VwGH Ra 2018/22/0093

VwGHRa 2018/22/009324.3.2022

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, die Hofrätin Mag.a Merl, die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger sowie die Hofrätin MMag. Ginthör als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, in der Revisionssache des M C, vertreten durch Dr. Farhad Paya, Rechtsanwalt in 9020 Klagenfurt, Herrengasse 12/I, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Kärnten vom 7. März 2018, KLVwG‑56/4/2018, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Feldkirchen), den Beschluss gefasst:

Normen

AsylG 2005 §55
B-VG Art133 Abs4
MRK Art8
NAG 2005 §11 Abs3
NAG 2005 §2 Abs1 Z9
NAG 2005 §47 Abs2
VwGG §34 Abs1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2018220093.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1.1. Der am 1. November 1997 geborene Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Gambias, stellte am 5. September 2017 bei der Österreichischen Botschaft Dakar einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 Niederlassungs‑ und Aufenthaltsgesetz (NAG) zwecks Familienzusammenführung mit seiner Ehefrau, einer österreichischen Staatsbürgerin (im Folgenden: Ehefrau).

1.2. Die vor dem Verwaltungsgericht belangte Behörde (im Folgenden: Behörde) wies den Antrag mit Bescheid vom 9. November 2017 gemäß § 2 Abs. 1 Z 9 NAG ab. Sie führte dazu aus, der Revisionswerber habe zum Zeitpunkt der Antragstellung das für Ehegatten vorgesehene Mindestalter (21. Lebensjahr) noch nicht vollendet und sei daher kein Familienangehöriger im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG.

1.3. Der Revisionswerber erhob gegen den Bescheid Beschwerde mit dem Vorbringen, nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs sei in bestimmten Konstellationen der Begriff „Familienangehöriger“ von der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG abzukoppeln und komme Drittstaatsangehörigen, die nicht im Bundesgebiet aufhältig seien, ein unmittelbar aus Art. 8 EMRK ableitbarer Anspruch auf Familiennachzug zu. Vorliegend hätte die Behörde daher prüfen müssen, ob dem Revisionswerber aufgrund seiner Ehe mit einer österreichischen Staatsbürgerin und seiner Vaterschaft zu dem am 4. Oktober 2017 geborenen gemeinsamen Kind, ebenso österreichischer Staatsbürger (im Folgenden: Kind), ein aus Art. 8 EMRK ableitbarer Anspruch auf Familiennachzug zukomme. Ferner stehe nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union auch Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen entgegen, die bewirkten, dass Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands ihrer Rechte verwehrt werde, indem sie sich gezwungen sähen, das Gebiet der Union zu verlassen. Die Behörde hätte daher auch mit Blick auf Art. 20 AEUV auf die besonderen Umstände des Falls ‑ vor allem die Vaterschaft des Revisionswerbers zu seinem Kind ‑ Bedacht nehmen müssen.

2.1. Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Landesverwaltungsgericht Kärnten (im Folgenden: Verwaltungsgericht) die Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab.

2.2. Das Verwaltungsgericht stellte fest, der Revisionswerber habe nach illegaler Einreise im Dezember 2014 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, der mit Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 9. Februar 2016 hinsichtlich der Zuerkennung sowohl des Status eines Asylberechtigten als auch des Status eines subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen worden sei; weiters seien ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen, die Zulässigkeit der Abschiebung festgestellt und eine 14‑tägige Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt worden. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde sei mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Jänner 2017 als unbegründet abgewiesen worden.

Im Oktober 2016 habe der ‑ damals in der Grundversorgung befindliche ‑ Revisionswerber seine spätere Ehefrau kennengelernt, wobei diese im Jänner 2017 von ihm schwanger geworden sei. Die Ehefrau habe vom Asylverfahren und von den in jenem Verfahren ergangenen Entscheidungen Kenntnis gehabt. Im Zeitraum von Oktober 2016 bis zu seiner Abschiebung am 16. Juli 2017 (nach der Aktenlage am 16. Juni 2017) habe sich der Revisionswerber teilweise auch bei seiner Ehefrau (in deren Wohnung) aufgehalten. Nach seiner Abschiebung sei die Ehefrau sodann nach Gambia geflogen, wo sie den Revisionswerber am 18. Juli 2017 geheiratet und sich ungefähr 20 Tage lang aufgehalten habe. Am 4. Oktober 2017 sei schließlich das gemeinsame Kind in Österreich geboren worden. Die Ehefrau habe drei weitere Kinder, von denen noch eine Tochter minderjährig sei und in ihrem Haushalt lebe. Sie wohne (mit den minderjährigen Kindern) in einer knapp 72 m² großen Mietwohnung und beziehe derzeit Kinderbetreuungsgeld. Der Revisionswerber lebe mit seiner Mutter und seinen Geschwistern im Heimatstaat.

2.3. Rechtlich folgerte das Verwaltungsgericht, der Revisionswerber habe unstrittig zum Zeitpunkt der Antragstellung und bis dato das 21. Lebensjahr nicht vollendet, sodass er nicht als Familienangehöriger gemäß § 2 Abs. 1 Z 9 NAG anzusehen sei. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs sei zwar in bestimmten Konstellationen zur Erzielung eines der EMRK entsprechenden Ergebnisses der Begriff „Familienangehöriger“ von der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG abzukoppeln und von einem aus Art. 8 EMRK ableitbaren Anspruch auf Familiennachzug auszugehen. Ein solcher Fall liege hier jedoch nicht vor. Der Revisionswerber habe mit seiner Ehefrau kein Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK geführt, woran auch nichts ändere, dass er sich während seiner Unterkunft in einem „Asylantenheim“ teilweise bzw. sporadisch bei seiner Ehefrau aufgehalten habe und diese anlässlich der Eheschließung 20 Tage lang in Gambia gewesen sei. Allein durch die Zeugung des Kindes und die formale Eheschließung werde kein Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK begründet. Dem Revisionswerber und seiner Ehefrau sei auch der unsichere Aufenthaltsstatus des Revisionswerbers bekannt gewesen. Ein aus Art. 8 EMRK ableitbarer Anspruch auf Familiennachzug stehe ebenso mit Blick auf das Kindeswohl nicht zu. Dass das Kind nicht durchgehend die Möglichkeit habe, seinen Vater bei sich zu haben, hätten sich der Revisionswerber und seine Ehefrau mit Blick auf den unsicheren Aufenthaltsstatus des Revisionswerbers selbst zuzuschreiben. Im Übrigen bestehe die Möglichkeit gegenseitiger Besuche. Die Nichterteilung des Aufenthaltstitels begründe auch keine Beeinträchtigung des Kernbestands der Unionsbürgerrechte der Ehefrau und des Kindes. Es sei nicht vorgebracht worden und gehe aus den Akten nicht hervor, dass die Ehefrau bei Nichterteilung des Aufenthaltstitels de facto gezwungen wäre, Österreich und das Unionsgebiet zu verlassen. Die bloße Tatsache, dass es für einen Unionsbürger aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft wünschenswert erscheinen könnte, dass drittstaatsangehörige Familienangehörige sich mit ihm zusammen im Unionsgebiet aufhalten könnten, rechtfertige für sich genommen nicht die Annahme, dass der Unionsbürger deshalb zum Verlassen des Unionsgebiets gezwungen wäre, wenn dem Angehörigen kein Aufenthaltstitel erteilt werde.

2.4. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass die ordentliche Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

3. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die außerordentliche Revision, in deren Zulässigkeitsbegründung ein Abweichen von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs in den im Folgenden näher erörterten Punkten behauptet wird.

4. Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichts die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung nicht einheitlich beantwortet wird.

Gemäß § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

Gemäß § 34 Abs. 1a VwGG ist die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

5.1. Der Revisionswerber macht zur Zulässigkeit der Revision einerseits geltend, das Verwaltungsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass keine besondere Konstellation vorliege, in der der Begriff „Familienangehöriger“ von der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG abzukoppeln sei und kein aus Art. 8 EMRK ableitbarer Anspruch auf Familiennachzug bestehe. Das Verwaltungsgericht habe insbesondere außer Acht gelassen, dass zwischen dem Revisionswerber und seiner Ehefrau über das formale Band der Ehe hinaus tatsächlich ein schützenswertes Familienleben bestehe sowie dass auch das Wohl des Kindes regelmäßige Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen erfordere.

5.2. Familienangehörige im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG sind ‑ unter anderem ‑ Ehegatten, die das 21. Lebensjahr zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits vollendet haben.

Vorliegend hatte der Revisionswerber zum Zeitpunkt der Antragstellung (und auch der angefochtenen Entscheidung) das 21. Lebensjahr unstrittig noch nicht vollendet. Es kommt ihm daher nicht die Eigenschaft als „Familienangehöriger“ im Sinn der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG zu. Er erfüllt folglich nicht die diesbezügliche besondere Erteilungsvoraussetzung des § 47 Abs. 2 NAG (vgl. VwGH 26.6.2012, 2012/22/0081).

5.3. Wie der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung vertritt, ist grundsätzlich bei Fehlen einer besonderen Erteilungsvoraussetzung eine Abwägung nach Art. 8 EMRK nicht vorzunehmen, jedoch ist in bestimmten Konstellationen zur Erzielung eines der EMRK gemäßen Ergebnisses der Begriff „Familienangehöriger“ von der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG abzukoppeln. Besteht wegen einer solchen besonderen Konstellation ein aus Art. 8 EMRK ableitbarer Anspruch auf Familiennachzug, so ist aus verfassungsrechtlichen Gründen auch der betreffende ‑ sofern nicht bereits im Inland aufhältige (vgl. VwGH 11.2.2016, Ra 2015/22/0145) ‑ Angehörige als Familienangehöriger erfasst und hat demnach einen Anspruch auf Familiennachzug (vgl. grundlegend VwGH 17.11.2011, 2010/21/0494; siehe auch VwGH 9.8.2018, Ra 2017/22/0071, Pkt. 3.3.).

5.4. In der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs wurde vom Vorliegen besonderer Konstellationen, in denen ein aus Art. 8 EMRK ableitbarer Anspruch auf Familiennachzug anzunehmen ist, beispielsweise in folgenden Fällen ausgegangen: Im Fall des Familiennachzugs einer geistig stark behinderten ‑ nur die Fähigkeiten eines siebenjährigen Kindes aufweisenden ‑ Erwachsenen zu ihren in Österreich aufhältigen Eltern und sonstigen Verwandten zur Sicherstellung der erforderlichen familiären Betreuung (vgl. neuerlich VwGH 2010/21/0494, auch mit Hinweis auf EGMR 21.12.2001, Sen, 31465/96, betreffend den Familiennachzug einer neunjährigen Tochter zu ihren langjährig in den Niederlanden aufhältigen Eltern und den dort geborenen und verwurzelten jüngeren Geschwistern); im Fall des Familiennachzugs einer erwachsenen Verwandten als Betreuungsperson zu einem in Österreich aufhältigen ‑ an einer schweren Herzerkrankung leidenden und allenfalls weitere Behandlungen benötigenden ‑ achtjährigen Kind (vgl. VwGH 20.1.2011, 2009/22/0122); im Fall des Familiennachzugs einer kürzlich volljährig gewordenen Tochter zu ihrem in Österreich aufhältigen ‑ sie bereits bisher umfassend unterstützenden und regelmäßig besuchenden ‑ Vater bei gleichzeitigem Bestehen einer besonders starken Einbindung in den Familienverband mit sehr engen Beziehungen auch zu weiteren Familienmitgliedern (vgl. VwGH 25.4.2019, Ra 2018/22/0177, Rn. 3, 10).

Mit Blick auf die soeben erörterten Fälle kann somit von besonderen Konstellationen im Sinn der obigen Ausführungen nur bei Vorliegen ganz besonderer Umstände ‑ wie vor allem bei Bestehen eines besonderen familiären Betreuungsbedarfs schutzwürdiger Personen oder bei Bestehen sehr starker familiärer Bindungen bzw. sehr enger familiärer Beziehungen zu im Aufnahmestaat verfestigt aufhältigen Personen ‑ ausgegangen werden. Bei Vorliegen solcher besonderen Verhältnisse ist daher ausnahmsweise die Erteilung eines Aufenthaltstitels zur Vermeidung eines nach Art. 8 EMRK unzulässigen Eingriffs in das Privat‑ und Familienleben geboten (vgl. auch VwGH 15.12.2015, Ra 2015/22/0125).

5.5. Im hier zu beurteilenden Fall legte der Revisionswerber allerdings nicht näher dar, inwieweit es unvertretbar gewesen sei, das Vorliegen einer besonderen Konstellation, in der ausnahmsweise trotz fehlender Eigenschaft als Familienangehöriger im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG ein Anspruch auf Familiennachzug aus Art. 8 EMRK abzuleiten wäre, zu verneinen.

Nach dem vom Verwaltungsgericht festgestellten Sachverhalt unterhielt der Revisionswerber bis zu seiner Abschiebung eine ungefähr neunmonatige Beziehung mit seiner späteren Ehefrau, indem er sich bei dieser teilweise bzw. sporadisch aufhielt und sie im Jänner 2017 schwanger wurde. Kurz nach seiner Abschiebung schloss er am 18. Juli 2017 im Heimatstaat die Ehe mit seiner Ehefrau, wobei sich diese für knapp drei Wochen bei ihm aufhielt. Im Oktober 2017 wurde schließlich das Kind in Österreich geboren, das seitdem bei der Ehefrau im Bundesgebiet lebt und offenkundig von dieser betreut und versorgt wird.

Ausgehend von diesem Sachverhalt war ‑ was zunächst die Ehefrau betrifft ‑ die Annahme nicht unvertretbar, dass der Familiennachzug des Revisionswerbers nicht wegen Vorliegen ganz besonderer Umstände im Sinn der obigen Ausführungen erforderlich wäre. Aus der festgestellten Art und Weise des bisherigen Zusammenlebens mit der Ehefrau ‑ nämlich einer neunmonatigen eher lose gestalteten vorehelichen Beziehung und einer knapp dreiwöchigen Begegnung im Zuge der Eheschließung im Heimatstaat ‑ kann jedenfalls nicht auf ein besonders schutzwürdiges Familienleben des Revisionswerbers geschlossen werden. Der von ihm geforderte persönliche Kontakt mit der Ehefrau kann fallbezogen durchaus im Rahmen wiederholter gegenseitiger Besuche gewährleistet werden, regelmäßige Kontakte sind auch mittels moderner Kommunikationsmittel möglich. Vor allem aber ist die dem Revisionswerber auferlegte Trennung von seiner Ehefrau unter dem hier zur Debatte stehenden Gesichtspunkt auf eine verhältnismäßig kurze Zeitdauer beschränkt, weist er doch bereits seit der Vollendung des 21. Lebensjahrs (am 1. November 2018) die Eigenschaft als Familienangehöriger auf, sodass ihm wegen Fehlen allein der diesbezüglichen besonderen Erteilungsvoraussetzung ein Aufenthaltstitel gemäß § 47 Abs. 2 NAG nicht mehr versagt werden kann.

Was das Kind anbelangt, so ergibt sich im Ergebnis Ähnliches: Nach dem festgestellten Sachverhalt lebt das Kind seit der Geburt im Oktober 2017 bei der Ehefrau des Revisionswerbers (Kindesmutter) im Bundesgebiet und wird offenkundig von dieser allein betreut und versorgt; ein Zusammenleben des Revisionswerbers mit dem ‑ erst nach seiner Abschiebung in Österreich geborenen ‑ Kind hat bisher überhaupt nicht stattgefunden. Wie der Revisionswerber zutreffend aufzeigt, erfordert zwar das Kindeswohl grundsätzlich einen hinreichenden Kontakt zu beiden Elternteilen, der im Fall eines Kleinkindes nicht (bloß) mittels moderner Kommunikationsmittel gewährleistet werden kann. Allerdings ist auch in dem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die dem Revisionswerber im Grunde des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG auferlegte Trennung von seinem Kind auf eine verhältnismäßig kurze Zeitdauer begrenzt ist.

5.6. Nach dem Gesagten hat das Verwaltungsgericht somit das Vorliegen einer besonderen Fallkonstellation, in der aus verfassungsrechtlichen Gründen ausnahmsweise ein aus Art. 8 EMRK ableitbarer Anspruch auf Familiennachzug trotz Fehlen der besonderen Erteilungsvoraussetzung gemäß § 2 Abs. 1 Z 9 iVm § 47 Abs. 2 NAG zukommen könnte, nicht unvertretbar verneint.

6.1. Der Revisionswerber macht zur Zulässigkeit der Revision andererseits geltend, das Verwaltungsgericht habe keine hinreichende Prüfung mit Blick auf Art. 20 AEUV und die diesbezügliche Rechtsprechung durchgeführt. Es habe sich auf eine formelhafte Begründung beschränkt und mit den Umständen nicht entsprechend auseinandergesetzt. Es habe sich nur auf die Ehefrau bezogen und vertreten, diese wäre bei Versagung des Aufenthaltstitels de facto nicht zum Verlassen der Union gezwungen. Indes habe es auf das Kind nicht Bedacht genommen, obwohl dieses der Pflege und Fürsorge beider Elternteile bedürfe.

6.2. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und auch der (sich darauf beziehenden) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs steht Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen entgegen, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen dieser Status verleiht, verwehrt wird. Das Kriterium der Verwehrung des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, bezieht sich dabei auf Sachverhalte, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sich ein Unionsbürger de facto gezwungen sieht, nicht nur das Gebiet des Mitgliedstaats, dem er angehört, sondern das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen (vgl. EuGH 15.11.2011, Dereci u.a., C‑256/11, Rn. 64, 66; VwGH 19.1.2012, 2011/22/0309; 26.6.2013, 2012/22/0250; u.a.).

6.3. Vorliegend brachte der Revisionswerber freilich nicht vor und ist auch nicht zu sehen, dass seiner Ehefrau und dem Kind, die beide österreichische Staatsbürger und damit Unionsbürger sind, der tatsächliche Genuss des Kernbestands ihrer Rechte aus dem Unionsbürgerstatus verwehrt würde und sie de facto zum Verlassen des Unionsgebiets gezwungen wären, wenn dem Revisionswerber der beantragte Aufenthaltstitel versagt würde. Nach dem festgestellten Sachverhalt lebt die Ehefrau zusammen mit dem offenkundig von ihr allein betreuten und versorgten Kind sowie einer Tochter in geordneten Verhältnissen (mit ortsüblicher Unterkunft und eigenem Einkommen) im Bundesgebiet. Warum sie sich bei dieser Sachlage gezwungen sehen sollte, gemeinsam mit den Kindern die Union zu verlassen, wird nicht im Ansatz vorgebracht und ist auch nicht ersichtlich.

6.4. Wie bereits das Verwaltungsgericht zutreffend hervorgehoben hat, rechtfertigt allein die Tatsache, dass es für einen Staatsbürger eines Mitgliedstaats aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Unionsgebiet wünschenswert erscheinen könnte, dass Familienangehörige, die nicht die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats besitzen, sich mit ihm zusammen im Unionsgebiet aufhalten können, für sich genommen nicht die Annahme, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, wenn dem Familienangehörigen ein Aufenthaltsrecht versagt würde (vgl. neuerlich EuGH Dereci u.a., C‑256/11, Rn. 68; VwGH 2011/22/0309).

6.5. Nach dem Vorgesagten hat daher das Verwaltungsgericht auch im Hinblick auf die geltend gemachten unionsrechtlichen Gründe einen Anspruch des Revisionswerbers auf Familiennachzug nicht unvertretbar verneint.

7. Insgesamt wird daher in der maßgeblichen Zulässigkeitsbegründung (vgl. etwa VwGH 13.11.2018, Ra 2017/22/0130, Pkt. 7.) keine Rechtsfrage aufgeworfen, der nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war deshalb ‑ in einem gemäß § 12 Abs. 2 VwGG gebildeten Senat ‑ zurückzuweisen.

Wien, am 24. März 2022

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte