Normen
VwGG §46 Abs1;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018150023.L00
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass er lautet:
Dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionsfrist wird stattgegeben.
Die Landeshauptstadt Bregenz hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Erkenntnis vom 29. November 2017 gab das Verwaltungsgericht der Beschwerde des Revisionswerbers gegen den Bescheid des Bürgermeisters der Stadt Bregenz vom 8. April 2015 betreffend Kriegsopferabgabe 2013 und 2014 keine Folge. Das Verwaltungsgericht sprach aus, dass gegen dieses Erkenntnis eine Revision gemäß § 25a VwGG an den Verwaltungsgerichtshof unzulässig sei. Dieses Erkenntnis wurde dem Vertreter des Revisionswerbers am 30. November 2017 zugestellt.
2 Mit am 22. Jänner 2018 zur Post gegebenen Schriftsatz beantragte der Revisionswerber die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionsfrist und erhob gleichzeitig außerordentliche Revision gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts vom 29. November 2017.
3 Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Verwaltungsgericht den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab und sprach aus, dass gegen diesen Beschluss gemäß § 25a VwGG eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof unzulässig sei.
4 Begründend führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, die Revisionsfrist (betreffend das Erkenntnis vom 29. November 2017) habe am 11. Jänner 2018 geendet. Der für die Bearbeitung zuständige Rechtsanwalt habe einen Tag vor Ablauf der Revisionsfrist den Entwurf eines Revisionsschriftsatzes mit E-Mail an den Revisionswerber übermittelt. Er habe darin ausgeführt: "... Die Frist endet morgen. Wir bitten um Freigabe. ...". Am nächsten Tag, somit am letzten Tag der Revisionsfrist, habe der Revisionswerber die Genehmigung zur Einbringung der Revision erteilt. Um 13.55 Uhr habe der für die Bearbeitung zuständige Rechtsanwalt eine E-Mail an das Sekretariat gerichtet: "Bitte dr und vorl für Unterschrift und Versendung heute (FRIST) Danke".
5 Um ca. 15.30 Uhr habe die Sekretärin den Revisionsschriftsatz einschließlich aller Beilagen dem Rechtsanwalt vorgelegt. Der Rechtsanwalt habe die Dokumente auf ihre Vollständigkeit kontrolliert und den Revisionsschriftsatz unterschrieben. Der Rechtsanwalt habe die Sekretärin noch einmal darauf hingewiesen, dass die Dokumente noch am selben Tag zur Post gegeben werden müssten. Die Sekretärin habe daraufhin das Büro des Rechtsanwalts verlassen und den Revisionsschriftsatz einschließlich der Beilagen mitgenommen.
6 Um ca. 16.30 Uhr habe sich der Rechtsanwalt telefonisch nach dem Stand der Einbringung erkundigt und die Sekretärin gebeten, ihm einen Scan des Dokuments zu übermitteln. Die Sekretärin habe den gewünschten Scan der Revision und der Beilagen erstellt und um 17.00 Uhr per E-Mail an den Rechtsanwalt gesendet. Um 17.31 habe der Rechtsanwalt diesen Scan an den Revisionswerber weitergeleitet und ihn auf diese Weise von der mutmaßlich erfolgten Abfertigung der Revision informiert. Diese E-Mail sei auch in Kopie an das Sekretariat ergangen.
7 Die Sekretärin habe den Schriftsatz kuvertiert und in ein Postablagefach gelegt. Sie hätte den Schriftsatz noch am selben Tag aus dem Postablagefach nehmen und zur Poststelle bringen sollen. Ein Mitarbeiter der Poststelle hätte anschließend die gesammelte Post aller Sekretariate zur Post bringen sollen.
8 Um 17.33 Uhr habe die Sekretärin einen Anruf ihres Vaters erhalten, der sie darüber in Kenntnis gesetzt habe, dass sich ihre Großmutter in ein paar Wochen einer Operation unterziehen müsse. Die Sekretärin habe es in weiterer Folge unterlassen, den Revisionsschriftsatz aus dem Postablagefach an die Poststelle zu übergeben.
9 Am nächsten Tag sei bemerkt worden, dass sich das Kuvert mit dem Revisionsschriftsatz noch im Postablagefach befinde und nicht zur Poststelle gebracht worden sei.
10 Die Ausgangspost werde in der Rechtsanwaltskanzlei wie folgt organisiert: Die Sekretariate der verschiedenen Rechtsanwälte sammelten die Ausgangspost in einem Postablagefach. Die dort befindliche Post werde spätestens kurz vor Dienstschluss von den Sekretariatsangestellten an die Poststelle übergeben. Üblicherweise sei das Sekretariat des im vorliegenden Fall zuständigen Rechtsanwaltes von zumindest zwei Personen besetzt, sodass sich die beiden gegenseitig kontrollierten und darauf achteten, dass die Post zur Poststelle gebracht werde und sämtliche Fristen erledigt würden ("Vier-Augen-Prinzip"). Ein Mitarbeiter der Poststelle bringe anschließend die gesammelte Post sämtlicher Sekretariate zur Post.
