VwGH Ra 2016/22/0025

VwGHRa 2016/22/002520.7.2016

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, Hofrätin Mag.a Merl sowie die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag.a Lechner, über die Revision der Bundesministerin für Inneres gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Niederösterreich vom 30. Dezember 2015, LVwG-AV-803/001-2014, betreffend Aufenthaltskarte (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Mödling; mitbeteiligte Partei: N M, vertreten durch die Oberhammer Rechtsanwalt GmbH in 1010 Wien, Karlsplatz 3/1), zu Recht erkannt:

Normen

12010E020 AEUV Art20;
12010E021 AEUV Art21;
12010E045 AEUV Art45;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art3;
62009CJ0434 McCarthy VORAB;
EURallg;
MRK Art8;
NAG 2005 §2 Abs1 Z9;
NAG 2005 §47;
NAG 2005 §51;
NAG 2005 §52 Abs1;
NAG 2005 §54 Abs1;
NAG 2005 §54;
NAG 2005 §57;
VwGG §42 Abs2 Z1;
12010E020 AEUV Art20;
12010E021 AEUV Art21;
12010E045 AEUV Art45;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art3;
62009CJ0434 McCarthy VORAB;
EURallg;
MRK Art8;
NAG 2005 §2 Abs1 Z9;
NAG 2005 §47;
NAG 2005 §51;
NAG 2005 §52 Abs1;
NAG 2005 §54 Abs1;
NAG 2005 §54;
NAG 2005 §57;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Mit Antrag vom 2. Jänner 2014 begehrte die Mitbeteiligte, eine Staatsangehörige der Russischen Föderation, die Ausstellung einer Aufenthaltskarte.

2 Dieser Antrag wurde mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Mödling (BH) vom 19. Februar 2014 gemäß § 54 Abs. 1 iVm § 57 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) zurückgewiesen. Begründend führte die BH aus, die Tochter der Mitbeteiligten, von der diese ihr Aufenthaltsrecht ableiten wolle, habe ihr Freizügigkeitsrecht im Sinn der Unionsbürgerrichtlinie nicht ausgeübt. Die Voraussetzungen des § 52 Abs. 1 Z 1 bis 3 NAG seien auch nicht erfüllt, weil der Mitbeteiligten von der Person, von der sie ihr Aufenthaltsrecht ableiten möchte, nämlich ihrer Tochter, tatsächlich kein Unterhalt gewährt werde.

3 Der dagegen erhobenen Beschwerde der Mitbeteiligten vom 7. April 2014 gab das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich (LVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis (vom 30. Dezember 2015) Folge, behob den Bescheid der BH vom 19. Februar 2014 und gab dem Antrag der Mitbeteiligten auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte gemäß § 54 Abs. 1 iVm § 57 NAG für die Dauer von fünf Jahren statt.

4 Begründend führte das LVwG im Wesentlichen aus, die Mitbeteiligte sei seit ihrer Einreise im Jahr 2010 im Besitz eines gültigen Aufenthaltstitels für "Studierende". Seit 2010 führe sie eine Beziehung mit K G, einem österreichischen Staatsbürger, mit dem sie in Lebensgemeinschaft lebe. Aus dieser Beziehung stamme die am 12. Oktober 2010 in Wien geborene Tochter, ebenfalls eine österreichische Staatsbürgerin. K G habe seinen beruflichen Mittelpunkt in den Vereinigten Arabischen Emiraten, wo er den Großteil des Jahres aufhältig sei. Zwischen 60 und 80 Tage pro Jahr verbringe er in Österreich. Beide Elternteile seien für die gemeinsame Tochter obsorgeberechtigt. Diese habe sich nie längere Zeit außerhalb von Österreich aufgehalten und sei nie mehr als drei Monate in einem anderen EWR-Staat aufhältig gewesen. Die Tochter gewähre der Mitbeteiligten keinen Unterhalt. Die Mitbeteiligte finanziere ihren Lebensunterhalt aus Mieteinkünften und der finanziellen Unterstützung ihres Lebensgefährten; eine ortsübliche Unterkunft und ausreichende Sprachkenntnisse seien ebenfalls vorhanden.

