VwGH Ro 2016/19/0005

VwGHRo 2016/19/000514.12.2016

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Rossmeisel sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Tanzer, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Juni 2016, W238 1424412‑1/21E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: K T, vertreten durch Dr. Lennart Binder, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Rochusgasse 2/12), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §39 Abs2
AVG §45 Abs2
VwGVG 2014 §24 Abs1
VwGVG 2014 §28
VwGVG 2014 §28 Abs2 Z2
VwGVG 2014 §28 Abs3

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2016:RO2016190005.J00

 

Spruch:

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 8. Juli 2011 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Zu seinen Fluchtgründen befragt gab er an, von den Taliban sei versucht worden, ihn zwangsweise zu rekrutieren. Dem habe er sich nur durch seine Flucht entziehen können.

2 Das Bundesasylamt wies den Antrag mit Bescheid vom 25. Jänner 2012 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als auch des Status eines subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ab und wies den Mitbeteiligten gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 nach Afghanistan aus.

3 Das Fluchtvorbringen des Mitbeteiligten erachtete das Bundesasylamt als nicht glaubhaft. Aus den vorliegenden Länderberichten, die die Lage in Afghanistan im Oktober 2011 wiedergaben, folgerte die Verwaltungsbehörde, dass der Mitbeteiligte bei einer Rückkehr nach Afghanistan keiner realen Gefahr im Sinn des § 8 AsylG 2005 ausgesetzt sei. Der Mitbeteiligte habe keine Familienangehörigen und auch sonst kein schützenswertes Privatleben in Österreich. Seine Abschiebung sei daher zulässig.

4 Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Beschwerde an den (damals zuständigen) Asylgerichtshof. Das Beschwerdeverfahren wurde ab 1. Jänner 2014 gemäß § 75 Abs. 19 AsylG 2005 vom Bundesverwaltungsgericht weitergeführt.

5 Mit Beschluss vom 27. Mai 2014 stellte das Bundesverwaltungsgericht das Beschwerdeverfahren gemäß § 24 Abs. 2 erster Satz AsylG 2005 ein. Der Aufenthaltsort des Mitbeteiligten sei seit über einem Jahr unbekannt und auch nicht feststellbar. Er habe sich daher dem Verfahren entzogen.

6 Am 12. Mai 2016 langte beim revisionswerbenden Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) ein erkennbar im Namen des Mitbeteiligten gestellter Antrag auf „Wiederaufnahme des Verfahrens“ ein, zu dem vorgebracht wurde, der Mitbeteiligte sei „gemäß Dublin VO“ aus Großbritannien nach Österreich rücküberstellt worden.

Das Bundesverwaltungsgericht setzte darauf das Verfahren über die Beschwerde des Mitbeteiligten mit Beschluss vom 17. Mai 2016 gemäß § 24 Abs. 2 zweiter Satz AsylG 2005 fort.

7 Mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss hob das Bundesverwaltungsgericht den bekämpften Bescheid des Bundesasylamtes vom 25. Jänner 2012 auf und verwies die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurück. Es sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG zulässig sei.

8 Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht aus, seit der unter Zugrundelegung von Länderberichten zur Lage in Afghanistan vom Oktober 2011 vorgenommenen Beurteilung des entscheidungswesentlichen Sachverhalts durch das Bundesasylamt sei eine lange Zeit vergangen. Es seien daher nunmehr Ermittlungen zur derzeit aktuellen Lage im Herkunftsstaat bzw. in der Herkunftsprovinz des Mitbeteiligten und zur Erreichbarkeit seiner Heimatprovinz erforderlich. Vor diesem Hintergrund werde die Fluchtgeschichte des Mitbeteiligten einer „neuerlichen Beweiswürdigung und Beurteilung zu unterziehen“ und seine aktuelle Gefährdung bei einer Rückkehr zu beurteilen sein. Auch die Entwicklung des Privat‑ und Familienlebens des Mitbeteiligten seit der Erlassung des angefochtenen Bescheides werde zu erheben sein. Eine neuerliche Befragung des Mitbeteiligten erscheine daher unumgänglich. Sollte sich der Mitbeteiligte tatsächlich in Großbritannien aufgehalten und dort allenfalls auch einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, sei zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit seines Vorbringens auch zu ermitteln, ob er in Großbritannien dasselbe Fluchtvorbringen ‑ nämlich eine drohende Zwangsrekrutierung und Verfolgung durch die Taliban ‑ geltend gemacht habe. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes komme eine Aufhebung und Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG nur bei gravierenden Ermittlungslücken ‑ insbesondere wenn die Verwaltungsbehörde „nur ansatzweise ermittelt“ habe ‑ in Betracht. Ein vergleichbarer Fall liege hier aber vor, seien doch infolge des Zeitablaufs seit der Erlassung des Bescheides die Ermittlungen des Bundesasylamtes „nur mehr ansatzweise für eine Entscheidung ausreichend“. Die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Bundesverwaltungsgericht selbst sei nicht im Interesse der Raschheit gelegen und auch nicht erkennbar mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden.

Die Revision sei gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG zulässig, weil der Verwaltungsgerichtshof sich wohl bereits mit der Befugnis der Verwaltungsgerichte zur Behebung und Zurückverweisung gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG auseinandergesetzt habe, jedoch Rechtsprechung zur Frage fehle, ob im Licht dieser Judikatur auch eine gravierende Ermittlungslücke, die durch erst nach Bescheiderlassung eingetretene Sachverhaltsänderungen oder hervorgekommene Beweismittel zu Tage getreten sei, zur Kassation nach dieser Bestimmung ermächtige. Dazu sei auch auf die zu § 66 Abs. 2 AVG ergangene Judikatur zu verweisen.

9 Gegen diesen Beschluss richtet sich die vorliegende ordentliche Revision, in der die Revisionswerberin erklärt, sich zur Begründung der Zulässigkeit der Revision den Ausführungen im angefochtenen Erkenntnis anzuschließen, und ergänzend vorbringt, das Bundesverwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Voraussetzungen für Behebungen und Zurückverweisungen nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG abgewichen.

10 Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der er beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

11 Die Revision ist zulässig und berechtigt.

12 Das Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung (und zwar auch dann, wenn es nicht „in der Sache selbst“ entscheidet) an der zum Zeitpunkt seiner Entscheidung gegebenen Sach‑ und Rechtslage auszurichten (vgl. das hg. Erkenntnis vom 16. Dezember 2015, Ro 2014/03/0083, mwN; vgl. auch zur Maßgeblichkeit des Entscheidungszeitpunktes für die Frage der Asylgewährung das hg. Erkenntnis vom 3. Mai 2016, Ra 2015/18/0212, mwN).

13 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist von den Asylbehörden zu erwarten, dass sie insoweit, als es um Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat als Grundlage für die Beurteilung des Vorbringens von Asylwerbern geht, von den zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten Gebrauch machen und insbesondere Berichte der mit Flüchtlingsfragen befassten Organisationen in die Entscheidung einbeziehen. Das gilt auch für von einem Verwaltungsgericht geführte Asylverfahren. Folglich hat das Bundesverwaltungsgericht seinem Erkenntnis die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 7. September 2016, Ra 2015/19/0303, mwN).

14 Auch im vorliegenden Fall geht das Bundesverwaltungsgericht daher zu Recht davon aus, dass ‑ unter Beachtung der vergangenen Zeit seit der Erlassung des Bescheides durch das Bundesasylamt ‑ durch Beischaffung von aktuellen Länderberichten die derzeitige Lage im Herkunftsstaat des Mitbeteiligten zu erheben sein wird. Ausgehend von den in der Rechtsprechung aufgestellten Leitlinien zur Verhandlungspflicht gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG und § 21 Abs. 7 BFA‑VG (vgl. das hg. Erkenntnis vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017, 0018) ergibt sich daraus auch das Erfordernis der Durchführung einer Verhandlung.

15 Gemäß § 28 Abs. 2 Z 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B‑VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist. Gemäß § 28 Abs. 3 erster Satz leg. cit. hat das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B‑VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vorliegen und die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz leg. cit. kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen, wenn die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen hat.

16 Der Verwaltungsgerichtshof vertritt seit seinem Erkenntnis vom 26. Juni 2014, Ro 2014/03/0063, auf das gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird, zu § 28 VwGVG die Auffassung, dass in dieser Bestimmung ein prinzipieller Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte normiert ist, weswegen die in § 28 Abs. 3 zweiter Satz leg. cit. vorgesehene Möglichkeit der Kassation eines verwaltungsbehördlichen Bescheides streng auf ihren gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken ist.

Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden; eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher nur dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhaltes (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterlassen hat, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 6. Juli 2016, Ra 2015/01/0123, und vom 5. Oktober 2016, Ra 2016/19/0208, je mwN).

17 Das Bundesasylamt hat im vorliegenden Fall aufgrund der Einvernahme des Mitbeteiligten und der eingeholten Länderberichte den für seine Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt festgestellt. Erforderliche Ermittlungsschritte, die unterblieben sind, werden vom Bundesverwaltungsgericht nicht aufgezeigt.

Aus den dargestellten nach der Verfahrenslage infolge der seit Beschwerdeerhebung vergangenen Zeit erforderlich gewordenen Ermittlungen ergibt sich daher nicht, dass die Voraussetzungen einer kassatorischen Entscheidung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG erfüllt wären.

18 Sind (lediglich) ergänzende Ermittlungen vorzunehmen, liegt die (ergänzende) Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht nämlich im Interesse der Raschheit im Sinn des § 28 Abs. 2 Z 2 erster Fall VwGVG, zumal diesbezüglich nicht bloß auf die voraussichtliche Dauer des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens alleine, sondern auf die Dauer des bis zur meritorischen Entscheidung insgesamt erforderlichen Verfahrens abzustellen ist. Nur mit dieser Sichtweise kann ein dem Ausbau des Rechtsschutzes im Sinn einer Verfahrensbeschleunigung Rechnung tragendes Ergebnis erzielt werden, führt doch die mit der verwaltungsgerichtlichen Kassation einer verwaltungsbehördlichen Entscheidung verbundene Eröffnung eines neuerlichen Rechtszugs gegen die abermalige verwaltungsbehördliche Entscheidung an ein Verwaltungsgericht insgesamt zu einer Verfahrensverlängerung (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 22. Juni 2016, Ra 2016/03/0027, und vom 26. April 2016, Ro 2015/03/0038).

Im Übrigen hat der Verwaltungsgerichtshof schon festgehalten, dass für die Verwaltungsgerichte auf dem Boden des § 28 VwGVG nicht bloß eine ergänzende Sachverhaltsermittlungskompetenz besteht (vgl. erneut die hg. Erkenntnisse Ro 2014/03/0063 und Ra 2016/03/0027).

19 Auch die Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung stellt für sich genommen keinen Grund für eine Aufhebung und Zurückverweisung dar (vgl. nochmals das hg. Erkenntnis Ro 2015/03/0038). Dasselbe gilt für das Erfordernis ergänzender Einvernahmen im Rahmen einer mündlichen Verhandlung (vgl. nochmals das hg. Erkenntnis Ra 2016/03/0027, mwN).

20 Soweit das Bundesverwaltungsgericht ausführt, aufgrund der Ermittlungen werde die Fluchtgeschichte des Mitbeteiligten einer „neuerlichen Beweiswürdigung und Beurteilung zu unterziehen“ sein, ist dazu festzuhalten, dass gerade die Beweiswürdigung in Bezug auf strittige Sachverhaltselemente zu den zentralen Aufgaben der Verwaltungsgerichte selbst gehört, können sie doch auf Grund ihrer Unabhängigkeit und Unparteilichkeit in besonderer Weise zur Wahrheitsfindung beitragen. Eine Zurückverweisung aufgrund einer nicht fehlerfreien Beweiswürdigung kommt schon daher nicht in Betracht (vgl. das hg. Erkenntnis vom 14. April 2016, Ra 2015/08/0026, mwN).

21 Der Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts, allein schon wegen der seit der Beschwerdeerhebung vergangenen Zeit und der deshalb gegebenen Notwendigkeit, die Aktualität des Sachverhaltes prüfen zu müssen, sei mit einer Kassation nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG vorzugehen, steht somit die Anordnung des § 28 VwGVG entgegen, wonach eine grundsätzliche Verpflichtung zur Entscheidung in der Sache besteht, auch wenn allenfalls Ermittlungen vorgenommen werden müssen (vgl. in diesem Sinn das hg. Erkenntnis vom 26. März 2015, Ro 2015/22/0011).

22 Der angefochtene Beschluss war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 14. Dezember 2016

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