11 Am 11. Jänner 2018 habe sich die zweite Sekretärin im Prüfungsurlaub befunden. Das Sekretariat sei nur von einer Sekretärin besetzt gewesen. Die anwesende Sekretärin sei seit Oktober 2017 bei der Rechtsanwaltskanzlei als Rechtsanwaltssekretärin im Ausmaß von 23 Wochenstunden beschäftigt. Sie sei zuvor seit dem 1. Oktober 2015 bei einem anderen Rechtsanwalt beschäftigt gewesen.
12 Der Sachverhalt stütze sich auf die Angaben im Wiedereinsetzungsantrag; das Verwaltungsgericht halte diese Angaben für glaubwürdig; diese Angaben seien auch mit mehreren Urkunden untermauert.
13 Der Vertreter des Revisionswerbers habe am 12. Jänner 2018 erfahren, dass der Revisionsschriftsatz nicht am 11. Jänner 2018 zur Post gebracht worden sei. Die Wiedereinsetzung sei am 22. Jänner 2018, somit binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses, beim Verwaltungsgericht beantragt worden.
14 Das Verschulden von Kanzleikräften stelle für den Vertreter dann ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis dar, wenn der Vertreter der ihm zumutbaren und nach der Sachlage gebotenen Überwachungspflicht gegenüber seinen Kanzleikräften nachgekommen sei. Daher sei durch entsprechende Kontrollen dafür vorzusorgen, dass Unzulänglichkeiten durch menschliches Versagen aller Voraussicht nach auszuschließen seien. Der Vertreter verstoße demnach auch dann gegen die ihm obliegende Sorgfaltspflicht, wenn er weder im allgemeinen noch im besonderen (wirksame) Kontrollsysteme vorgesehen habe, die im Fall des Versagens einer Kanzleikraft Fristversäumungen auszuschließen geeignet seien (Hinweis auf VwGH 20.9.2017, Ra 2017/19/0332).
15 Rein technische Vorgänge beim Abfertigen von Schriftstücken könne ein Rechtsanwalt ohne nähere Beaufsichtigung einer ansonsten verlässlichen Kanzleikraft überlassen. Solche Vorgänge seien etwa die Kuvertierung, die Beschriftung eines Kuverts oder die Postaufgabe, also manipulative Tätigkeiten. Eine regelmäßige Kontrolle, ob eine erfahrene und zuverlässige Kanzleikraft rein manipulative Tätigkeiten auch tatsächlich ausführe, sei dem Parteienvertreter nicht zuzumuten, wolle man seine Sorgfaltspflicht nicht überspannen. Wenn allerdings in keiner Weise dargelegt werde, ob jemals eine Kontrolle der manipulativen Vorgänge im Kanzleibetrieb oder der Kanzleiangestellten erfolgt sei bzw. wie das diesbezügliche Kontrollsystem eingerichtet sei, könne von einer Organisation des Kanzleibetriebes, die eine fristgerechte Setzung von Vertretungshandlungen mit größtmöglicher Zuverlässigkeit sicherstelle, und von einer wirksamen Überwachung keine Rede sein. Fehle es an einem diesbezüglichen Vorbringen, liege jedenfalls kein bloß minderer Grad des Versehens vor. Daher seien bereits mangels einer Darlegung eines wirksamen Kontrollsystems die Voraussetzungen für die Bewilligung des Wiedereinsetzungsantrags nicht erfüllt (Hinweis auf VwGH 19.9.2017, Ra 2017/20/0102).
16 In der Rechtsanwaltskanzlei sei ein Kontrollsystem in der Form eingerichtet worden, dass ein Sekretariat üblicherweise von zwei Sekretärinnen besetzt werde, die sich gegenseitig kontrollierten. Im Wiedereinsetzungsantrag werde aber nicht dargelegt, welche Vorkehrungen getroffen worden seien, wenn eine Sekretärin nicht anwesend sei und das "Vier-Augen-Prinzip" aus diesem Grund nicht eingehalten werden könne. Im normalen Bürobetrieb sei es nicht ungewöhnlich, dass ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin krank, im Urlaub oder aus einem anderen Grund abwesend sei. Im vorliegenden Fall sei die zweite Sekretärin im Prüfungsurlaub gewesen.
17 Wenn ein "Vier-Augen-Prinzip" als Kontrollsystem eingerichtet werde, dann müssten im Rahmen eines solchen Systems auch Vorkehrungen für den Fall getroffen werden, dass eine Person ausfalle. So könnte etwa vorgesehen werden, dass eine andere Person gegen Dienstschluss überprüfe, ob das Postablagefach für die Ausgangspost im Sekretariat geleert und die sich darin befindliche Post zur Poststelle gebracht worden sei. Ob und welche derartigen Vorkehrungen getroffen worden seien, sei im Wiedereinsetzungsantrag nicht dargelegt worden. Das Fehlen einer Vertretungsregelung sei im vorliegenden Fall mitursächlich für die unterbliebene Postaufgabe, sei das Versehen doch am nächsten Tag von der zweiten Sekretärin bemerkt worden.