5 Würde der Mitbeteiligten keine Aufenthaltskarte ausgestellt, wäre nicht nur sie, sondern auch die minderjährige Tochter, die Unionsbürgerin sei, gezwungen, Österreich und überhaupt die Europäische Union zu verlassen, zumal im Verfahren keine Hinweise hervorgekommen seien, dass die Mitbeteiligte in einem anderen Mitgliedstaat zum Aufenthalt berechtigt wäre. Unter Hinweis auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 8. März 2011, Rs C-34/09 , Zambrano, führte das LVwG aus, es verkenne nicht, dass dieser Entscheidung eine leicht divergierende Familiensituation zugrunde liege, zumal dort beide Elternteile Drittstaatsangehörige und deren Kinder Unionsbürger gewesen seien. "Die dazu angestellten Erwägungen des EuGH - im Fall der Versagung der Ausstellung einer Aufenthaltskarte - sind aber ohne Bedenken auf den vorliegenden Sachverhalt übertragbar." Die Mitbeteiligte beabsichtige, das Aufenthaltsrecht von ihrer Tochter abzuleiten. Die Tochter sei österreichische Staatsbürgerin, ebenso der Lebensgefährte der Mitbeteiligten. Nach den hier maßgeblichen Bestimmungen des NAG sei es erforderlich, dass jene Person, von der das Aufenthaltsrecht abgeleitet werde, das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht für die Dauer von mindestens drei Monaten in Anspruch genommen habe und dass den Verwandten (gemäß § 52 Abs. 1 Z 3 NAG) in aufsteigender Linie tatsächlich Unterhalt gewährt werde. Dies sei im vorliegenden Fall klarerweise nicht möglich, weil die Angehörige, die fünfjährige Tochter der Mitbeteiligten, Österreich nicht für die Dauer von drei Monaten zur Inanspruchnahme des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechtes verlassen habe und ihrer Mutter keinen Unterhalt gewähre. "Es geht auch nicht an, dass in diesem konkreten Einzelfall Derartiges Voraussetzung für die Ableitung des Aufenthaltsrechtes sein muss, ebenso nicht die weitere Voraussetzung, dass die minderjährige Tochter ihr unionsrechtliches Aufenthaltsrecht von mehr als drei Monaten in einem anderen Mitgliedsstaat in Anspruch nehmen hätte müssen". Es seien zwar beide Elternteile obsorgeberechtigt, der Kindesvater sei jedoch die meiste Zeit aus beruflichen Gründen außerhalb von Österreich aufhältig. Würde man das Aufenthaltsrecht der Mitbeteiligten verneinen und in weiterer Folge die Aufenthaltskarte nicht ausstellen, wäre es unter den gegebenen Umständen erforderlich, dass auch das minderjährige Kind Österreich und überhaupt die Europäische Union verlassen müsse, zumal sich ansonsten kein Elternteil dauernd in Österreich aufhalte. Dieses Ergebnis liefe der Rechtsansicht des EuGH zuwider, zumal es dem minderjährigen Kind somit unmöglich wäre, den Kernbestand der Rechte, die ihm der Unionsbürgerstatus verleihe, in Anspruch nehmen zu können. De facto müsste eine österreichische Staatsbürgerin Österreich und die Europäische Union verlassen. Hielte man sohin an der "Angehörigeneigenschaft" des § 52 Abs. 1 Z 3 NAG fest, führte dies zum Ergebnis, dass die Tochter der Mitbeteiligten als Unionsbürgerin Österreich und auch die Europäische Union verlassen müsste und ihr folglich der tatsächliche Genuss des Kernbestandes der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleihe, verwehrt würde (Hinweis auf die hg. Erkenntnisse 2011/22/0309 und 2009/22/0054). In diesem konkreten Einzelfall und dieser besonderen Sachverhaltskonstellation - insbesondere auf Grund des Umstandes, dass der Lebensgefährte der Mitbeteiligten und Kindesvater dauernd aus beruflichen Gründen in den Emiraten aufhältig und die minderjährige Tochter österreichische Staatsbürgerin sei, des Weiteren die Mitbeteiligte selbsterhaltungsfähig sei und ihrer minderjährigen Tochter Unterhalt gewähre - sei in Ansehung der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes und des EuGH der Beschwerde und dem Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte gemäß § 54 iVm § 57 NAG für die Dauer von fünf Jahren stattzugeben gewesen.

