Normen
AsylG 2005 §55;
MRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §2 Abs1 Z9;
NAG 2005 §21 Abs3;
NAG 2005 §46 Abs1 Z2;
VwGG §42 Abs2 Z1;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2016:RA2015220145.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
Die Mitbeteiligte, eine russische Staatsangehörige, reiste mit einem Visum C nach Österreich ein und stellte am 14. August 2014 persönlich beim Landeshauptmann von Wien einen Antrag auf Erteilung einer "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" unter Berufung auf ihre nach muslimischem Recht am 4. August 2014 erfolgte Heirat mit einem russischen Staatsangehörigen, dem in Österreich der Status eines Asylberechtigten zukommt.
Die Behörde teilte der Mitbeteiligten mit Schreiben vom 20. August 2014 unter Hinweis auf die Möglichkeit der Stellung eines Zusatzantrages gemäß § 21 Abs. 3 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) mit, dass sie nicht zur Inlandsantragstellung berechtigt sei, lediglich religiös und nicht standesamtlich verheiratet sei und das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet habe, weshalb ihr Antrag "nicht positiv entschieden werden" könne.
Mit Schreiben vom 15. September 2014 beantragte die Mitbeteiligte die Zulassung der Inlandsantragstellung und übermittelte der Behörde eine Heiratsurkunde über die standesamtliche Eheschließung am 15. September 2014.
Mit Bescheid vom 2. Oktober 2014 wurde der Antrag vom 14. August 2014 gemäß § 2 Abs. 1 Z 9 NAG mit der Begründung abgewiesen, dass die Mitbeteiligte das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet habe.
In der dagegen erhobenen Beschwerde brachte die Mitbeteiligte vor, sie habe am 5. Oktober 2014 ein Kind geboren, dem der Status eines Asylberechtigten zuerkannt worden sei. Die Tatsache, dass sie mit einem in Österreich lebenden Konventionsflüchtling verheiratet sei und mit diesem ein gemeinsames Kind habe, sei unberücksichtigt geblieben. Ausgehend von ihrer familiären Situation und ihrem Lebensmittelpunkt in Wien sowie der Tatsache, dass es ihrem Kind und ihrem Gatten unmöglich sei, nach Russland zu reisen, wäre eine Rückkehr der Mitbeteiligten in ihr Heimatland zur Antragstellung unmöglich.
Das Verwaltungsgericht gab der Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung Folge, behob den Bescheid und erteilte der Mitbeteiligten einen Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" für die Dauer von zwölf Monaten. Die ordentliche Revision wurde gemäß § 25a VwGG für unzulässig erklärt.
Begründend führte das Verwaltungsgericht aus, dass die Mitbeteiligte, die zum Zeitpunkt der Antragstellung erst im
19. Lebensjahr gewesen sei, ihr erst zehn Monate altes Kleinkind zur Verhandlung mitgebracht und sich dabei ein sehr inniges Verhältnis zwischen Mutter und Kind gezeigt hätte. Nach "gewissem Zögern" habe die Mitbeteiligte darauf hingewiesen, dass die Gefahr bestünde, dass für den Fall der Verweigerung eines Aufenthaltstitels das Kind auf Dauer bei der Familie ihres Mannes (des Vaters) bleiben müsste. Die anwesende Dolmetscherin habe "(außerhalb des Protokolls) nach ihrem Wissenstand" bestätigt, dass "dies bei tschetschenischen Familien durchaus üblich sei". Nach der Aktenlage sei das Wohnbedürfnis der Familie der Mitbeteiligten gedeckt. Sowohl die Mitbeteiligte als auch ihr Kleinkind seien sehr gut gekleidet gewesen. Das sei - gemäß der Begründung des Verwaltungsgerichtes - ein deutlicher Hinweis darauf, dass aufgrund des Einkommens des Ehemannes der Lebensbedarf der Familie gedeckt sein müsste. Das Verwaltungsgericht gelange zu der Ansicht, dass die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens der Mitbeteiligten als Ehefrau eines Mannes, der - wie auch das gemeinsame Kind - über einen Aufenthaltstitel in Österreich verfüge, im Sinn des Art. 8 EMRK geboten sei.
