VwGH 2011/23/0057

VwGH2011/23/005727.4.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Händschke sowie die Hofräte Dr. Hofbauer und Dr. Fasching, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Mag. Feiel als Richter, im Beisein des Schriftführers MMag. Stelzl, über die Beschwerde des B S, geboren 1970, vertreten durch Mag. Dr. Martin Enthofer, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Promenade 16/II, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 17. Jänner 2007, Zl. 217.425/20-IV/44/06, betreffend § 5 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

32003R0343 Dublin-II Art3 Abs2;
AsylG 1997 §5;
EMRK Art8;
32003R0343 Dublin-II Art3 Abs2;
AsylG 1997 §5;
EMRK Art8;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein indischer Staatsangehöriger, gelangte am 20. Juni 1999 mit dem Flugzeug von Indien nach Wien-Schwechat und reiste auf Grund eines von der griechischen Botschaft in New Delhi am 21. Mai 1999 ausgestellten "Schengen Visums C" in das Bundesgebiet ein, wo er am 25. Juni 1999 einen Asylantrag stellte.

Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom 19. Februar 2001 wies die belangte Behörde diesen Antrag gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 1997 (AsylG) ohne in die Sache einzutreten als unzulässig zurück, erklärte für dessen Prüfung gemäß Art. 5 Abs. 4 und Art. 11 Abs. 4 Dubliner Übereinkommen Griechenland für zuständig und wies den Beschwerdeführer aus dem Bundesgebiet nach Griechenland aus. Dieser Bescheid wurde mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 24. Juni 2004, Zl. 2001/20/0472, gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben. Für dessen Begründung wird auf dieses Erkenntnis verwiesen.

Nach Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung am 14. Juni 2006 wies die belangte Behörde mit dem angefochtenen Bescheid die Berufung des Beschwerdeführers (abermals) gemäß § 5 AsylG ab. Dies begründete sie auf das Wesentlichste zusammengefasst damit, dass dem Beschwerdeführer der Zugang zu einem Asylverfahren in Griechenland offen stehe, das im Hinblick auf das von diesem Staat ausgestellte Schengen-Visum dafür auch zuständig sei. Für Österreich bestehe weder im Hinblick auf Art. 3 oder Art. 8 EMRK die Verpflichtung, von seinem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 4 Dubliner Übereinkommen Gebrauch zu machen. Der Beschwerdeführer habe aber auch in Indien keine asylrelevante Verfolgung zu befürchten.

Im Zusammenhang mit der Prüfung der allfälligen Notwendigkeit zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts im Hinblick auf Art. 8 EMRK führte die belangte Behörde aus, dass der Beschwerdeführer mit einer österreichischen Staatsbürgerin - wie von ihm selbst eingeräumt - bloß eine Scheinehe geschlossen habe. Eine solche sei kein durch Art. 8 EMRK geschütztes Familienleben. Ein besonderes Naheverhältnis zu seinen in Österreich lebenden Verwandten bestehe ebenfalls nicht. Die Aufenthaltsverfestigung des Beschwerdeführers durch seinen etwa sieben Jahre dauernden Aufenthalt in Österreich, während dessen er seinen Lebensunterhalt immer selbst verdient habe, sei zu einem Zeitpunkt eingetreten, als er sich - nach Ablauf der sich aus dem Visum ergebenden Aufenthaltsberechtigung - auf Grund des von ihm gestellten Asylantrags als Asylwerber im Bundesgebiet aufgehalten habe. Das vorliegende Verfahren habe ergeben, dass der Beschwerdeführer keinen Anspruch auf die Gewährung von Asyl oder Refoulementschutz habe und für die Prüfung seines Asylantrags Griechenland zuständig sei. Der Beschwerdeführer habe daher im Ergebnis ohne Vorliegen der Voraussetzungen für eine günstige Erledigung unter Missachtung der für die Einreise und den Aufenthalt von Fremden geltenden Vorschriften versucht, sich durch den Verbleib im Bundesgebiet nach Ablauf der Gültigkeitsdauer des ihm erteilten Visums und das Stellen eines Asylantrags, ein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet zu verschaffen. Durch den Aufenthalt auf einer solchen Grundlage sei für den Beschwerdeführer kein durch Art. 8 EMRK geschütztes Privatleben entstanden.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde, die eine Gegenschrift erstattete und die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragte, erwogen hat:

Soweit die Beschwerde unterlassene Erhebungen und eine fehlende Interessenabwägung gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK zu dem durch eine Ausweisung verursachten Eingriff in das Privatleben des Beschwerdeführers rügt, zeigt sie im Ergebnis einen relevanten Verfahrensmangel auf.

Wie die belangte Behörde zutreffend erkannte, ist eine strikte, zu einer Grundrechtswidrigkeit führende Auslegung und somit Handhabung des § 5 AsylG durch die Heranziehung des in Art. 3 Abs. 4 Dubliner-Übereinkommen (nun Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung) normierten Selbsteintrittsrechts von der Asylbehörde zu vermeiden. Ausgangspunkt für die Überlegung, ob die Asylbehörde eine Zurückweisung nach § 5 AsylG vornehmen darf oder eine Entscheidung in der Sache vorzunehmen hat, ist demnach - fallbezogen - unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK zunächst die Frage, ob mit einer Zurückweisung nach § 5 AsylG ein Eingriff in das Privat- und Familienleben des Asylwerbers verbunden wäre. Gegebenenfalls wäre nach Art. 8 Abs. 2 EMRK durch eine Interessenabwägung die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs zu prüfen (vgl. dazu das noch zum AsylG idF vor der AsylG-Novelle 2003 und zum Dubliner Übereinkommen ergangene hg. Erkenntnis vom 26. Jänner 2006, Zl. 2002/20/0235, unter Verweis auf das Erkenntnis eines verstärkten Senats vom 23. Jänner 2003, Zl. 2000/01/0498; sowie bereits zur Rechtslage nach der AsylG-Novelle 2003 und das Selbsteintrittsrecht nach der Dublin-Verordnung das hg. Erkenntnis vom 31. Mai 2005, Zl. 2005/20/0095, mwN).

In dem - zu einer Ausweisung nach dem Asylgesetz 2005 ergangenen - Erkenntnis vom 29. September 2007, B 1150/07 = VfSlg. 18.224, führte der Verfassungsgerichtshof aus, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) habe fallbezogen unterschiedliche Kriterien herausgearbeitet, die bei einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art. 8 EMRK einer Ausweisung entgegensteht. Hiebei nennt der Verfassungsgerichtshof - jeweils mit Hinweisen auf Rechtsprechung des EGMR - die Aufenthaltsdauer, die vom EGMR an keine fixen zeitlichen Vorgaben geknüpft werde, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, den Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden und der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert, die Bindung zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung. Letztlich hebt der Verfassungsgerichtshof hervor, dass auch die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, bei der Abwägung in Betracht zu ziehen sei.

Der Verwaltungsgerichtshof hat sich dieser Rechtsprechung angeschlossen (vgl. unter vielen die hg. Erkenntnisse vom 9. September 2010, Zl. 2006/20/0176, vom 21. Juni 2010, Zl. 2006/19/0451, sowie vom 21. Jänner 2010, Zl. 2008/01/0637, mit Hinweisen auf die Vorjudikatur).

Im vorliegenden Fall hat die belangte Behörde zu den für die Frage der Ausweisung des Beschwerdeführers in Betracht kommenden Kriterien keine ausreichenden Feststellungen zu seinem Privatleben getroffen und die erforderliche Interessenabwägung nicht vorgenommen, was aber schon angesichts des im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheids mehr als sechseinhalbjährigen Aufenthalts des Beschwerdeführers in Österreich erforderlich gewesen wäre. Fallbezogen wären insbesondere Feststellungen zur Erwerbstätigkeit des Beschwerdeführers und seiner Integration in Österreich erforderlich gewesen, stellt doch der Umstand des Entstehens von Privat- und/oder Familienleben zu einem Zeitpunkt, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, nur eines von mehreren bei der Interessenabwägung zu beachtenden Kriterien dar (ebenso das hg. Erkenntnis vom 23. Februar 2011, 2011/23/0074, sowie das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 1. Juli 2009, U 1104/08, VfSlg. 18.832).

Es lässt sich somit noch nicht abschließend beurteilen, ob die Asylbehörden unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK im gegenständlichen Fall von einer Ausweisung Abstand nehmen und dem zufolge von ihrem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung Gebrauch hätten machen müssen.

Der Vollständigkeit halber ist festzuhalten, dass die Beschwerde in der Beurteilung der Ehe des Beschwerdeführers mit einer österreichischen Staatsbürgerin als Scheinehe einen Mangel des angefochtenen Bescheids nicht aufzuzeigen vermochte. So gestand der Beschwerdeführer diesen Umstand in seiner Berufung gegen den Bescheid der Bundespolizeidirektion Steyr vom 31. Mai 2006 selbst zu. Entgegen der in der Beschwerde dazu vertretenen Ansicht ist es auch unerheblich, dass keine Nichtigerklärung der Ehe gemäß § 23 Abs. 1 EheG erfolgte (vgl. das hg. Erkenntnis vom 11. Dezember 2007, Zl. 2007/18/0561).

Der angefochtene Bescheid war daher schon aus dem aufgezeigten Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 27. April 2011

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