VwGH Ra 2019/01/0012

VwGHRa 2019/01/001215.5.2019



Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek und die Hofräte Dr. Kleiser, Mag. Eder, Mag. Brandl sowie die Hofrätin Mag. Liebhart-Mutzl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kieslich, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. November 2018, Zl. W132 2168103-1/17E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: H S), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §2 Abs1 Z22
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34
AsylG 2005 §34 Abs2
AsylG 2005 §35
AsylG 2005 §35 Abs5
AVG §17
AVG §41 Abs1
AVG §43 Abs4
AVG §45 Abs3
AVG §58 Abs2
AVG §60
AVG §8
BFA-VG 2014 §21 Abs1
IPRG §16 Abs2
IPRG §6
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §18
VwGVG 2014 §29 Abs1
VwGVG 2014 §29 Abs4
VwRallg

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019010012.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

Vorgeschichte

1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 9. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Wesentlichen damit begründete, er habe beschlossen, selbstständig zu seiner Ehegattin und seinen Kindern nach Österreich zu kommen, nachdem er bei der österreichischen Botschaft die Familienzusammenführung beantragt und keine Antwort erhalten habe.

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 1. August 2017 ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, stellte fest, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten nach Afghanistan zulässig sei und setzte eine Frist zur freiwilligen Ausreise. 3 Begründend stellte das BFA fest, die Ehe des Mitbeteiligten mit seiner Ehegattin sei eine Zwangsehe und nicht auf freiwilliger Basis erfolgt. Die Ehegattin des Mitbeteiligten sei von der Familie des Mitbeteiligten zum Tragen einer Burka gezwungen worden und der Mitbeteiligte habe seine Ehegattin vielfach misshandelt. Deshalb habe sich die Ehegattin des Mitbeteiligten entschlossen, vor dem Mitbeteiligten in den Iran zu fliehen. Nachdem die Ehegattin selbst im Iran vor dem Mitbeteiligten nicht sicher gewesen sei und dieser (unter anderem) die Entführung der gemeinsamen Tochter veranlasst habe, sei die Ehegattin aus Angst vor weiteren Konsequenzen zum Mitbeteiligten nach Russland zurückgekehrt. Danach habe sich "an ihrer grauenvollen Situation" nichts geändert. Der Mitbeteiligte habe seine Ehegattin weiterhin geschlagen, bedroht, misshandelt bzw. schikaniert, sodass sich diese entschlossen habe, den Mitbeteiligten endgültig zu verlassen und nach Österreich zu flüchten.

4 Mit Bescheid vom 6. Juni 2012 sei der Ehegattin des Mitbeteiligten aufgrund der gravierenden Probleme mit dem Mitbeteiligten und ihrer Stellung als in Afghanistan alleinstehende Frau mit zwei Kindern ohne Familienanschluss der Status als Asylberechtigte zuerkannt worden.

5 Der Einreiseantrag des Mitbeteiligten gemäß § 35 AsylG 2005 sei von der österreichischen Botschaft abgelehnt worden. 6 Danach sei der Mitbeteiligte spätestens im November 2015 illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist. 7 Beweiswürdigend verwies das BFA zu diesen Feststellungen auf den Akteninhalt des seinerzeitigen Asylverfahrens der Ehegattin. 8 In rechtlicher Hinsicht führte das BFA im Wesentlichen aus, der primäre Grund für die Stellung des Antrags auf internationalen Schutz sei die Zusammenführung des Mitbeteiligten mit seiner Familie gewesen. Da seine Ehegattin aufgrund wohlbegründeter Furcht vor dem Mitbeteiligten in Österreich Schutz gesucht habe und ihr deshalb der Status der Asylberechtigten gewährt worden sei, sei der Einreiseantrag des Mitbeteiligten gemäß § 35 AsylG 2005 abgelehnt worden. Ein asylrelevantes Fluchtvorbringen sei vom Mitbeteiligten nicht vorgebracht worden.

9 Es liege kein schützenswertes Familienleben nach Art. 8 EMRK vor, weil die Ehegattin mit dem Mitbeteiligten zwangsverheiratet worden sei.

10 Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Beschwerde an

das Bundesverwaltungsgericht (BVwG).

Angefochtenes Erkenntnis

11 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das BVwG der Beschwerde des Mitbeteiligten statt, erkannte ihm gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 (im Familienverfahren) den Status des Asylberechtigten zu und stellte fest, dass dem Mitbeteiligten gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 die Flüchtlingseigenschaft zukomme (Spruchpunkt A). Die Revision wurde für nicht zulässig erklärt (Spruchpunkt B).