18 Im Wiedereinsetzungsantrag sei nicht dargelegt worden, wie die Kontrolle erfolge, wenn das Sekretariat nur von einer Person besetzt sei. Ein wirksames Kontrollsystem sei damit nicht dargelegt worden, sodass bereits aus diesem Grund die Voraussetzungen für die Bewilligung des Wiedereinsetzungsantrages nicht vorlägen.
19 Die Revision sei unzulässig, da keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen gewesen sei.
20 Gegen diesen Beschluss wendet sich die Revision. 21 Nach Einleitung des Vorverfahrens haben sowohl der Bürgermeister der Stadt Bregenz (belangte Behörde im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht) als auch die Vorarlberger Landesregierung (Partei nach § 21 Abs. 1 Z 3 VwGG) Revisionsbeantwortungen erstattet.
22 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
23 Die Revision ist - wie sie zutreffend aufzeigt - zulässig, weil das Verwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist. Sie ist auch begründet.
24 Gemäß § 46 Abs. 1 VwGG ist einer Partei auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, wenn sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis eine Frist versäumt und dadurch einen Rechtsnachteil erleidet. Dass der Partei ein Verschulden an der Versäumung zur Last liegt, hindert die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht, wenn es sich nur um einen minderen Grad des Versehens handelt.
25 Ein Verschulden des Vertreters einer Partei an der Fristversäumung ist dem Verschulden der Partei selbst gleichzuhalten. Das Versehen einer Kanzleiangestellten eines Rechtsanwalts ist dem Rechtsanwalt (und damit der Partei) dann als Verschulden anzulasten, wenn er die ihm zumutbare und nach der Sachlage gebotene Überwachungspflicht gegenüber der Kanzleiangestellten verletzt hat. Ein berufsmäßiger Parteienvertreter hat die Organisation seines Kanzleibetriebes so einzurichten, dass auch die richtige Vormerkung von Terminen und damit die fristgerechte Setzung von - mit Präklusion sanktionierten - Prozesshandlungen gesichert erscheint. Dabei ist durch entsprechende Kontrollen u.a. dafür vorzusorgen, dass Unzulänglichkeiten durch menschliches Versagen aller Voraussicht nach auszuschließen sind. Das, was der Wiedereinsetzungswerber in Erfüllung seiner nach der Sachlage gebotenen Überwachungspflicht vorgenommen hat, hat er im Wiedereinsetzungsantrag substantiiert zu behaupten. Rein technische Vorgänge beim Abfertigen von Schriftstücken kann ein Rechtsanwalt ohne nähere Beaufsichtigung einer ansonsten verlässlichen Kanzleikraft überlassen. Solche Vorgänge sind etwa die Kuvertierung, die Beschriftung eines Kuverts oder die Postaufgabe, also manipulative Tätigkeiten. Eine regelmäßige Kontrolle, ob eine erfahrene oder zuverlässige Kanzleikraft rein manipulative Tätigkeiten auch tatsächlich ausführt, ist dem Parteienvertreter nicht zuzumuten, will man seine Sorgfaltspflichten nicht überspannen (vgl. z.B. VwGH 23.6.2016, Ra 2016/02/0100, mwN).
26 Wenn allerdings in keiner Weise dargelegt wird, ob jemals eine Kontrolle der manipulativen Vorgänge im Kanzleibetrieb oder der Kanzleiangestellten erfolgte bzw. wie das diesbezügliche Kontrollsystem eingerichtet ist, kann von einer Organisation des Kanzleibetriebes, die eine fristgerechte Setzung von Vertretungshandlungen mit größtmöglicher Zuverlässigkeit sicherstellt, und von einer wirksamen Überwachung keine Rede sein. Fehlt es an einem diesbezüglichen Vorbringen, liegt jedenfalls kein bloß minderer Grad des Versehens vor (vgl. neuerlich VwGH Ra 2016/02/0100, mwN; sowie 14.10.2016, Ra 2016/09/0001; 19.9.2017, Ra 2017/20/0102, mwN).
27 Die Fristversäumung im vorliegenden Fall beruhte - wie auch das Verwaltungsgericht zutreffend annimmt - auf einem Versehen einer Kanzleiangestellten im Rahmen von rein technischen (manipulativen) Vorgängen beim Abfertigen von Schriftstücken. Eine regelmäßige Kontrolle derartiger Vorgänge ist nicht zuzumuten (vgl. VwGH 3.4.2001, 2000/08/0214).
28 Insgesamt sind die unstrittigen Sachverhaltsannahmen des Verwaltungsgerichts dahin zu beurteilen, dass die Fristversäumung auf einem Verschulden beruht, das einen minderen Grad des Versehens nicht überschreitet.
29 Der angefochtene Beschluss erweist sich daher als mit Rechtswidrigkeit des Inhaltes belastet (§ 42 Abs. 2 Z 1 VwGG).
30 Da die Sache entscheidungsreif ist (der Sachverhalt ist unstrittig) und die Entscheidung in der Sache selbst im Interesse der Einfachheit, Zweckmäßigkeit und Kostenersparnis liegt, konnte der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 42 Abs. 4 VwGG in der Sache selbst entscheiden und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionsfrist gemäß § 46 Abs. 1 VwGG bewilligen.
31 Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 29. Mai 2018
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