6 Schließlich wurde eine ordentliche Revision als unzulässig erklärt.

7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision der Bundesministerin für Inneres; die Mitbeteiligte beantragte die Zurückweisung, in eventu die Abweisung der Revision.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

8 Die Revision bringt in ihrer Zulässigkeitsbegründung zusammengefasst vor, bei Fehlen eines Freizügigkeitssachverhaltes sei keine Aufenthaltskarte gemäß § 54 Abs. 1 iVm § 57 NAG auszustellen, sondern die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß den nationalen Bestimmungen des § 47 leg. cit. zu prüfen (Hinweis auf die hg. Erkenntnisse vom 29. Jänner 2008, 2007/18/0400, und vom 30. Jänner 2007, 2006/18/0414).

9 Die Revisionswerberin führt aus, nach der Judikatur des EuGH fielen Unionsbürger, die noch nie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hätten, nicht unter den Begriff "Berechtigter" im Sinn von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG (Freizügigkeitsrichtlinie), sodass die Richtlinie auf den betreffenden Unionsbürger nicht anwendbar sei und in diesem Sinn auch deren Familienangehörige kein Aufenthaltsrecht nach der Freizügigkeitsrichtlinie ableiten könnten (Hinweis auf das Urteil des EuGH vom 5. Mai 2011, Rs C- 434/09 , McCarthy, Rn. 39 ff). Auch in dem vom LVwG zitierten EuGH-Urteil in der Rechtssache Zambrano kämen gerade nicht die Bestimmungen der Freizügigkeitsrichtlinie zur Anwendung (siehe dort Rn. 39); in dem Urteil des EuGH vom 15. November 2011, Rs C- 256/11 , Dereci, habe der EuGH ebenfalls ausgeführt, dass ein Unionsbürger, der nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht habe, nicht unter den Begriff "Berechtigter" im Sinn des Art. 3 Abs. 1 der Freizügigkeitsrichtlinie falle, sodass diese auf ihn nicht anwendbar sei.

10 Dennoch könne sich laut Judikatur des EuGH unter Umständen unmittelbar aus Art. 20 AEUV ein Aufenthaltsrecht für drittstaatszugehörige Angehörige von Unionsbürgern ergeben, sofern der zusammenführende Unionsbürger bei Verweigerung eines Aufenthaltsrechts an seinen drittstaatszugehörigen Angehörigen de facto gezwungen wäre, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen. Daraus ergebe sich jedoch nicht die Verpflichtung bzw. Ermächtigung zur Ausstellung einer Dokumentation nach der Freizügigkeitsrichtlinie; dies sei mangels Anwendbarkeit der Freizügigkeitsrichtlinie vielmehr unionsrechtswidrig. Art. 20 AEUV stehe vielmehr nationalen Maßnahmen entgegen, die bewirkten, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestandes der Rechte, die ihnen dieser Status verleihe, verwehrt werde. Der EuGH überlasse es dem nationalen Recht der Mitgliedsstaaten, den drittstaatszugehörigen Angehörigen von Unionsbürgern in diesen besonderen Fallkonstellationen ein Aufenthaltsrecht einzuräumen, zumal die Regelung der Familienzusammenführung mit eigenen Staatsangehörigen ohne grenzüberschreitenden Sachverhalt grundsätzlich in die nationale Kompetenz der Mitgliedstaaten falle. Daher sei im Rahmen der Familienzusammenführung mit einem österreichischen Staatsbürger gemäß den nationalen Bestimmungen des § 47 NAG zu prüfen, ob eine Verweigerung des Aufenthaltsrechts an den Familienangehörigen dazu führen würde, dass der die Unionsbürgerschaft besitzende Zusammenführende de facto gezwungen wäre, Österreich und das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen (Hinweis auf die hg. Erkenntnisse vom 19. September 2012 (richtig: 20. August 2013), 2012/22/0123, vom 26. Juni 2012, 2012/22/0081, vom 10. Dezember 2013, 2011/22/0117, vom 28. März 2012, 2009/22/0211, sowie das vom LVwG zitierte Erkenntnis vom 19. Jänner 2012, 2011/22/0309).