12 Begründend stellte das BVwG fest, die Ehe des Mitbeteiligten habe bereits vor der Einreise der Ehegattin nach Österreich bestanden. Diese Feststellungen gründeten sich auf das Vorbringen des Mitbeteiligten, welches im Einklang mit den Angaben seiner Ehegattin stehe.

13 Dem Mitbeteiligten sei der Status des Asylberechtigten gemäß § 34 AsylG 2005 zuzuerkennen gewesen, weil seiner Ehefrau die Flüchtlingseigenschaft zukomme, die Ehe bereits vor der Einreise bestanden habe und sich keine Hinweise darauf ergeben hätten, dass einer der in Art. 1 Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegen würde.

14 Dagegen richtet sich die vorliegende Amtsrevision der belangten Behörde.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens erwogen:

Zulässigkeit

15 Die Amtsrevision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, in der vorliegenden Rechtssache sei es in Abweichung von näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu die Rechtssicherheit beeinträchtigenden Ermittlungs- und Begründungsmängeln sowie Verfahrensfehlern gekommen. 16 Das BVwG sei auf die Frage des Vorliegens einer gültigen Ehe bzw. (umgekehrt) einer Zwangsehe nicht eingegangen und habe die entsprechenden Feststellungen im Bescheid des BFA nicht behandelt. Das BVwG hätte ermitteln müssen, ob eine Zwangsehe bzw. eine gültige Ehe vorliege und ob der Mitbeteiligte danach überhaupt ein Familienangehöriger nach § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 sei. In diesem Zusammenhang hätte das BVwG auch das ausländische Recht ermitteln müssen und zu beurteilen gehabt, ob dies der ordre public Klausel des § 6 IPRG widerspreche. 17 Zudem hätte das BVwG im Hinblick auf § 34 Abs. 6 Z 3 AsylG 2005 und das Vorliegen einer Aufenthaltsehe nach § 30 NAG ermitteln müssen, ob ein tatsächliches Familienleben nach Art. 8 EMRK vorliege. Die Aussagen der Ehegattin in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG relativierten sich, weil der Mitbeteiligte anwesend gewesen und nicht klar sei, ob die Ehegattin ihre Aussagen "frei von Druck" getätigt habe. In diesem Zusammenhang fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, ob Zeugen in besonderen Situationen (etwa als Opfer von häuslicher Gewalt oder Asylberechtigte gegenüber ihrem Verfolger) außerhalb einer Verhandlung einvernommen werden dürften (Verweis auf § 165 Abs. 3 StPO).

18 Letztlich habe sich das BVwG (im Hinblick auf die einer Zwangsheirat inhärenten Eingriffe in die sexuelle Selbstbestimmung - Verweis auf VwGH 4.3.2010, 2006/20/0832) nicht mit den Anhaltspunkten für das Vorliegen von Ausschlussgründen iSd § 6 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt F lit. b GFK auseinandergesetzt. 19 Die Revision ist zulässig und berechtigt.

Rechtslage

20 Das Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 und zwar § 2 idF

BGBl. I Nr. 56/2018 und § 34 idF BGBl. I Nr. 145/2017

(AsylG 2005), lautet auszugsweise wie folgt:

"Begriffsbestimmungen

§ 2. (1) Im Sinne dieses Bundesgesetzes ist

...

22. Familienangehöriger: wer ... Ehegatte ... eines

Asylwerbers oder eines Fremden ist, dem der Status des subsidiär

Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten zuerkannt wurde,

sofern die Ehe bei Ehegatten bereits vor der Einreise bestanden

hat, ... ;

...

Familienverfahren im Inland

§ 34. (1) Stellt ein Familienangehöriger von

1. einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten

zuerkannt worden ist;

...

einen Antrag auf internationalen Schutz, gilt dieser als

Antrag auf Gewährung desselben Schutzes.

(2) Die Behörde hat auf Grund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn

  1. 1. dieser nicht straffällig geworden ist und
  2. 3. gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten

    zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (§ 7)."

    Zwangsehe begründet keine Familienangehörigkeit nach § 34 AsylG 2005

    21 Der in § 34 AsylG 2005 verwendete Begriff des Familienangehörigen ist im Sinn der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 zu verstehen (vgl. VwGH 24.10.2018, Ra 2018/14/0040 bis 0044, mwN).

