VwGH 2011/23/0632

VwGH2011/23/063221.2.2013

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher, Mag. Haunold, Mag. Feiel und Dr. Mayr als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde der MD in W, vertreten durch Mag. Oliver Ertl, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Hahngasse 25/5, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom 23. August 2010, Zl. SD 758/06, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes, zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §54 Abs1 Z1;
FrPolG 2005 §60 Abs1;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z9;
FrPolG 2005 §61 Z2;
FrPolG 2005 §63 Abs2;
FrPolG 2005 §66;
EMRK Art8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
FrPolG 2005 §54 Abs1 Z1;
FrPolG 2005 §60 Abs1;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z9;
FrPolG 2005 §61 Z2;
FrPolG 2005 §63 Abs2;
FrPolG 2005 §66;
EMRK Art8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin, eine chinesische Staatsangehörige, reiste im Juni 2001 illegal nach Österreich ein. Am 21. Mai 2002 heiratete sie den österreichischen Staatsbürger P. Im Hinblick darauf wurde ihr eine Niederlassungsbewilligung erteilt, die in der Folge mehrfach verlängert wurde. Seit dem 21. Februar 2005 verfügte sie über einen Niederlassungsnachweis, der gemäß § 81 Abs. 2 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes iVm § 11 Abs. 1 lit. C der Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz-Durchführungsverordnung mittlerweile als Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EG" weiter gilt. Am 25. November 2005 wurde die Ehe der Beschwerdeführerin geschieden.

Mit Bescheid vom 12. Juni 2006 erließ die Bundespolizeidirektion Wien gegen die Beschwerdeführerin wegen Eingehens einer so genannten Aufenthaltsehe gemäß § 60 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 9 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG) ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Aufenthaltsverbot.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 23. August 2010 gab die belangte Behörde der dagegen erhobenen Berufung keine Folge und bestätigte den erstinstanzlichen Bescheid.

Bei ihrer Beweiswürdigung stützte sich die belangte Behörde zum einen auf das Ergebnis der von der erstinstanzlichen Behörde am 3. Mai 2005 an der Anschrift der Beschwerdeführerin in Wien 14, H-Straße, durchgeführten Erhebung. Dabei sei der "Ex-Mann" der Beschwerdeführerin, Z., im Doppelbett schlafend vorgefunden worden; eine befragte Hausbewohnerin habe gesagt, dass in der fraglichen Wohnung eine "chinesische Familie" mit Kind wohne und dass es sich beim Mann (nach Vorlage eines Fotos) "ziemlich sicher" um Z. handle. Zum anderen zog die belangte Behörde die - als glaubwürdig erachtete - Aussage des P. bei seiner Einvernahme am 3. August 2005 heran, wonach er die Beschwerdeführerin nur deshalb geheiratet habe, damit sie in Österreich bleiben könne bzw. weil sie ihm "Leid getan" habe. Demgegenüber wertete die belangte Behörde die Angabe der Beschwerdeführerin, wonach es sich um eine "Liebesheirat" gehandelt habe, sie und ihr Ehemann sich aber im Frühjahr 2005 "zerstritten" hätten, als "bloße Schutzbehauptung".

Im Rahmen der Interessenabwägung anerkannte die belangte Behörde zwar einen mit dem Aufenthaltsverbot verbundenen Eingriff in das Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerin. Dieser Eingriff sei jedoch zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele (hier zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens und zur Verhinderung von Aufenthaltsehen) dringend geboten und somit iSd § 66 FPG zulässig, zumal die Beschwerdeführerin gegen diese öffentlichen Interessen gravierend verstoßen habe. Die - auch in beruflicher Hinsicht - erzielte Integration sei auf Grund des Eingehens einer Aufenthaltsehe wesentlich gemindert. Ihre persönlichen Interessen an einem Verbleib im Bundesgebiet würden somit nicht schwerer wiegen als das öffentliche Interesse an der Erlassung des Aufenthaltsverbotes. Hinsichtlich der Gültigkeitsdauer vertrat die belangte Behörde die Auffassung, dass ein Wegfall der aus dem Aufenthalt der Beschwerdeführerin im Bundesgebiet resultierenden Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit nicht vor Verstreichen des festgesetzten Zeitraums erwartet werden könne.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten erwogen hat:

Vorauszuschicken ist, dass der Verwaltungsgerichtshof den angefochtenen Bescheid auf Basis der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Erlassung zu überprüfen hat. Wird daher im Folgenden auf Bestimmungen des FPG Bezug genommen, so handelt es sich dabei um die im August 2010 geltende Fassung.