11 Im gegenständlichen Verfahren sei das Vorliegen eines Freizügigkeitssachverhaltes durch die Mitbeteiligte nie behauptet und vom LVwG auch nicht angenommen worden. Unbeschadet dessen, dass gegenständlich vom Vorliegen besonderer Umstände auszugehen sei, die bei der Verweigerung eines Aufenthaltsrechts an die Mitbeteiligte dazu führen könnten, dass ihr minderjähriges, die österreichische Staatsbürgerschaft besitzendes Kind mangels entsprechender Versorgung in Österreich durch eine weitere obsorgeberechtigte Person de facto gezwungen wäre, Österreich und das Gebiet der Europäischen Union zu verlassen, erweise sich die Ausstellung einer Aufenthaltskarte gemäß § 54 iVm § 57 NAG ohne Vorliegen eines Freizügigkeitssachverhaltes sowohl vor dem Hintergrund der gesetzlichen Bestimmungen als auch der ständigen Rechtsprechung des EuGH und des Verwaltungsgerichtshofes als grob rechtswidrig.

12 Die Revision ist zulässig und aus folgenden Gründen auch berechtigt:

13 §§ 2, 47, 52 Abs. 1 und 54 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG, BGBl. I Nr. 100/2005, in der Fassung BGBl. Nr. 122/2015, lauten auszugsweise:

"Begriffsbestimmungen

§ 2. (1) Im Sinne dieses Bundesgesetzes ist

...

9. Familienangehöriger: wer Ehegatte oder minderjähriges lediges Kind, einschließlich Adoptiv- oder Stiefkind, ist (Kernfamilie); dies gilt weiters auch für eingetragene Partner; Ehegatten und eingetragene Partner müssen das 21. Lebensjahr zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits vollendet haben; lebt im Fall einer Mehrfachehe bereits ein Ehegatte gemeinsam mit dem Zusammenführenden im Bundesgebiet, so sind die weiteren Ehegatten keine anspruchsberechtigten Familienangehörigen zur Erlangung eines Aufenthaltstitels;

...

Aufenthaltstitel ‚Familienangehöriger' und

‚Niederlassungsbewilligung - Angehöriger'

§ 47. (1) Zusammenführende im Sinne der Abs. 2 bis 4 sind Österreicher oder EWR-Bürger oder Schweizer Bürger, die in Österreich dauernd wohnhaft sind und nicht ihr unionsrechtliches oder das ihnen auf Grund des Freizügigkeitsabkommens EG-Schweiz zukommende Aufenthaltsrecht von mehr als drei Monaten in Anspruch genommen haben.

(2) Drittstaatsangehörigen, die Familienangehörige von Zusammenführenden sind, ist ein Aufenthaltstitel ‚Familienangehöriger' zu erteilen, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen.

(3) Angehörigen von Zusammenführenden kann auf Antrag eine "Niederlassungsbewilligung - Angehöriger" erteilt werden, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen und

1. Verwandte des Zusammenführenden, seines Ehegatten oder eingetragenen Partners in gerader aufsteigender Linie sind, sofern ihnen von diesen tatsächlich Unterhalt geleistet wird,

2. Lebenspartner sind, die das Bestehen einer dauerhaften Beziehung im Herkunftsstaat nachweisen und ihnen tatsächlich Unterhalt geleistet wird oder

3. sonstige Angehörige des Zusammenführenden sind,

a) die vom Zusammenführenden bereits im Herkunftsstaat Unterhalt bezogen haben,

b) die mit dem Zusammenführenden bereits im Herkunftsstaat in häuslicher Gemeinschaft gelebt haben oder

c) bei denen schwerwiegende gesundheitliche Gründe die persönliche Pflege durch den Zusammenführenden zwingend erforderlich machen.

Unbeschadet eigener Unterhaltsmittel hat der Zusammenführende jedenfalls auch eine Haftungserklärung abzugeben.

(4) ...

