VwGH Ra 2019/14/0417

VwGHRa 2019/14/041731.3.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel, die Hofrätin Mag. Rossmeisel und den Hofrat Dr. Himberger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Schweinzer, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das am 10. April 2019 mündlich verkündete und am 2. August 2019 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes , W208 2197963-1/14E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: X in Y), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
BFA-VG 2014 §9 Abs3
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019140417.L00

 

Spruch:

Das Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang, sohin hinsichtlich der Spruchpunkte A) III. und A) IV. betreffend die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und die Erteilung eines Aufenthaltstitels, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 25. Dezember 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 4. Mai 2018 wurde der Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkte I. und II.), kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.).

3 Mit am 10. April 2019 mündlich verkündeten Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts wurde die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. gemäß §§ 3 Abs. 18 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen (Spruchpunkte A) I. und II.).

4 Hinsichtlich der Spruchpunkte III. und IV. wurde der Beschwerde stattgegeben und die Erlassung einer Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 52 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) in Verbindung mit § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) auf Dauer für unzulässig erklärt sowie dem Mitbeteiligten gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt Spruchpunkte A) III. und IV.). Die Revision wurde gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für unzulässig erklärt.

5 Das Bundesverwaltungsgericht führte unter Zugrundelegung detaillierter Feststellungen zur Person des Mitbeteiligten im Hinblick auf die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung fallbezogen aus, es sei zu Gunsten des Mitbeteiligten zu berücksichtigen, dass er während seines Aufenthaltes in Österreich in außerordentlichem Ausmaß um Integration bemüht gewesen sei: Insbesondere mit der erfolgreichen Absolvierung der Praktika im Pflegebereich, der Entscheidung sich beruflich in diesem Bereich zu engagieren, der gelungenen Aufnahme in der Pflegeschule und dem dortigen Engagement habe der Mitbeteiligte eindrucksvoll gezeigt, dass er unabhängig von seiner der Privatsphäre zuzurechnenden Religion und seiner kulturell und gesellschaftlich geprägten Stellung als muslimischer Mann andere Menschen unabhängig von deren Religion oder Parteizugehörigkeit, ihrer Nationalität, Rasse oder persönlichen Situation unter Inkaufnahme hoher körperlicher und psychischer Belastungen pflegen und damit einen wertvollen sowie dringend gebrauchten Beitrag für die österreichische Gesellschaft leisten werde. Dazu komme die Unbescholtenheit, das erfolgreiche Bemühen die deutsche Sprache zu erlernen, die Teilnahme am Gemeinde- und Kulturleben, die freiwillige Arbeit sowie weiters, dass er sich nicht auf staatliche Hilfsmaßnahmen verlassen habe und verlasse, sondern sich um eine Ausbildung erfolgreich bemüht habe. Die in Aussicht genommene Tätigkeit als Altenpfleger indiziere eine besondere Verbundenheit zu den in diesem Land lebenden Menschen und sei ein Garant - angesichts des Mangels an Pflegefachkräften - für die zukünftige Selbsterhaltungsfähigkeit des Mitbeteiligten. Fallbezogen liege bei Betrachtung der Gesamtumstände einer jener seltenen Fälle und damit eine außergewöhnliche Konstellation vor. Es sei daher auszusprechen, dass die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei und dem Mitbeteiligten gemäß § 55 Abs. 2 AsylG 2005 eine "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen.

6 Gegen die Spruchpunkte A) III. (Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung) und A) IV. (Erteilung eines Aufenthaltstitels) richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision.

