Normen
AVG §68 Abs1
AVG §69 Abs1 Z1
AVG §69 Abs3
NAG 2005 §46 Abs1 Z2
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §17
VwRallg
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020220234.L01
Spruch:
Das die erstmitbeteiligte Partei betreffende Erkenntnis wird im Umfang seiner Anfechtung, sohin insoweit, als damit die Spruchpunkte 1)a), 1)b), 1)c), 2)a), 2)b) und 2)c) des die erstmitbeteiligte Partei betreffenden Bescheides der belangten Behörde vom 22. Juni 2020 behoben wurden, wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Das die zweitmitbeteiligte Partei betreffende Erkenntnis wird zur Gänze wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Vertreten durch ihre ‑ zum damaligen Zeitpunkt über einen Aufenthaltstitel „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“ gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) verfügende ‑ Mutter (DN) sowie in Ableitung von dieser stellten die mitbeteiligten Parteien (alle drei sind serbische Staatsangehörige) im Jahr 2015 (erstmitbeteiligte Partei) bzw. im Jahr 2018 (zweitmitbeteiligte Partei) einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“ gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 NAG. Diese Aufenthaltstitel wurden den mitbeteiligten Parteien vom Landeshauptmann von Wien (belangte Behörde, Revisionswerber) erteilt und in weiterer Folge auf Grund von Verlängerungsanträgen (hinsichtlich der erstmitbeteiligten Partei: zweimalig; hinsichtlich der zweitmitbeteiligten Partei: einmalig) verlängert. Am 19. November 2019 stellte die erstmitbeteiligte Partei einen weiteren Antrag auf Verlängerung ihres Aufenthaltstitels „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“ gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 NAG.
2 Mit Bescheiden jeweils vom 22. Juni 2020 nahm die belangte Behörde die drei die erstmitbeteiligte Partei betreffenden sowie die zwei die zweitmitbeteiligte Partei betreffenden, rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 in Verbindung mit Abs. 3 AVG von Amts wegen wieder auf (jeweils Spruchpunkt 1). Die damit wieder offenen Anträge der beiden mitbeteiligten Parteien wurden jeweils auf Grund des Eingehens einer Aufenthaltsehe (der Mutter der mitbeteiligten Parteien) gemäß § 2 Abs. 1 Z 9 in Verbindung mit § 46 Abs. 1 Z 2 NAG abgewiesen (Spruchpunkte 2)a) bis 2)c) des die erstmitbeteiligte Partei betreffenden Bescheides sowie Spruchpunkte 2)a) und 2)b) des die zweitmitbeteiligte Partei betreffenden Bescheides). Zudem wurde in dem die erstmitbeteiligte Partei betreffenden Bescheid der „Verlängerungsantrag vom 19.03.2020 [auf Erteilung] eines [...] Aufenthaltstitels für den Zweck ‘Daueraufenthalt ‑ EU’ [...] mangels Vorliegens eines gültigen Aufenthaltstitels für Österreich gemäß § 24 NAG abgewiesen“ (Spruchpunkt 2)d) dieses Bescheides).
3 In ihrer Begründung verwies die belangte Behörde darauf, dass der Mutter der mitbeteiligten Parteien im Jahr 2015 auf Grund ihrer Ehe mit einem in Österreich über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt ‑ EU“ verfügenden serbischen Staatsangehörigen von der belangten Behörde ein (zuletzt bis zum 16. April 2020 verlängerter) Aufenthaltstitel „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“ gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 NAG erteilt worden sei. Unter Verweis auf die durchgeführten Erhebungen der LPD Wien ging die belangte Behörde davon aus, dass es sich bei der (am 17. Oktober 2017 wieder geschiedenen) Ehe der DN um eine Aufenthaltsehe gehandelt habe. Der „so gesetzte Erschleichungstatbestand“ rechtfertige die Wiederaufnahme der Verfahren. Auch die DN betreffenden Verfahren seien wiederaufgenommen und die (somit wieder offenen) Anträge abgewiesen worden.
4 Mit den angefochtenen ‑ im Wesentlichen inhaltsgleichen ‑ Erkenntnissen vom 12. August 2020 gab das Verwaltungsgericht Wien den dagegen erhobenen Beschwerden der beiden mitbeteiligten Parteien jeweils statt und behob die angefochtenen Bescheide der belangten Behörde. Die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG wurde jeweils für unzulässig erklärt.