Aufenthaltsrecht für Angehörige von EWR-Bürgern

§ 52. (1) Auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie sind EWR-Bürger, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgern (§§ 51 und 53a) sind, zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie

  1. 1. Ehegatte oder eingetragener Partner sind;
  2. 2. Verwandter des EWR-Bürgers, seines Ehegatten oder eingetragenen Partners in gerader absteigender Linie bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres und darüber hinaus sind, sofern ihnen von diesen Unterhalt tatsächlich gewährt wird;

    3. Verwandter des EWR-Bürgers, seines Ehegatten oder eingetragenen Partners in gerader aufsteigender Linie sind, sofern ihnen von diesen Unterhalt tatsächlich gewährt wird;

    4. Lebenspartner sind, der das Bestehen einer dauerhaften Beziehung nachweist, oder

    5. sonstige Angehörige des EWR-Bürgers sind,

    a) die vom EWR-Bürger bereits im Herkunftsstaat Unterhalt tatsächlich bezogen haben,

    b) die mit dem EWR-Bürger bereits im Herkunftsstaat in häuslicher Gemeinschaft gelebt haben, oder

    c) bei denen schwerwiegende gesundheitliche Gründe die persönliche Pflege zwingend erforderlich machen.

(2) ...

Aufenthaltskarten für Angehörige eines EWR-Bürgers

§ 54. (1) Drittstaatsangehörige, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgern (§ 51) sind und die in § 52 Abs. 1 Z 1 bis 3 genannten Voraussetzungen erfüllen, sind zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt. Ihnen ist auf Antrag eine Aufenthaltskarte für die Dauer von fünf Jahren oder für die geplante kürzere Aufenthaltsdauer auszustellen. Dieser Antrag ist innerhalb von vier Monaten ab Einreise zu stellen. § 1 Abs. 2 Z 1 gilt nicht.

(2) ..."

14 Art. 3 der Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (ABl. L 158 vom 30.4.2004, S 77), lautet auszugsweise:

"Artikel 3

Berechtigte

(1) Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.

(2) Unbeschadet eines etwaigen persönlichen Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt der Betroffenen erleichtert der Aufnahmemitgliedstaat nach Maßgabe seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften die Einreise und den Aufenthalt der folgenden Personen:

a) jedes nicht unter die Definition in Artikel 2 Nummer 2 fallenden Familienangehörigen ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit, dem der primär aufenthaltsberechtigte Unionsbürger im Herkunftsland Unterhalt gewährt oder der mit ihm im Herkunftsland in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat, oder wenn schwerwiegende gesundheitliche Gründe die persönliche Pflege des Familienangehörigen durch den Unionsbürger zwingend erforderlich machen;

b) des Lebenspartners, mit dem der Unionsbürger eine ordnungsgemäß bescheinigte dauerhafte Beziehung eingegangen ist.

Der Aufnahmemitgliedstaat führt eine eingehende Untersuchung der persönlichen Umstände durch und begründet eine etwaige Verweigerung der Einreise oder des Aufenthalts dieser Personen.

..."

15 Gemäß Art. 20 Abs. 1 AEUV wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht. Mit der Unionsbürgerschaft sind in Abs. 2 näher umschriebene Rechte und Pflichten verbunden.

16 Die Mitbeteiligte ist unbestritten weder Ehefrau noch eingetragene Partnerin im Sinn des § 52 Abs. 1 Z 1 NAG eines österreichischen Staatsbürgers. Sie ist auch keine Verwandte in absteigender Linie eines EWR-Bürgers, weshalb der Tatbestand des § 52 Abs. 1 Z 2 NAG fallbezogen von vornherein nicht in Betracht kommt. Nach Aussagen der Mitbeteiligten wird ihr, als Verwandte einer EWR-Bürgerin in gerader aufsteigender Linie im Sinn des § 52 Abs. 1 Z 3 NAG, von ihrer Tochter tatsächlich auch kein Unterhalt gewährt. Daher ist die Mitbeteiligte keine Familienangehörige im Sinn des § 52 Abs. 1 Z 1 bis 3 NAG (vgl. das hg. Erkenntnis vom 7. Juni 2016, Ra 2015/22/0161).