Gemäß § 60 Abs. 1 FPG kann gegen einen Fremden ein Aufenthaltsverbot erlassen werden, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass sein (weiterer) Aufenthalt die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet (Z 1) oder anderen im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft (Z 2). Gemäß § 60 Abs. 2 Z 9 FPG hat als bestimmte, eine Gefährdungsannahme iSd Abs. 1 rechtfertigende Tatsache zu gelten, wenn ein Fremder eine Ehe geschlossen, sich für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung oder eines Befreiungsscheines auf die Ehe berufen, aber mit dem Ehegatten ein gemeinsames Familienleben iSd Art. 8 EMRK nicht geführt hat.

Die Beschwerdeführerin bestreitet das Vorliegen einer Scheinehe und wendet sich gegen die von der belangten Behörde vorgenommene Beweiswürdigung. Sie bringt dazu vor, dass P. zunächst (im Dezember 2002) die "Echtheit der Ehe" bestätigt habe und dass zu Z., dem Vater ihrer (1996 geborenen und mit ihr im gemeinsamen Haushalt lebenden) Tochter, nur ein freundschaftlicher Kontakt bestehe. Damit zeigt sie aber keine Unschlüssigkeit der behördlichen Beweiswürdigung auf. Es ist nämlich nicht zu beanstanden, dass die belangte Behörde die Angaben des P. vom August 2005, die mit den Ergebnissen der Hauserhebung im Mai 2005 im Einklang standen, als glaubwürdig erachtete.

Die Beschwerdeführerin rügt in diesem Zusammenhang zwar noch als Verfahrensmangel, dass die belangte Behörde dem Antrag auf neuerliche Einvernahme ihres vormaligen Ehemannes nicht nachgekommen sei. In diesem Zusammenhang ist ihr allerdings anzulasten, dass sie keine hinreichenden Gründe dafür dargelegt hat, weshalb P. bei einer nochmaligen Einvernahme von der im Jahr 2005 getätigten Darstellung zu ihren Gunsten abgehen würde. Auch das nicht näher substantiierte Vorbringen, ihr vormaliger Ehemann sei labil und alkoholkrank und habe das Vorliegen einer "Scheinehe" nur im Hinblick auf den "angeblichen" Aufenthalt seines "Vorgängers" (des Z.) in ihrer Wohnung behauptet, vermag keine Verpflichtung der belangten Behörde zu begründen, P. erneut zum selben Beweisthema einzuvernehmen.

Der belangten Behörde kann daher nicht entgegengetreten werden, wenn sie die Auffassung vertrat, die Beschwerdeführerin habe mit einem österreichischen Staatsbürger die Ehe geschlossen und sich, ohne mit diesem ein gemeinsames Familienleben iSd Art. 8 EMRK geführt zu haben, für die Erteilung eines Aufenthaltstitels auf diese Ehe berufen. Ausgehend von der Verwirklichung des Tatbestands des § 60 Abs. 2 Z 9 FPG durfte sie auch die Gefährdungsprognose nach § 60 Abs. 1 FPG bejahen.

Die Beschwerdeführerin macht auch geltend, dass die gegenständliche Ehe bereits vor mehr als fünf Jahren (nämlich im Mai 2002) geschlossen worden sei. Dazu ist allerdings anzumerken, dass die (damit von ihr angesprochene) Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zum Fremdengesetz 1997, wonach die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes nicht mehr geboten sei, sofern der Rechtsmissbrauch des Eingehens der Scheinehe bereits fünf Jahre zurückliege, im Anwendungsbereich des FPG nicht aufrechterhalten wurde (vgl. etwa das Erkenntnis vom 21. Juni 2012, Zl. 2012/23/0022). Zudem hat sich die Beschwerdeführerin auch nach der Eheschließung mehrfach für die Erteilung eines Aufenthaltstitels auf diese Ehe berufen.

Die Beschwerdeführerin verweist weiters auf die ihr wiederholt erteilten Aufenthaltstitel und insbesondere auf den Anfang 2005 ausgestellten Niederlassungsnachweis. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes sei aber unzulässig, wenn der Niederlassungsbehörde der "Aufenthaltsverbotsgrund" bei Erteilung des Aufenthaltstitels bereits bekannt gewesen sei. Dem ist Folgendes entgegenzuhalten:

Der Verwaltungsgerichtshof hat zwar bereits mehrfach ausgesprochen, dass gemäß den Bestimmungen des § 61 Z 2 iVm § 54 Abs. 1 Z 1 FPG (auf die sich die Beschwerdeführerin mit ihrem Vorbringen inhaltlich bezieht) die Erteilung eines Aufenthaltstitels, die in Kenntnis aller in Frage kommenden Versagungsgründe bzw. des Gesamtfehlverhaltens des Fremden erfolgte, der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes entgegensteht (vgl. etwa das Erkenntnis vom 10. Mai 2011, Zl. 2007/18/0890, mwN). Ein derartiger Sachverhalt liegt im vorliegenden Fall aber schon deshalb nicht vor, weil die Erteilung des Niederlassungsnachweises vor den (im Mai bzw. August 2005 durchgeführten) Erhebungen erfolgte, die zur Erlassung des Aufenthaltsverbotes geführt haben. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der Beschwerdeführerin - laut Beschwerdevorbringen:

nach Verlust ihrer "Karte" - im Jänner 2007 entsprechend der nunmehr geänderten Rechtslage eine Karte für den Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EG" ausgehändigt wurde, weil kein Anhaltspunkt dafür besteht, dass ihr damit ein weiterer Aufenthaltstitel erteilt werden sollte.

Im Hinblick auf die nach § 66 FPG vorgenommene Interessenabwägung ist der belangten Behörde allerdings vorzuwerfen, dass sie auf die Beziehung der Beschwerdeführerin zu ihrer minderjährigen, seit mehreren Jahren in Österreich aufhältigen Tochter in keiner Weise eingegangen ist. Sollte die belangte Behörde in dieser Hinsicht die beabsichtigte Ausweisung der Tochter vor Augen gehabt haben, ist darauf hinzuweisen, dass der diesbezügliche (kurz nach Erlassung des gegenständlichen Aufenthaltsverbotes ergangene) Ausweisungsbescheid vom 16. September 2010 mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom heutigen Tag, Zl. 2011/23/0643, (mit ex tunc-Wirkung) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben wurde.

Vor allem aber rügt die Beschwerde im Ergebnis zutreffend, dass die belangte Behörde das Aufenthaltsverbot für die Höchstdauer von zehn Jahren erlassen hat.

Gemäß § 63 Abs. 2 FPG ist bei der Festsetzung der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltsverbotes auf die für seine Erlassung maßgeblichen Umstände Bedacht zu nehmen. Als maßgebliche Umstände kommen - abgesehen vom gesetzten Fehlverhalten und der daraus resultierenden Gefährdung öffentlicher Interessen - auch die privaten und familiären Interessen iSd § 66 FPG in Betracht (vgl. das hg. Erkenntnis vom 22. Jänner 2013, Zl. 2012/18/0191, mwN).

Im vorliegenden Fall wurde die Aufenthaltsehe mehr als acht Jahre vor Erlassung des angefochtenen Bescheides geschlossen, auch die Erteilung des Niederlassungsnachweises lag zum hier maßgeblichen Zeitpunkt bereits knapp fünfeinhalb Jahre zurück. Vor allem ist der belangten Behörde aber anzulasten, dass sie auf die Dauer des Berufungsverfahrens von ca. vier Jahren und zwei Monaten in keiner Weise Bedacht genommen hat. In einer derartigen Konstellation hätte es aber einer nachvollziehbaren Begründung bedurft, weshalb trotz des mittlerweile vergangenen Zeitraumes und angesichts der familiären Situation der Beschwerdeführerin (im Hinblick auf ihre in Österreich aufhältige Tochter) ein Wegfall des für die Erlassung des Aufenthaltsverbotes maßgeblichen Grundes noch immer erst nach der für solche Fälle (damals) vorgesehenen Höchstdauer von zehn Jahren angenommen wurde. Demzufolge und im Hinblick darauf, dass es sich bei der Festsetzung der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltsverbotes um einen vom übrigen Inhalt des Bescheides nicht trennbaren Abspruch handelt (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 3. November 2010, Zl. 2007/18/0479), war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften zur Gänze aufzuheben.

Von der beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 21. Februar 2013

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