5 In seinen rechtlichen Erwägungen hielt das Verwaltungsgericht fest, die belangte Behörde habe die Wiederaufnahme der rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren sowie die Abweisung der Anträge der mitbeteiligten Parteien zusammengefasst damit begründet, dass die Mutter der mitbeteiligten Parteien eine Aufenthaltsehe eingegangen sei und die Erteilung ihrer Aufenthaltstitel erschlichen habe, was ‑ so offenbar die nicht näher begründete Ansicht der belangten Behörde ‑ auf die Verfahren der mitbeteiligten Parteien durchschlage. Dem könne ‑ so das Verwaltungsgericht unter Bezugnahme auf näher zitierte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ‑ nicht gefolgt werden, weil einem minderjährigen Fremden ein Fehlverhalten seiner Mutter bei Eingehen einer Aufenthaltsehe nicht angelastet werden könne (Verweis auf VwGH 16.2.2012, 2011/18/0039; 21.6.2012, 2011/23/0175; 19.12.2012, 2012/22/0212). Der von der belangten Behörde angezogene Wiederaufnahmegrund liege somit nicht vor. Ein Auswechseln des Wiederaufnahmegrundes durch das Verwaltungsgericht sei nicht zulässig. Die Wiederaufnahme der Verfahren und die Abweisung der (dadurch wieder offenen) Anträge der mitbeteiligten Parteien seien somit zu Unrecht erfolgt.
6 Zur Abweisung des Verlängerungsantrages der erstmitbeteiligten Partei auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt ‑ EU“ merkte das Verwaltungsgericht an, dass ein solcher Antrag nicht gestellt worden sei. Die Erlassung eines antragsbedürftigen Verwaltungsaktes ohne Vorliegen eines entsprechenden Antrages belaste den Bescheid mit Rechtswidrigkeit, weshalb auch dieser Spruchpunkt zu beheben gewesen sei. Über den Antrag der erstmitbeteiligten Partei vom 19. November 2019 auf Verlängerung des Aufenthaltstitels „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“ gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 NAG sei von der belangten Behörde noch nicht entschieden worden.
7 Gegen diese Erkenntnisse ‑ mit Ausnahme der ausdrücklich nicht angefochtenen Aufhebung des Spruchpunktes 2)d) des die erstmitbeteiligte Partei betreffenden Bescheides der belangten Behörde ‑ richten sich die beiden vorliegenden, im Wesentlichen inhaltsgleichen außerordentlichen Amtsrevisionen.
Die mitbeteiligten Parteien erstatteten jeweils eine Revisionsbeantwortung, in der beantragt wird, den Revisionen nicht stattzugeben.
Der Verwaltungsgerichtshof hat die beiden Revisionen auf Grund ihres sachlichen und rechtlichen Zusammenhangs zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbunden und darüber erwogen:
8 Der Revisionswerber bringt zur Zulässigkeit seiner Amtsrevisionen vor, die seitens des Verwaltungsgerichtes begründend herangezogenen Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes seien nicht einschlägig, weil diese nicht zur Frage der Zulässigkeit einer Wiederaufnahme nach § 69 Abs. 1 Z 1 AVG, sondern zur Frage des Vorliegens des Versagungsgrundes nach § 11 Abs. 1 Z 4 NAG bzw. des Erteilungshindernisses nach § 11 Abs. 2 Z 1 in Verbindung mit Abs. 4 Z 1 NAG ergangen seien. Von einem Erschleichen im Sinn des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG sei zu sprechen, wenn der Bescheid seitens der Partei oder ihres Vertreters durch eine verpönte Einflussnahme veranlasst worden sei. Da die minderjährigen mitbeteiligten Parteien in ihren Verfahren von ihrer Mutter vertreten worden seien, müssten sie sich die von ihrer Mutter gesetzte Irreführungsabsicht zurechnen lassen.
Die Revisionen erweisen sich im Hinblick darauf als zulässig.
9 Das Verwaltungsgericht begründete die Behebung der bei ihm angefochtenen Bescheide im Wesentlichen damit, dass der Wiederaufnahmetatbestand des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG (Erschleichen des Bescheides) nicht vorliege, weil nach der (in Rn. 5 zitierten) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes einem minderjährigen Fremden das Fehlverhalten seiner Mutter bei Eingehen einer Aufenthaltsehe nicht angelastet werden könne.
10 Dem ist zunächst Folgendes entgegenzuhalten: Die seitens des Verwaltungsgerichtes begründend herangezogenen Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes sind jeweils zu Ausweisungen gemäß § 54 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 ergangen. Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesen Entscheidungen festgehalten, dass der Versagungsgrund des § 11 Abs. 1 Z 4 NAG (Vorliegen einer Aufenthaltsehe) nur den Ehegatten selbst, nicht jedoch dessen Kinder betreffen könne; den (jeweils minderjährigen) Fremden könne hinsichtlich der von einem Elternteil eingegangenen Aufenthaltsehe kein Fehlverhalten vorgeworfen werden, die Frage der Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Sinn des § 11 Abs. 2 Z 1 in Verbindung mit Abs. 4 Z 1 NAG sei vielmehr für jede Person eigenständig zu prüfen.