Gegen dieses Erkenntnis erhob der Landeshauptmann von Wien die vorliegende außerordentliche Revision. Die Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung.
Der Revisionswerber begründet die Zulässigkeit der außerordentlichen Revision damit, dass das Verwaltungsgericht in Verkennung der Rechtslage dem Antrag der Mitbeteiligten stattgegeben und den Aufenthaltstitel erteilt habe, obwohl die Voraussetzungen des § 46 Abs. 1 Z 2 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 9 NAG nicht vorgelegen seien. In seiner Entscheidung habe das Verwaltungsgericht die Erteilung des Aufenthaltstitels mit dem Umstand begründet, dass dies im Sinn des Art. 8 EMRK geboten sei. Damit habe das Verwaltungsgericht eine "Abkoppelung" des Begriffes "Familienangehöriger" von der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG vorgenommen, obwohl die diesbezüglichen, durch die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes vorgegebenen, Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Da sich die Mitbeteiligte im Bundesgebiet aufhalte, könne sie gestützt auf Art. 8 EMRK einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl stellen, sodass die Möglichkeit des Familiennachzuges gewahrt bleiben würde. Der Begriff des "Familienangehörigen" sei nämlich dann nicht von der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG abzukoppeln, wenn sich der Antragsteller in Österreich aufhalte (mit Hinweis auf die Erkenntnisse vom 19. Februar 2014, 2013/22/0049, und vom 20. August 2013, 2013/22/0176). Es sei anzumerken, dass sich die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur "vorgezogenen" Prüfung im Sinn des Art. 8 EMRK nur auf ganz besonders gelagerte Fälle des Familiennachzuges beziehe (Hinweis auf die Erkenntnisse vom 17. November 2011, 2010/21/0494, und vom 13. November 2012, 2011/22/0074). Der Verwaltungsgerichtshof räume in einer "jüngsten Revisionsentscheidung" selbst ein, dass es Konstellationen geben könne, in denen ein solcher, direkt aus Art. 8 EMRK ableitbarer Anspruch auf Familiennachzug ausnahmsweise bestehe. Er lasse aber zugleich einfließen, dass "es sich aber um sehr wenige Konstellationen handeln dürfte" (Hinweis auf das Erkenntnis vom 30. Juli 2015, Ro 2014/22/0028). Im vorliegenden Fall liege eine solche Ausnahmekonstellation nicht vor, zumal die Mitbeteiligte ohnehin im Inland aufhältig sei und daher in Entsprechung ihres Aufenthaltszweckes "einen anderen" Aufenthaltstitel bei der zuständigen Behörde beantragen könne.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Die Revision erweist sich als zulässig und auch berechtigt. § 2, § 11, § 21 und § 46 NAG lauten auszugsweise:
"§ 2. (1) Im Sinne dieses Bundesgesetzes ist
...
9. Familienangehöriger: wer Ehegatte oder minderjähriges lediges Kind, einschließlich Adoptiv- oder Stiefkind, ist (Kernfamilie); dies gilt weiters auch für eingetragene Partner; Ehegatten und eingetragene Partner müssen das 21. Lebensjahr zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits vollendet haben; lebt im Fall einer Mehrfachehe bereits ein Ehegatte gemeinsam mit dem Zusammenführenden im Bundesgebiet, so sind die weiteren Ehegatten keine anspruchsberechtigten Familienangehörigen zur Erlangung eines Aufenthaltstitels;
..."
"§ 11. ...
(3) Ein Aufenthaltstitel kann trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses gemäß Abs. 1 Z 3, 5 oder 6 sowie trotz Ermangelung einer Voraussetzung gemäß Abs. 2 Z 1 bis 6 erteilt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, geboten ist.
..."
"§ 21. (1) Erstanträge sind vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einzubringen. Die Entscheidung ist im Ausland abzuwarten.
...
