VwGH Ra 2019/22/0140

VwGHRa 2019/22/01404.4.2023

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, in der Revisionssache des I I, vertreten durch Mag. Robert Bitsche, Rechtsanwalt in 1050 Wien, Nikolsdorfergasse 7‑11/15, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 16. April 2019, VGW‑151/064/14173/2018‑21, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), den Beschluss gefasst:

Normen

AVG §68 Abs1
AVG §69 Abs1 Z1
AVG §69 Abs3
B-VG Art133 Abs4
NAG 2005 §27 Abs1
NAG 2005 §30 Abs1
NAG 2005 §47 Abs2
VwGG §34 Abs1
VwGVG 2014 §17
VwRallg

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2023:RA2019220140.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1.1. Der Revisionswerber, ein kosovarischer Staatsangehöriger, stellte am 20. Jänner 2010 ‑ unter Berufung auf seine am 18. Dezember 2009 mit der österreichischen Staatsbürgerin R S geschlossene Ehe ‑ im Wege der Österreichischen Botschaft Skopje beim Landeshauptmann von Wien (im Folgenden: Behörde) einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG). Der beantragte Aufenthaltstitel wurde ihm am 15. Dezember 2011 ausgefolgt. Aufgrund seiner Anträge vom 4. Oktober 2012 und vom 7. Oktober 2013 wurde der Aufenthaltstitel jeweils verlängert. Nach einvernehmlicher Ehescheidung am 19. Mai 2016 stellte der Revisionswerber am 26. Juli 2016 einen Zweckänderungsantrag auf Erteilung einer „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“ gemäß § 27 Abs. 1 NAG. Der beantragte Aufenthaltstitel wurde ihm am 18. August 2016 ausgefolgt. Am 11. September 2018 begehrte er die Verlängerung des Aufenthaltstitels.

1.2. Mit Bescheid vom 19. September 2019 sprach die Behörde von Amts wegen die Wiederaufnahme der rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 in Verbindung mit Abs. 3 AVG wegen des nachträglichen Hervorkommens einer Aufenthaltsehe aus und wies unter einem den Erstantrag vom 20. Jänner 2010 gemäß § 11 Abs. 1 Z 4 NAG, die Verlängerungsanträge vom 4. Oktober 2012, 7. Oktober 2013 und 11. September 2018 sowie den Zweckänderungsantrag vom 26. Juli 2016 mangels Vorliegen eines gültigen Aufenthaltstitels gemäß § 24 NAG ab.

2.1. Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 16. April 2019 wies das Verwaltungsgericht Wien (im Folgenden: Verwaltungsgericht) die Beschwerde des Revisionswerbers gegen den Bescheid vom 19. September 2019 ‑ nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ als unbegründet ab; dies mit der Maßgabe, dass Rechtsgrundlage für die Abweisung des Erstantrags § 11 Abs. 2 Z 1 NAG sei.

2.2. Das Verwaltungsgericht stellte ‑ über den oben (Punkt 1.) wiedergegebenen Sachverhalt hinaus ‑ unter anderem fest, der Revisionswerber sei zunächst von 1991 bis 2005 mit der kosovarischen Staatsangehörigen S I verheiratet gewesen, wobei der Ehe drei ‑ 1996, 2000 und 2003 geborene ‑ Kinder entstammten, die der Revisionswerber in seinen hier gegenständlichen Verfahren jeweils verschwiegen habe.

Die Eheschließung mit der österreichischen Staatsbürgerin R S am 18. Dezember 2009 sei (ausschließlich) zu dem Zweck erfolgt, dem Revisionswerber einen rechtmäßigen Aufenthalt in Österreich zu ermöglichen. Tatsächlich habe er mit R S zu keinem Zeitpunkt ein gemeinsames Familienleben im Sinn einer Wohn-, Wirtschafts- und Geschlechtsgemeinschaft geführt.

In den Jahren 2014 und 2016 hätten zwei der Kinder des Revisionswerbers (aus der früheren Ehe mit S I) und nach der Ehescheidung von R S und der neuerlichen Eheschließung mit S I im Jahr 2017 auch das dritte Kind sowie S I jeweils vom Revisionswerber abgeleitete Aufenthaltstitel beantragt.

2.3. Rechtlich folgerte das Verwaltungsgericht ‑ soweit hier von Bedeutung ‑, der Revisionswerber habe ein gemeinsames Familienleben im Sinn einer Wohn-, Wirtschafts- und Geschlechtsgemeinschaft nie beabsichtigt, sondern die Ehe mit R S (nur) zu dem Zweck geschlossen, sich einen rechtmäßigen Aufenthalt in Österreich zu verschaffen. Da er die Ehe lediglich zum Schein eingegangen sei, habe er (insofern) objektiv unrichtige Angaben gemacht, die die Behörde im Ergebnis dazu veranlasst hätten, ihm die Aufenthaltstitel zu erteilen. Er habe daher, indem er sich in seinen Anträgen auf die (tatsächlich nicht bestehende) Ehe berufen habe, das Erteilungshindernis des § 11 Abs. 1 Z 4 NAG in Verbindung mit § 30 Abs. 1 NAG verwirklicht. Die gegenständlichen Verfahren seien folglich wegen „Erschleichen“ der Aufenthaltstitel zu Recht wiederaufgenommen worden.

In den wiederaufgenommenen Verfahren seien die Anträge abzuweisen gewesen. Bei Vorliegen einer Aufenthaltsehe sei (offenkundig gemeint ‑ auch nach deren Auflösung) darauf zu schließen, dass der Aufenthalt des Fremden eine erhebliche Beeinträchtigung des großen öffentlichen Interesses an der Aufrechterhaltung der Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens darstelle. Diese Gefährdung der öffentlichen Ordnung begründe den Versagungsgrund des § 11 Abs. 2 Z 1 in Verbindung mit Abs. 4 Z 1 NAG.

Im Rahmen der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK sei zu berücksichtigen, dass der Revisionswerber seit etwa neuneinhalb Jahren in Österreich lebe, hier familiäre Anknüpfungspunkte (zu zwei Kindern und zwei Brüdern) aufweise (indes verfügten S I und das weitere Kind noch über keine Aufenthaltstitel) und seit 2012 auch in verschiedenen Dienstverhältnissen gestanden sei, wobei sich aber die berufliche Integration auf das Eingehen der Aufenthaltsehe gründe. Seinen persönlichen Interessen stehe freilich eine Beeinträchtigung des gewichtigen öffentlichen Interesses an der Aufrechterhaltung eines geordneten Fremdenwesens gegenüber, wobei eine Bereitschaft des Revisionswerbers zur Einhaltung der fremdenrechtlichen Vorschriften nicht erkannt werden könne. Im Hinblick darauf falle jedoch die Abwägung nach Art. 8 EMRK zu Ungunsten des Revisionswerbers aus und könne daher ein Aufenthaltstitel nicht erteilt werden. Die Verlängerungsanträge und der Zweckänderungsantrag seien schon deshalb abzuweisen gewesen, weil infolge Abweisung des Erstantrags kein verlängerbarer Aufenthaltstitel (mehr) bestehe.

2.4. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

3. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die ‑ Rechtswidrigkeit des Inhalts geltend machende ‑ Revision, in deren Zulässigkeitsbegründung ein Abweichen von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs bzw. das Fehlen einer solchen Rechtsprechung in den nachstehend näher erörterten Punkten behauptet wird. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG wird jedoch nicht aufgezeigt.

4. Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichts die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs nicht einheitlich beantwortet wird.

Gemäß § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

Gemäß § 34 Abs. 1a VwGG ist die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

5.1. Der Revisionswerber macht geltend, das Verwaltungsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme auch des Verfahrens über den Zweckänderungsantrag erfüllt seien. Die betreffende Antragstellung sei erst nach der Ehescheidung erfolgt, sodass sich der Revisionswerber insofern nicht mehr auf die Ehe mit R S berufen habe und folglich kein „Erschleichen“ des Aufenthaltstitels vorliege.

5.2. Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass die durch ein Berufen auf eine Aufenthaltsehe in einem Verfahren über einen Erstantrag herbeigeführte positive Erledigung dieses Antrags Voraussetzung für die Titelerteilung in einem nachfolgenden Verlängerungs- bzw. Zweckänderungsverfahren ist und somit diese Titelerteilung ‑ mittelbar ‑ bewirkt hat (vgl. VwGH 28.5.2019, Ra 2019/22/0105, Rn. 9; 14.7.2021, Ra 2018/22/0017, Pkt. 7.).

Der Verwaltungsgerichtshof hat demnach eine mittelbare Wirkung (des Erschleichens eines Bescheids in Form des Berufens auf eine Aufenthaltsehe) im Verhältnis zwischen einem Erstantrag und darauf aufbauenden Verlängerungs- bzw. Zweckänderungsanträgen anerkannt (vgl. VwGH 20.5.2021, Ra 2020/22/0234, 0235, Rn. 12).

5.3. Vorliegend war daher die ‑ unter Berufung auf die (vorgebliche) Ehe des Revisionswerbers mit R S herbeigeführte ‑ Erteilung eines Aufenthaltstitels in den vorangehenden Verfahren Voraussetzung (vgl. § 27 Abs. 1 NAG) für die positive Erledigung (auch) des Verlängerungs- und Zweckänderungsantrags vom 26. Juli 2016 nach erfolgter Ehescheidung. Die Wiederaufnahme der vorangehenden Verfahren führt ‑ mittelbar ‑ auch zur Wiederaufnahme des Verfahrens betreffend die Erteilung des zweckgeänderten Titels im August 2016.

6.1. Der Revisionswerber releviert weiters, das Verwaltungsgericht sei (in Bezug auf den Erstantrag) zu Unrecht von der Verwirklichung des Tatbestands des § 11 Abs. 2 Z 1 NAG ausgegangen. Der Verwaltungsgerichtshof habe zum FrG judiziert (Berufung auf VwGH 15.3.2006, 2005/18/0684), dass ‑ wenn das rechtsmissbräuchliche Eingehen einer Ehe fünf Jahre oder länger zurückliege ‑ der besagte Missbrauch die Annahme, der weitere Aufenthalt gefährde die öffentliche Ordnung, nicht mehr rechtfertige. Fallbezogen liege die Eheschließung mit R S rund zehn Jahre zurück, sodass eine Beeinträchtigung der öffentlichen Interessen nicht mehr vorliege.

6.2. Soweit der Revisionswerber die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Gefährdungsprognose gemäß § 11 Abs. 2 Z 1 NAG rügt, ist dem entgegenzuhalten, dass nach ständiger hg. Rechtsprechung eine solche einzelfallbezogene Beurteilung im Allgemeinen ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel ist (vgl. VwGH 17.6.2019, Ra 2019/22/0096, Rn. 8; 8.2.2021, Ra 2021/22/0004, Rn. 6).

Vorliegend zeigt der Revisionswerber ein (unvertretbares) Abweichen der ‑ vom Verwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung erzielten ‑ Lösung von den insofern in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen nicht (konkret) auf. Ein solches ist fallbezogen ‑ vor allem in Anbetracht des wiederholten Berufens (im Zuge mehrerer Antragstellungen) auf die tatsächlich nicht bestehende Ehe sowie der durch das rechtsmissbräuchliche Eingehen und jahrelange Aufrechterhalten der Ehe bewirkten massiven Störung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens ‑ auch nicht zu sehen.

6.3. Soweit sich der Revisionswerber auf die hg. Judikatur zum Fremdengesetz 1997 (FrG) bezieht, wonach die Erlassung eines Aufenthaltsverbots nicht mehr geboten sei, wenn der Rechtsmissbrauch des Eingehens einer Scheinehe bereits fünf Jahre zurückliege, kann dem ebensowenig gefolgt werden:

Einerseits ist anzumerken, dass sich der Revisionswerber fallbezogen nach der Eheschließung mehrmals für die Erteilung eines Aufenthaltstitels auf die (vorgebliche) Ehe berufen hat (vgl. dazu VwGH 21.2.2013, 2011/23/0632), sodass von keinem zumindest fünf Jahre dauernden Wohlverhalten bis zum behördlichen Bescheid auszugehen ist. Andererseits ist darauf hinzuweisen, dass die angesprochene Judikatur zum FrG im Anwendungsbereich des FPG nicht (mehr) aufrechterhalten wurde (vgl. VwGH 22.1.2013, 2011/18/0003; neuerlich 2011/23/0632) und die in der Revision unterstellte Anwendbarkeit auch im Bereich des NAG vom Revisionswerber ebenso in keiner Weise sachlich nachvollziehbar dargetan wird bzw. eine solche auch nicht zu sehen ist.

7.1. Der Revisionswerber wendet sich ferner gegen die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Interessenabwägung. Das Verwaltungsgericht habe sich zu Unrecht auf die Gefährdung der öffentlichen Interessen durch die mutmaßliche Aufenthaltsehe berufen und den mehr als zehnjährigen rechtmäßigen Aufenthalt sowie das sonstige Wohlverhalten nicht entsprechend berücksichtigt.

7.2. Mit diesen Ausführungen, denen einleitend zu entgegnen ist, dass sich der Revisionswerber bis zur Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses deutlich weniger als zehn Jahre rechtmäßig in Österreich aufgehalten hat, wendet sich der Revisionswerber gegen die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Interessenabwägung gemäß § 11 Abs. 3 NAG in Verbindung mit Art. 8 EMRK. Der Verwaltungsgerichtshof vertritt dazu in ständiger Rechtsprechung, dass die im Rahmen der Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK im Allgemeinen ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist (vgl. VwGH 14.2.2018, Ra 2017/22/0173, Pkt. 5.2.; 27.6.2022, Ra 2022/22/0076, Rn. 15).

7.3. Vorliegend zeigt der Revisionswerber keine stichhältigen Gründe auf, aus denen die vom Verwaltungsgericht durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK (vgl. im Einzelnen bereits oben Punkt 2.3.) nicht auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage und nicht im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze erfolgt wäre. Die vom Verwaltungsgericht ‑ nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ unter hinreichender Berücksichtigung der fallbezogenen Umstände erzielte Lösung kann jedenfalls nicht als unvertretbar angesehen werden. Gegenteiliges wird auch in der Zulassungsbegründung nicht konkret dargetan.

8. Insgesamt wird daher in der Zulässigkeitsbegründung keine Rechtsfrage aufgeworfen, der nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war deshalb zurückzuweisen.

Wien, am 4. April 2023

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