VwGH 2011/22/0309

VwGH2011/22/030919.1.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsident Dr. Sulyok und die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder sowie die Hofrätinnen Mag. Merl und Dr. Julcher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Zöchling, über die Beschwerde des IM in W, vertreten durch Mag. Robert Bitsche, Rechtsanwalt in 1050 Wien, Nikolsdorfergasse 7-11/2, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 11. Mai 2007, Zl. 148.899/2- III/4/07, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

12010E020 AEUV Art20
62011CJ0256 Dereci VORAB

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2012:2011220309.X00

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Einleitend ist anzumerken, dass der Verwaltungsgerichtshof den hier gegenständlichen Fall dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuche ns unterbreitet hat.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesem Vorabentscheidungsersuchen vom 5. Mai 2011, EU 2011/0004 bis 0008, zu dem hier relevanten Sachverhalt und dem Gang des Verwaltungsverfahrens Folgendes ausgeführt:

"Herr M(...), ein nigerianischer Staatsangehöriger, stellte unmittelbar nach seiner unrechtmäßigen Einreise in Österreich am 27. Oktober 2003 einen Asylantrag. Dabei nannte er einen falschen Namen und gab an, aus der Republik Kongo zu stammen. Seinem Asylbegehren wurde keine Folge gegeben. Gleichzeitig mit der Ablehnung seines Asylbegehrens wurde Herr M(...) aus Österreich ausgewiesen. Diese Entscheidungen erwuchsen am 12. Dezember 2005 in Rechtskraft. Im September 2005 hatte Herr M(...) erstmals gegenüber österreichischen Behörden seine wahre Identität bekannt gegeben.

Am 14. Oktober 2005 heiratete Herr M(...) in Wien eine österreichische Staatsbürgerin. Gestützt darauf beantragte er am 13. Dezember 2005, ihm zwecks der Fortführung der Familiengemeinschaft mit einer österreichischen Staatsbürgerin einen Aufenthaltstitel zu erteilen. Er brachte unter anderem vor, seine Ehefrau sei bei einer Supermarktkette beschäftigt. Er selbst bringe ebenfalls etwas ins Verdienen, indem er tageweise als Taglöhner bei der städtischen Straßenreinigung arbeite. Es sei nicht gerechtfertigt, ihn deswegen unterschiedlich zu behandeln, weil seine Ehefrau das ihr unionsrechtlich zustehende Recht auf Freizügigkeit nicht in Anspruch genommen habe.

Dem Antrag des Herrn M(...) wurde von der belangten Behörde nicht stattgegeben. Zur Begründung verwies sie einerseits darauf, dass - wie in den oben geschilderten Verfahren - Herr M(...) unrechtmäßig in Österreich aufhältig und nach den innerstaatlichen Vorschriften nicht berechtigt gewesen sei, die Erledigung seines Antrages in Österreich abzuwarten. Es liege kein 'grenzüberschreitender Sachverhalt' vor, so dass Herrn M(...) keine ihn unionsrechtlich begünstigende Stellung zukomme. Es sei andererseits aber auch hervorgekommen, dass Herr M(...) einen Asylantrag unter Angabe einer falschen Identität gestellt und österreichische Behörden zu täuschen versucht habe, um so einer allfälligen Außerlandesschaffung zu entgehen. Dies stelle einen schwerwiegenden Verstoß gegen jene Normen dar, die eine geordnete Zuwanderung und eine geordnete Asylgewährung verfolgen. Die Missachtung dieser Normen durch Herrn M(...) führe zu einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung, was der Erteilung eines Aufenthaltstitels ebenfalls entgegenstehe. Abschließend legte die belangte Behörde noch dar, dass auch sonst die Erteilung eines Aufenthaltstitels nicht geboten sei. Dabei stellte sie darauf ab, dass allein die Ehe mit einem österreichischen Staatsbürger dafür noch nicht hinreichend sei, das Verhalten des Herrn M(...) eine Umgehung österreichischer Einwanderungsbestimmungen darstelle und sein Aufenthaltsstatus immer als unsicher anzusehen gewesen sei, weil er bloß auf Grund seines Asylantrages ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht während des Asylverfahrens gehabt habe."

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegenständliche Beschwerde nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde, einem an den EuGH gerichteten Ersuchen um Vorabentscheidung sowie nach Ergehen des diesbezüglichen Urteils des EuGH vom 15. November 2011, C- 256/11 , erwogen:

Der EuGH hat die an ihn gerichtete - hier relevante - Frage des Verwaltungsgerichtshofes wie folgt beantwortet:

"1. Das Unionsrecht und insbesondere dessen Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft sind dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat nicht verwehren, einem Drittstaatsangehörigen den Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet zu verweigern, wenn dieser Drittstaatsangehörige dort zusammen mit einem Familienangehörigen wohnen möchte, der Unionsbürger ist, sich in diesem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufhält und nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, sofern eine solche Weigerung nicht dazu führt, dass dem betreffenden Unionsbürger der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird; dies zu prüfen, ist Sache des vorlegenden Gerichts."

Unter Bedachtnahme auf dieses Urteil des EuGH erweist sich der angefochtene Bescheid mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes behaftet.

Die belangte Behörde hätte nämlich bei ihrer Entscheidung diese - vom EuGH nunmehr klargestellte - Rechtslage zu beachten und Feststellungen dahingehend zu treffen gehabt, die eine Beurteilung ermöglicht hätten, ob eine Weigerung, dem Beschwerdeführer einen Aufenthaltstitel in Österreich zu erteilen, dazu führen würde, dass seiner die österreichische Staatsbürgerschaft besitzenden Ehefrau der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird (vgl. das hg. Erkenntnis vom 21. Dezember 2011, 2009/22/0054). Dieses Kriterium der Verwehrung des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, bezieht sich dem genannten Urteil des EuGH zufolge auf Sachverhalte, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sich der Unionsbürger de facto gezwungen sieht, nicht nur das Gebiet des Mitgliedstaates, dem er angehört, zu verlassen, sondern das Gebiet der Union als Ganzes (Randnr. 66 des Urteiles). Die bloße Tatsache, dass es für einen Staatsbürger eines Mitgliedstaates aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Gebiet der Union wünschenswert erscheinen könnte, dass Familienangehörige, die nicht die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats besitzen, sich mit ihm zusammen im Gebiet der Union aufhalten können, rechtfertigt für sich genommen allerdings nicht die Annahme, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, wenn dem Familienangehörigen kein Aufenthaltsrecht gewährt würde (Randnr. 68 des EuGH-Urteiles).

Da der Schutz der Rechte aus dem Unionsbürgerstatus mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 EMRK nicht gleichzusetzen ist, sondern eine andere Zielrichtung aufweist und daher bisher nicht Gegenstand des behördlichen Verfahrens war, wird die belangte Behörde im fortzusetzenden Verfahren dem Beschwerdeführer Gelegenheit zu geben haben, dazu relevante Umstände vorzubringen, sowie Feststellungen zu treffen haben, die eine Beurteilung im oben angeführten Sinn ermöglichen.

Da die belangte Behörde die oben dargestellte Rechtslage verkannt und infolge dessen wesentliche Feststellungen nicht getroffen hat, war der angefochtene Bescheid schon deswegen wegen - vorrangig wahrzunehmender - Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 19. Jänner 2012

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte