS noch nicht konkret erhobenen Vorwurf Stellung zu nehmen, dass er nur zu einer Beschäftigung in der Forschung, nicht aber auch zu sonstigen zumutbaren Beschäftigungen bereit gewesen sei.
13 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
14 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014. Im Rahmen des gestellten Antrages (§ 59 Abs. 1 VwGG) war dem Revisionswerber daher der in § 1 Z 1 lit. a erster Fall VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014 für den Ersatz des Schriftsatzaufwands festgelegte Pauschalbetrag zuzusprechen. Der durch die Verordnung pauschaliert festgesetzte Schriftsatzaufwand deckt die anfallende Umsatzsteuer ab, weshalb das auf deren Ersatz gerichtete Begehren abzuweisen war (vgl. VwGH 9.12.2020, Ra 2020/08/0092, mwN).
Wien, am 2. November 2021
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