Im vorliegenden Fall einer Wiederaufnahme nach § 69 Abs. 1 Z 1 AVG geht es aber nicht darum, den mitbeteiligten Parteien das Eingehen der Aufenthaltsehe durch ihre Mutter anzulasten, sondern darum, ob ihnen ein Erschleichen des Bescheides durch ihre Mutter (im Wege des Berufens auf ihre Ehe und des Verschweigens des Umstandes der Aufenthaltsehe) zugerechnet werden kann. Aus den vom Verwaltungsgericht herangezogenen Erkenntnissen des Verwaltungsgerichtshofes lässt sich somit nicht auf die Rechtswidrigkeit der vom Verwaltungsgericht behobenen Bescheide der belangten Behörde vom 22. Juni 2020 schließen.
11 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes liegt ein „Erschleichen“ eines Bescheides im Sinn des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG dann vor, wenn dieser in der Art zu Stande gekommen ist, dass bei der Behörde von der Partei objektiv unrichtige Angaben von wesentlicher Bedeutung mit Irreführungsabsicht gemacht und diese Angaben dann dem Bescheid zu Grunde gelegt worden sind, wobei die Verschweigung wesentlicher Umstände dem Vorbringen unrichtiger Angaben gleichzusetzen ist (vgl. VwGH 28.5.2019, Ra 2019/22/0105, Rn. 7, mwN).
Von einem (sonstigen) Erschleichen eines Bescheides im Sinn des § 69 Abs. 1 Z 1 letzter Fall AVG kann ‑ im Gegensatz zu einem Herbeiführen durch eine gerichtlich strafbare Handlung ‑ nur dann gesprochen werden, wenn der Bescheid seitens der Partei oder ihres Vertreters durch eine vorsätzliche (also schuldhafte) verpönte Einflussnahme auf die Entscheidungsgrundlagen veranlasst wird. Eine Irreführungsabsicht setzt voraus, dass die Partei (bzw. ihr Vertreter) wider besseres Wissen gehandelt hat (vgl. dazu VwGH 22.3.2011, 2008/21/0428, mwN). Ein „Erschleichen“ kann nur von einer Partei oder ihrem Vertreter vorgenommen werden (vgl. VwGH 19.2.1992, 91/12/0296; siehe auch § 12 AVG).
Da die Mutter der mitbeteiligten Parteien in den Verfahren über deren Anträge als gesetzliche Vertreterin aufgetreten ist, ist es dem Grunde nach nicht unzulässig, ein Verschweigen der Aufenthaltsehe durch die Mutter in diesen Verfahren als Erschleichen im Sinn des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG zu werten.
12 Erforderlich ist allerdings auch ein Kausalzusammenhang zwischen dem Verschweigen der Aufenthaltsehe und der Erteilung der Aufenthaltstitel an die mitbeteiligten Parteien.
Der Verwaltungsgerichtshof hat im bereits zitierten Erkenntnis Ra 2019/22/0105 (Rn. 9) zum Ausdruck gebracht, dass die durch ein Berufen auf eine Aufenthaltsehe in einem Verfahren über einen Erstantrag herbeigeführte positive Erledigung dieses Antrags Voraussetzung für die Titelerteilung in einem Verlängerungs- bzw. Zweckänderungsverfahren ist und somit diese Titelerteilung ‑ mittelbar ‑ bewirkt hat. Der Verwaltungsgerichtshof hat somit eine mittelbare Wirkung (des Erschleichens eines Bescheides in Form des Verschweigens) im Verhältnis zwischen einem Erstantrag und darauf aufbauenden Verlängerungsanträgen anerkannt.
Nichts anderes kann aber für den hier vorliegenden Fall gelten, in dem die Erteilung der Aufenthaltstitel an die mitbeteiligten Parteien zur Familienzusammenführung mit ihrer Mutter von der Erteilung eines Aufenthaltstitels an die Mutter abhängig war. Da das Verschweigen der Aufenthaltsehe und das Berufen auf den ‑ auf diese Aufenthaltsehe gestützten ‑ Aufenthaltstitel der Mutter die Erteilung der Aufenthaltstitel an die mitbeteiligten Parteien bewirkt hat, ist es dem Grunde nach nicht zu beanstanden, diesen Umstand als ein Erschleichen der Bescheide im Sinn des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG auch in den Verfahren über die Anträge der mitbeteiligten Parteien anzusehen.
13 Im Hinblick darauf hat das Verwaltungsgericht seine Entscheidungen mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet. Daher waren das die erstmitbeteiligte Partei betreffende Erkenntnis im Umfang seiner Anfechtung und das die zweitmitbeteiligte Partei betreffende Erkenntnis zur Gänze gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
14 Von der Durchführung der seitens der mitbeteiligten Parteien beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 6 VwGG abgesehen werden, weil der für die Frage der Rechtmäßigkeit der Behebung der angefochtenen Bescheide der belangten Behörde relevante Sachverhalt geklärt ist und ausschließlich Rechtsfragen zu lösen waren, für die eine mündliche Verhandlung durch Art. 6 EMRK oder Art. 47 GRC nicht geboten ist.
Wien, am 20. Mai 2021
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