(3) Abweichend von Abs. 1 kann die Behörde auf begründeten Antrag die Antragstellung im Inland zulassen, wenn kein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 vorliegt und die Ausreise des Fremden aus dem Bundesgebiet zum Zweck der Antragstellung nachweislich nicht möglich oder nicht zumutbar ist:
1. im Fall eines unbegleiteten Minderjährigen (§ 2 Abs. 1 Z 17) zur Wahrung des Kindeswohls oder
2. zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK (§ 11 Abs. 3).
Die Stellung eines solchen Antrages ist nur bis zur Erlassung des Bescheides zulässig. Über diesen Umstand ist der Fremde zu belehren.
..."
"§ 46. (1) Familienangehörigen von Drittstaatsangehörigen ist ein Aufenthaltstitel 'Rot-Weiß-Rot - Karte plus' zu erteilen, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen, und
...
2. ein Quotenplatz vorhanden ist und der Zusammenführende
- a) einen Aufenthaltstitel 'Daueraufenthalt - EU' innehat,
- b) einen Aufenthaltstitel 'Rot-Weiß-Rot - Karte plus', ausgenommen einen solchen gemäß § 41a Abs. 1 oder 4 innehat, oder
c) Asylberechtigter ist und § 34 Abs. 2 AsylG 2005 nicht gilt.
..."
Im vorliegenden Fall hatte die Revisionswerberin zum Zeitpunkt der Antragstellung das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet. Die Revisionswerberin ist daher nicht als "Familienangehörige" im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG anzusehen und es liegt eine besondere Erteilungsvoraussetzung für die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels nach § 46 Abs. 1 Z 2 leg. cit. nicht vor.
Mit Erkenntnis vom 20. August 2013, 2013/22/0176, auf dessen Entscheidungsgründe insoweit gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird, hat der Verwaltungsgerichtshof ausgesprochen, dass grundsätzlich bei Fehlen einer besonderen Erteilungsvoraussetzung eine Abwägung nach Art. 8 EMRK nicht vorzunehmen ist. Weiters führte der Verwaltungsgerichtshof im zitierten Erkenntnis aus, dass in bestimmten Konstellationen zur Erzielung eines der EMRK gemäßen Ergebnisses der Begriff "Familienangehöriger" von der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG 2005 abzukoppeln ist. Besteht ein aus Art. 8 EMRK ableitbarer Anspruch auf Familiennachzug, so ist demnach als "Familienangehöriger" aus verfassungsrechtlichen Gründen auch jener - nicht im Bundesgebiet aufhältige - Angehörige erfasst, dem ein derartiger Anspruch zukommt (Hinweis auf das Erkenntnis vom 13. November 2012, 2011/22/0074).
Eine solche Konstellation liegt jedoch im vorliegenden Fall, in dem sich die mitbeteiligte Drittstaatsangehörige im Bundesgebiet aufhält, nicht vor. Ihr ist nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 2005 zur Durchsetzung ihrer aus Art. 8 EMRK resultierenden Ansprüche gesetzlich die Möglichkeit eingeräumt, gerade darauf gestützt die Erteilung eines Aufenthaltstitels zu beantragen (vgl. das angeführte Erkenntnis vom 20. August 2013, das im Zusammenhang mit § 41a Abs. 9 und § 43 Abs. 3 NAG in der bis zum 31. Dezember 2013 geltenden Rechtslage ergangen ist). Gemäß § 55 Asylgesetz 2005 hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen einen humanitären Aufenthaltstitel zu erteilen, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten ist. Das (unbegründet gebliebene) Vorbringen der Mitbeteiligten in der Revisionsbeantwortung, wonach dadurch "kein gleicher Schutz wie er in § 41a Abs. 9 und § 43 Abs. 3 NAG vorgesehen" gewesen sei, ist - im Hinblick auf die nunmehr geltende Rechtslage - nicht relevant.
Somit ist es aber auch mit Blick auf Art. 8 EMRK fallbezogen nicht geboten, vom in § 2 Abs. 1 Z 9 NAG festgelegten Begriff des "Familienangehörigen" abzuweichen.
Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Bei diesem Ergebnis kommt ein Kostenzuspruch an die Mitbeteiligte nicht in Betracht.
Wien, am 11. Februar 2016
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