7 Zur Zulässigkeit führt die Amtsrevision zusammengefasst und unter Verweis auf näher bezeichnete Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes aus, das Bundesverwaltungsgericht sei von der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, da es die Frage, ob das Privatleben in einem Zeitpunkt entstanden sei, in dem sich der Fremde des unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst gewesen sei, nicht entsprechend berücksichtigt habe. Die Integration des Mitbeteiligten sei in unverhältnismäßiger Weise in den Vordergrund gestellt worden. Das öffentliche Interesse an einem geordneten Fremdenwesen werde nur in Ausnahmefällen überwogen. Die Aufenthaltsdauer spiele eine zentrale Rolle. Auch wenn nicht von einem Automatismus bei weniger als fünf Jahren auszugehen sei, liege im Revisionsfall aber keine derart außergewöhnliche Konstellation vor. Es liege vielmehr ein typisches Privatleben vor, wie es im Rahmen einer Berufstätigkeit entstehe. Im Revisionsfall liege keine derartige Verdichtung der persönlichen Interessen des Mitbeteiligten vor, dass von außergewöhnlichen Umständen gesprochen werden könne, aufgrund derer ihm ein Verbleib nach Art. 8 EMRK ermöglicht werden müsste.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diese Entscheidung erhobene außerordentliche Revision nach Vorlage derselben sowie der Verwaltungsakten durch das Bundesverwaltungsgericht und nach Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8 Die Revision ist zulässig; sie ist auch begründet.

9 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgt und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (vgl. für viele etwa VwGH 18.12.2019, Ra 2019/14/0461, mwN). 10 Die in der vorliegenden Rechtssache durch das Bundesverwaltungsgericht in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist nur dann vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifen, wenn das Bundesverwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet hat und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. VwGH 14.1.2020, Ra 2019/01/0361; 10.4.2019, Ra 2019/18/0058; 28.2.2019, Ro 2019/01/0003).

11 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2  BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. etwa VwGH 12.12.2019, Ra 2019/14/0242, mwN).

12 Der Verwaltungsgerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt (vgl. etwa VwGH 2.12.2019, Ra 2019/14/0408 mwN).

13 Es kann jedoch auch nicht gesagt werden, dass eine in drei Jahren erlangte Integration keine außergewöhnliche, die Erteilung eines Aufenthaltstitels rechtfertigende Konstellation begründen "kann" und somit schon allein auf Grund eines Aufenthaltes von weniger als drei Jahren von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen gegenüber den privaten Interessen auszugehen wäre (vgl. wiederum VwGH 10.4.2019, Ra 2019/18/0058, mwN).

14 Die vorliegende Amtsrevision zeigt zutreffend auf, dass im gegenständlichen Fall eine derart "außergewöhnliche Konstellation" - entgegen der Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts - nicht vorliegt. Der Mitbeteiligte hält sich seit rund dreieinhalb Jahren im Bundesgebiet auf. Es wird zwar nicht verkannt, dass der unbescholtene Mitbeteiligte - wie das Bundesverwaltungsgericht ins Treffen führte - besondere Bemühungen bei der Erlangung von Deutschkenntnissen und der Erlernung des Berufes des Altenpflegers gezeigt hat, er keine Leistungen aus der Grundversorgung bezieht und auch Anstrengungen zur sozialen Integration in seiner Heimatgemeinde unternommen hat. Allerdings besteht allein dadurch noch keine derartige Verdichtung seiner persönlichen Interessen, dass bereits von "außergewöhnlichen Umständen" gesprochen werden kann und ihm schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Verbleib in Österreich ermöglicht werden müsste. 15 Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 23.1.2020, Ra 2019/18/0332, mwN).

16 Den festgestellten privaten Interessen des Mitbeteiligten steht aber das öffentliche Interesse an einem geordneten Fremdenwesen gegenüber. Dieses öffentliche Interesse wurde vom Bundesverwaltungsgericht vor dem Hintergrund der geschilderten Leitlinien der Rechtsprechung fallbezogen letztlich nicht ausreichend gewichtet (vgl. wiederum VwGH 10.4.2019, Ra 2019/18/0058; 28.2.2019, Ro 2019/01/0003).

17 Das angefochtene Erkenntnis war somit im angefochtenen Umfang in den Spruchpunkten A) III. und A) IV. gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 31. März 2020

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