17 Die Revision führt auch zutreffend aus, dass ohne Vorliegen eines Freizügigkeitssachverhaltes im Sinn des Art. 3 der Freizügigkeitsrichtlinie diese nicht anzuwenden ist (vgl. das Urteil des EuGH vom 5. Mai 2011, C-434/09 , Rs McCarthy, Rn. 39 bis 43).

18 Strittig ist fallbezogen, ob bei Vorliegen besonderer Umstände im Sinn des Urteils des EuGH in der Rechtssache Zambrano, nämlich wenn eine Verweigerung des Aufenthaltsrechts an die Mitbeteiligte dazu führen könnte, dass ihre die Unionsbürgerschaft besitzende Tochter als Zusammenführende de facto gezwungen wäre, Österreich und das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, der Mitbeteiligten gestützt auf Art. 20 AEUV ein Aufenthaltstitel gemäß § 47 NAG zu erteilen oder, auch ohne dass ein Freizügigkeitssachverhalt vorliegt, eine Aufenthaltskarte gemäß § 54 leg. cit. auszustellen ist.

19 Selbst bei Vorliegen einer mit dem Fall Zambrano vergleichbaren Konstellation ist der Mitbeteiligten aus folgenden Gründen dennoch keine Aufenthaltskarte gemäß § 54 NAG auszustellen:

20 Nach ständiger hg. Rechtsprechung kommt einem drittstaatszugehörigen Fremden, der kein Angehöriger eines österreichischen Staatsbürgers ist, der einen grenzüberschreitenden Freizügigkeitssachverhalt verwirklichte, ein (gemeinschaftsrechtliches, ex lege wirksames) Aufenthalts- und Niederlassungsrecht (§ 57 iVm § 54 Abs. 1 und § 52 Z 1 NAG) nicht zu. Daher kommen in einem solchen Fall (in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise) § 47 NAG und nicht die Bestimmungen über das gemeinschaftsrechtliche Niederlassungsrecht nach dem 4. Hauptstück (§§ 51 ff NAG) zur Anwendung (vgl. das hg. Erkenntnis vom 28. April 2008, 2006/18/0490, mwN).

21 Wie die Revision zutreffend ausführt, ändert daran auch das Urteil des EuGH, Rs C-34/09 , Zambrano, nichts, stellte der EuGH doch in dessen Rn. 39 ausdrücklich fest, dass die Freizügigkeitsrichtlinie nicht in einem Fall gilt, in dem die minderjährigen Kinder, die Unionsbürger sind, nicht von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hatten. In Rn. 42 betonte der EuGH, dass unter den besonderen Umständen jenes Ausgangsverfahrens Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen entgegen stehe, die bewirkten, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleihe, verwehrt werde. Entgegen der Ansicht des LVwG lässt sich aus dem zitierten Urteil des EuGH somit nicht ableiten, dass in einer Fallkonstellation wie der vorliegenden eine Aufenthaltskarte gemäß § 54 NAG auszustellen sei.

22 Da das LVwG dies verkannte, war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

23 Falls die Mitbeteiligte einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 47 NAG stellt, die Anforderungen nach dessen Wortlaut jedoch nicht erfüllt, wäre für den Fall, dass eine Verweigerung eines Aufenthaltstitels für die Mitbeteiligte dazu führen könnte, dass ihre die Unionsbürgerschaft besitzende Tochter als Zusammenführende de facto gezwungen wäre, Österreich und das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, § 47 NAG im Sinn der Judikatur des EuGH zu Art. 20 AEUV unionsrechtskonform dahin gehend auszulegen, dass der Mitbeteiligten fallbezogen ein Aufenthaltstitel zuerkannt wird (vgl. zu einer verfassungskonform gebotenen Auslegung das hg. Erkenntnis vom 17. November 2011, 2010/21/0494, wonach der Begriff "Familienangehöriger" von der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG abzukoppeln und zu erweitern ist, wenn dies dort aus verfassungsrechtlichen Gründen zur Erzielung eines Art. 8 EMRK entsprechenden Ergebnisses erforderlich ist).

24 Kosten waren nicht zuzusprechen, weil die Mitbeteiligte gemäß § 47 Abs. 3 VwGG nur im Fall der Abweisung der Revision Anspruch auf Aufwandersatz hätte.

Wien, am 20. Juli 2016

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte