VwGH Ra 2019/19/0250

VwGHRa 2019/19/02507.5.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. April 2019, 1.) W124 2142726‑1/5E, 2.) W124 2142728‑1/5E, 3.) W124 2142729‑1/5E und 4.) W124 2153780‑1/3E, betreffend Zurückverweisung nach dem VwGVG in Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Parteien: 1.) F M, 2.) M S, 3.) M S und 4.) S S, alle vertreten durch Dr. Gerhard Mory, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf‑Dietrich‑Straße 19/5), zu Recht erkannt:

Normen

VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §24
VwGVG 2014 §28
VwGVG 2014 §28 Abs2 Z2
VwGVG 2014 §28 Abs3

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019190250.L00

 

Spruch:

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Die Erstmitbeteiligte und der Zweitmitbeteiligte sind verheiratet und die Eltern der minderjährigen Dritt- und Viertmitbeteiligten. Die Mitbeteiligten sind Staatsangehörige Afghanistans. Die Erst- bis Drittmitbeteiligten stellten am 3. November 2015, die Viertmitbeteiligte am 2. März 2017 jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Begründend brachten sie zusammengefasst vor, der Zweitrevisionswerber hätte für die Taliban kämpfen sollen, weswegen er in den Iran geflüchtet sei. Dort hätten sie gefürchtet, nach Afghanistan zurückgeschickt zu werden. In Afghanistan sei es unsicher und im Besonderen für schiitische Hazara gefährlich. Frauen hätten in Afghanistan keine Rechte.

3 Mit Bescheiden vom 31. Oktober 2016 beziehungsweise vom 23. März 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der Mitbeteiligten ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen und sprach aus, dass die Rückkehrentscheidung vorübergehend unzulässig sei.

4 Das BFA traf Feststellungen zur Lage in Afghanistan, darunter auch zu den Themen Frauen, Kinder, Bildung und religiöse Minderheiten. Es führte ‑ soweit im Revisionsverfahren von Bedeutung ‑ zusammengefasst aus, die Mitbeteiligten hätten keine konkrete gegen sie gerichtete Verfolgung glaubhaft machen können. Sie wären bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht von einer Verletzung ihrer Rechte nach Art. 3 EMRK bedroht. Für den Zeitraum des Mutterschutzes der Erstmitbeteiligten ergebe sich jedoch die vorübergehende Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung.

5 Mit dem angefochtenen Beschluss hob das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Bescheide auf und verwies die Angelegenheiten gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zur Erlassung neuer Bescheide an das BFA zurück. Es sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

6 In seiner Begründung gab das BVwG den Verfahrensgang wieder und führte aus, das BFA habe betreffend mehrerer wesentlicher Verfahrensfragen den entscheidungswesentlichen Sachverhalt nicht beziehungsweise nicht ausreichend ermittelt, verfahrenswesentliche Feststellungen nicht getroffen und entsprechende Länderfeststellungen den gegenständlichen Bescheiden nicht zugrunde gelegt. So enthielten die vom BFA herangezogenen Länderberichte nur allgemeine Ausführungen zur Situation von Kindern in Afghanistan. Aus diesen gehe hervor, dass die Menschenrechtssituation von Kindern in Afghanistan insgesamt Anlass zur Sorge gebe. In seiner Begründung habe sich das BFA jedoch nicht weiter mit der Situation Minderjähriger in Afghanistan auseinandergesetzt und die individuelle Situation der Familie bei einer allfälligen Rückkehr nicht ausreichend gewürdigt. Auch habe es das BFA unterlassen, sich mit der Führung der alltäglichen Lebensweise der Erstmitbeteiligten in Österreich im Vergleich zu jener in Afghanistan auseinanderzusetzen. Die Vornahme solcher verfahrenswesentlicher Abklärungen könne nicht gänzlich zur erstmaligen beziehungsweise vollständigen Ermittlung im Beschwerdeverfahren an das BVwG delegiert werden. Die gänzliche erstmalige Vornahme des verfahrenswesentlichen Ermittlungsverfahrens und die darauf aufbauende erstmalige Beurteilung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das BVwG könnten nicht im Sinne des Gesetzes liegen, zumal das BFA als Spezialbehörde im Rahmen der Staatendokumentation für die Sammlung relevanter Tatsachen zur Situation in den betreffenden Staaten samt den Quellen zuständig sei.

7 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Beschluss erhobene (außerordentliche) Revision nach Einleitung des Vorverfahrens ‑ Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet ‑ in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8 Das BFA bringt zur Zulässigkeit seiner Revision im Wesentlichen vor, das BVwG sei von der (in der Revision näher dargestellten) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Voraussetzungen einer Aufhebung und Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG abgewichen.

9 Die Revision ist zulässig und begründet.

10 Nach ständiger Rechtsprechung ist in § 28 VwGVG ein prinzipieller Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte normiert, weswegen die in § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG vorgesehene Möglichkeit der Kassation eines verwaltungsbehördlichen Bescheides streng auf ihren gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken ist (vgl. grundlegend VwGH 26.6.2014, Ro 2014/03/0063; sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 26.3.2019, Ra 2018/19/0556, mwN).

11 Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei krassen beziehungsweise besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden; eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher nur dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhaltes (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterlassen hat, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (vgl. VwGH 6.7.2016, Ra 2015/01/0123; 14.12.2016, Ro 2016/19/0005, jeweils mwN).

12 Selbst Bescheide, die in der Begründung dürftig sind, rechtfertigen keine Zurückverweisung der Sache, wenn brauchbare Ermittlungsergebnisse vorliegen, die im Zusammenhalt mit einer allenfalls durchzuführenden Verhandlung zu vervollständigen sind. Auch wenn das Verwaltungsgericht die beweiswürdigenden Erwägungen einer Verwaltungsbehörde nicht teilt, führt dies allein noch nicht dazu, dass von einem Unterlassen gebotener Ermittlungsschritte im Sinne des § 28 Abs. 3 VwGVG gesprochen werden könnte (vgl. etwa VwGH 20.6.2017, Ra 2017/18/0103, mwN).

13 Sind (lediglich) ergänzende Ermittlungen vorzunehmen, liegt die (ergänzende) Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Verwaltungsgericht im Interesse der Raschheit im Sinn des § 28 Abs. 2 Z 2 erster Fall VwGVG, zumal diesbezüglich nicht bloß auf die voraussichtliche Dauer des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens alleine, sondern auf die Dauer des bis zur meritorischen Entscheidung insgesamt erforderlichen Verfahrens abzustellen ist. Nur mit dieser Sichtweise kann ein dem Ausbau des Rechtsschutzes im Sinn einer Verfahrensbeschleunigung Rechnung tragendes Ergebnis erzielt werden, führt doch die mit der verwaltungsgerichtlichen Kassation einer verwaltungsbehördlichen Entscheidung verbundene Eröffnung eines neuerlichen Rechtszugs gegen die abermalige verwaltungsbehördliche Entscheidung an ein Verwaltungsgericht insgesamt zu einer Verfahrensverlängerung (vgl. VwGH 22.6.2016, Ra 2016/03/0027, mwN).

14 Im vorliegenden Fall ergeben sich keine krassen beziehungsweise besonders gravierenden Ermittlungslücken, die im Sinn der dargestellten Rechtsprechung eine Aufhebung und Zurückverweisung der Angelegenheit an das BFA zur Durchführung notwendiger Ermittlungen rechtfertigen könnten. Die Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung beziehungsweise das Erfordernis einer ergänzenden Einvernahme im Rahmen dieser Verhandlung können ‑ ebenso wie auch das Erfordernis der Ergänzung der Länderfeststellungen ‑ für sich eine kassatorische Entscheidung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG nicht rechtfertigen (vgl. VwGH 15.11.2018, Ra 2018/19/0268, mwN). Soweit das BVwG daher eine nähere Auseinandersetzung mit der Lebensweise der Erstmitbeteiligten in Österreich und der Situation der Mitbeteiligten im Fall ihrer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat vermisst, wäre es verpflichtet gewesen, diese selbst vorzunehmen beziehungsweise die Mitbeteiligten dazu selbst im Rahmen einer mündlichen Verhandlung einzuvernehmen und allenfalls ergänzende Länderfeststellungen zu treffen.

15 Der angefochtene Beschluss war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 7. Mai 2020

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