    22 Gemäß § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 ist der Ehegatte Familienangehöriger und kann sich auf die Anwendung des Familienverfahrens nach § 34 AsylG 2005 berufen, sofern die Ehe bei Ehegatten bereits vor der Einreise bestanden hat. 23 Gemäß § 16 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 15. Juni 1978 über das internationale Privatrecht (IPRG) ist die Form einer Eheschließung im Ausland nach dem Personalstatut jedes der Verlobten zu beurteilen; es genügt jedoch die Einhaltung der Formvorschriften des Ortes der Eheschließung (vgl. VwGH 14.3.2019, Ra 2018/18/0534, mwN).

    24 Gemäß § 6 IPRG ist eine Bestimmung des fremden Rechts nicht anzuwenden, wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führen würde, das mit den Grundwertungen der österreichischen Rechtsordnung unvereinbar ist. Schutzobjekt sind primär die "Grundwertungen der österreichischen Rechtsordnung" und nicht subjektive Rechtspositionen von Inländern. Zum "ordre public" zählt der "Inhalt der geschützten Grundwertungen des österreichischen Rechtes (...), also die unverzichtbaren Wertvorstellungen, die die österreichische Rechtsordnung prägen" (vgl. zu allem VwGH 14.12.2018, Ra 2018/01/0406, mwN; vgl. aus der Rechtsprechung des OGH zum "ordre public" RIS-Justiz RS0076998 bzw. jüngst OGH 29.1.2019, 2 Ob 170/18s, mwN).

    25 Nach übereinstimmender Rechtsprechung der Höchstgerichte zählt (unter anderem) das Verbot des Ehezwangs bzw. die Freiheit der Eheschließung zu den von § 6 IPRG geschützten Grundwerten (vgl. VwGH 14.3.2019, Ra 2018/18/0534, mwN; VfGH 11.10.2012, B 99/12 ua, mwN; RIS-Justiz RS 0076998, mwN).

    26 Eine Zwangsehe kann daher nicht die Eigenschaft des Ehegatten nach § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 und somit auch keine Familienangehörigkeit nach § 34 AsylG 2005 begründen. Auseinandersetzung mit dem Bescheid des BFA

    27 Gemäß § 18 VwGVG ist Partei (des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens) auch die belangte Behörde. Das verwaltungsgerichtliche Verfahren ist damit zumindest ein Zweiparteienverfahren, in dem der vor dem Verwaltungsgericht belangten Behörde, die den angefochtenen Bescheid erlassen hat, die gleichen Parteirechte (unter anderem Recht auf Akteneinsicht, Parteiengehör, Ladung zur Verhandlung, Fragerecht an die Parteien, Zeugen und Sachverständigen, Zustellung der Entscheidung) wie dem Beschwerdeführer zukommen. Es stehen sich damit der Beschwerdeführer und die belangte Behörde im verwaltungsgerichtlichen Verfahren grundsätzlich gleichberechtigt gegenüber (vgl. idS zum BFA § 21 Abs. 1 BFA-VG). Wenn das BVwG von der Entscheidung des BFA abweichen will, ist es daher gehalten, auf die beweiswürdigenden Argumente des BFA einzugehen und nachvollziehbar zu begründen, aus welchen Gründen es zu einer anderen Entscheidung kommt (vgl. zu allem VwGH 25.9.2018, Ra 2017/01/0203, mwN).

    Einzelfallbezogene Beurteilung

    28 Im vorliegenden Fall liegt dem abweisenden Bescheid des BFA zugrunde, es handle sich bei der Ehe des Mitbeteiligten und seiner Ehegattin um eine Zwangsehe. Dies stützte das BFA beweiswürdigend auf den Akteninhalt, insbesondere auf den Inhalt des Bescheides vom 6. Juni 2012, mit dem der Ehegattin des Mitbeteiligten vom Bundesasylamt der Status als Asylberechtigte zuerkannt wurde. 29 Zu Recht rügt die Amtsrevision daher, dass sich das BVwG nicht über die Frage des Vorliegens einer Zwangsehe hätte hinwegsetzen dürfen, sondern sich damit auseinanderzusetzen gehabt hätte, ob - wie vom BFA angenommen - eine Zwangsehe vorliege. Das BVwG hätte hierzu entsprechende Feststellungen treffen müssen. 30 Diesen Feststellungen kommt nach dem zu § 6 IPRG und dem Verbot des Ehezwangs Gesagten entscheidende Bedeutung zu. 31 Somit hat das BVwG sein Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet. Ergebnis:

    32 Das angefochtene Erkenntnis war daher schon aus diesem Grund wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

    33 Für das fortgesetzte Verfahren wird (im Hinblick auf Rn. 18) auf § 25 Abs. 6b VwGVG hingewiesen.

    Wien, am 15. Mai 2019

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